Dukas, Chronographia – Byzantiner und Osmanen im Kampf um die Macht und das Überleben (1341–1462), Griechisch – deutsch.
Eingeleitet, neu ediert, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Diether Roderich Reinsch unter Mitarbeit: von Ljuba H. Reinsch-Werner, 800 Seiten, De Gruyter Berlin / Boston, 2020, ISBN 978-3-11-069764-3, 79,95 €
Cover Dukas Chronographia

Auf der Suche nach dem griechisch schreibendem Autor Dukas bin ich einige Zeit unterwegs: In der Liste der antiken griechischen Schriftsteller findet er sich bei Wikipedia nicht, das ist verständlich. Viele aus Schule und Studium bekannte und unbekannte Namen sind aufgelistet, die meisten gehören den Jahrhunderten vor Christi Geburt an. Die Frage liegt nahe: Wie lange eigentlich war das Altgriechische in Funktion? Die obige Liste geht weiter unter der Überschrift Byzantinische Schriftsteller und Geschichtsschreiber. Dort lese ich, dass die betreffenden Geschichtsschreiber sich selbst allerdings nie als „Byzantiner“ bezeichnet hätten – dies sei ein Konstrukt der modernen Forschung –, sondern stets als „Römer“. Ihre Wurzeln habe die byzantinische Geschichtsschreibung in der Spätantike, sie ende mit dem Fall Konstantinopels 1453. Dieses Datum gilt dann auch als eine von mehreren möglichen Zäsuren in der Forschung für den Beginn der neugriechischen Epoche. Dukas schrieb sein Geschichtswerk in Altgriechisch.

Der Übersetzer und Herausgeber der Chronographia des Dukas, Diether Roderich Reinsch, der nach dem Staatsexamen in Klassischer Philologie 1967 bis 1974 Byzantinistik an der Freien Universität Berlin studierte und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Aristoteles-Archiv tätig war, erhielt 1986 eine Professur für Neugriechische und Byzantinische Philologie an der Ruhr-Universität Bochum. Von 1993 bis zu seiner Emeritierung 2005 war er Professor für Byzantinistik an der Freien Universität Berlin. Zwölf Jahre war Reinsch Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft deutscher Byzantinisten bzw. Stellvertretender Vorsitzender. Aufgrund seiner Verdienste um die Byzantinistik erhielt er eine Reihe von akademischen  Ehrungen.

Ein Opus Magnum ist die Herausgabe dieses 800-Seiten-Werkes in der Reihe Tusculum fraglos. Der Historiker Dukas berichtet in der Schlussphase des Reichs im 15. Jahrhundert (als einer von vier namhaften Historikern jener Zeit) nach einem kurzen Abriss der Weltgeschichte (von Adam bis in die byzantinische Ära, 58ff.) ausführlich über die Zeit von 1341 bis 1462, wobei er auf gute Quellen zurückgreifen konnte. Beim Geschichtswerk des Dukas handelt es sich um eine etwa in der Mitte des 15. Jahrhunderts entstandene etwa ab dem Jahr 1402 ausführlich werdende Darstellung der historischen Ereignisse, die zum Aufstieg der Osmanen und zum Untergang des Byzantinischen Reiches geführt haben. Der Autor Dukas entstammt dem zweisprachig geprägten genuesischen Herrschaftsbereich an der Westküste Kleinasiens und war u. a. diplomatisch für genuesische Herrscher tätig. Sein Geschichtswerk ist eine der wichtigsten Quellen für diese frühosmanische und spätbyzantinische Zeit und der Autor gleichzeitig ein interessanter Erzähler. Bislang gab es keine Gesamtübersetzung ins Deutsche. Sie stützt sich auf den auf dem codex unicus beruhenden griechischen Text, der von Sophia Kotzabassi (Thessaloniki) für die Reihe Corpus Fontium Historiae Byzantinae – Series Berolinensis, vorbereitet wird. Die Übersetzung von Diether R. Reinsch und Ljuba H. Reinsch-Werner erschließt den Text zusätzlich mit über 1000 ausführlichen Anmerkungen sowie mit einem sehr  detaillierten Namens- und Ortsregister. Damit ist ein wesentlich erleichterter Zugang zu den historisch relevanten und literarisch interessanten Ausführungen des Autors gegeben.

Zwei zentrale Kapitel der Einleitung behandeln die Weltanschauung und die Geschichtstheologie, die voll in der Tradition der byzantinischen Chroniken steht. Für Dukas ist allein Gott die treibende Kraft, sowohl für den Ablauf der Geschichte im Großen wie im Kleinen, da Gott auch für die einzelnen Ereignisse die direkte Ursache ist: „die Menge der Sünden" der Byzantiner veranlassen Gott, ihren Untergang herbeizuführen. Sehr informativ ist auch der Abschnitt über Stil, Sprache und Leserschaft. Die Anschaulichkeit des Textes gewinnt durch wörtliche Äußerungen der handelnden Personen, lebhafte Dialoge und Wechselreden begegnen an vielen Stellen. Dukas beherrscht die traditionellen Stilmittel der antiken und byzantinischen Historiographie. Er verwendet oft Interjektionen und kurze rhetorische Übergangsfragen, die dem Ganzen ein mündliches Kolorit und Lebendigkeit verleihen, vor allem aber sind es Metaphern und Vergleiche, die seinen Stil lebendig machen.

Bei Dukas finden sich hochsprachliche und volkssprachliche Elemente nebeneinander. Die Herausgeber listen zu den Themen Morphologie, Syntax und Lexik eine Fülle von spezifischen Phänomenen auf, etwa Lehn- und Fremdwörter aus dem Italienischen, Türkischen und Slawischen. Sprache und Stil des Dukas deuten auf ein levantinisches griechischsprachiges Zielpublikum mittleren Bildungsstandes. Mit seiner intendierten Leserschaft kommuniziert Dukas oft und lebhaft. So ist es ihm gelungen, eine lebendige Erzählung zu schaffen, die von modernen Lesern auch positiv gewürdigt worden ist: Herbert Hunger lobt seine fesselnde und abwechslungsreiche Art zu
schreiben, der Byzantinist Karl Krumbacher urteilte: „Die Frische der Erzählung wird durch die häufige Einflechtung eigener Erlebnisse und persönlicher Züge erhöht ... In solchen Werken liegen die Keime einer lebensfähigen neugriechischen Schriftsprache” (Einleitung, 40).

Das Buch erzählt sehr detailliert von konfliktreichen Zeiten und kriegerischen Auseinandersetzungen und Gewaltsamkeiten (...im Kampf um die Macht und das Überleben), freilich findet man auch interessante Beobachtungen und Notizen am Rande (aus dem Blick eines Lehrers, der nach interessanten Texten für Klausuraufgaben sucht!), etwa über den Bau einer hölzernen Brücke von der Galata-Seite hinüber zum Kynegos: „Die Konstruktion war folgende: Er befahl, über 1000 Weinfässer zu sammeln, und ließ sie mit Stricken zusammenbinden, in der Breite, wie sie die beiden längs nebeneinanderliegenden Fässer ergaben, erst einen Verbund und dann einen zweiten genau wie den ersten, und dann vereinigte er die beiden Verbünde und band sie zusammen und ließ dann an den beiden Seiten Balken darauf nageln und legte sie mit Brettern aus. Die Brücke war so breit gebaut, dass ohne Schwierigkeiten fünf Fußsoldaten nebeneinander hinübergehen konnten.” (XXXVIII 21 /S. 489).

In Konstantinopel gab es einen spektakulären Schutzmechanismus: „Alsdann wurden auch zur See seine Schiffe zusammengezoge, mit Dreiruderern, Zweiruderern und kleinen Booten zusammen etwa 300 an der Zahl. Der Hafen Konstantinopels aber war mit einer Kette abgeriegelt von der Seite des Stadttors mit dem Namen Schönes Tor bis hinunter zur Galata-Seite, und auf der Innenseite lagen die Schiffe in einer Linie und bewachten den Hafen und die Kette” (XXXVIII 6 / S. 471).

Beschrieben sind auch die Plünderungen der Stadt Konstantinopel drei Tage nach der Eroberung, die Boote so schwer beladen bis an die Grenzen der Tragfähigkeit, „kostbare Gewänder, Gerätschaften aus Silber, aus Gold, aus Bronze, aus Zinn, Bücher ohne Zahl ... All die Bücher, die jede Zahl überstiegen, verluden sie auf ihre Wagen und zerstreuten sie überall in Ost und West. Für eine Goldmünze konnte man 10 Bücher kaufen, Bücher mit den Schriften von Aristoteles, Platon, dem Theologen (sc. gemeint ist Gregor von Nazianz) und auch sonst jede Art von Buch. Von den reich mit Schmuck aller Art verzierten Evangelien rissen sie das Gold und Silber ab; einige verkauften sie, andere warfen sie fort ...” (XLII 1 / S. 543).

Dukas schrieb in diesen Punkten wohl aus eigener Anschauung: Im Sommer 1453 scheint er das kurz zuvor an die Türken gefallene Konstantinopel besucht zu haben.


Rufus Festus, Kleine Geschichte des römischen Volkes/Breviarium rerum gestarum populi Romani, herausgegeben von: Anja Bettenworth und Peter Schenk, Lateinisch–deutsch. Sammlung Tusculum, De Gruyter Berlin-Boston 2020, 168 Seiten, 2 Karten, 29,95 €,  ISBN 978-3-11-065830-9
Cover Festus Kleine Geschichte

Rufus Festus († 380) war zu Zeiten des Kaisers Valens (363–378) Senator, zuvor hatte er das Amt eines magister memoriae inne und trug den Ehrentitel eines vir clarissimus. Er schrieb in 30 etwa halbseitigen Kapiteln eine Kurzdarstellung der römischen Geschichte (Breviarium rerum gestarum populi Romani) von den sagenhaften Anfängen der Stadt bis in die 360er Jahre. Die Schrift ist nicht nur ein Beispiel für die damals überaus beliebte Breviarienliteratur, sondern lässt auch aktuelle Probleme der Entstehungszeit erkennen, insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Partherreich an der Ostgrenze des römischen Imperiums. 

Seit kurzem liegt sie in einer Neuübersetzung mit kurzem Kommentar vor, herausgegeben von Anja Bettenworth und Peter Schenk. Entstanden ist die Neuübersetzung aus dem Kolloquium "Latina - Forschendes Lesen und Lernen" des Instituts für Altertumskunde der Universität zu Köln: „Als sich bei der Textarbeit zeigte, dass es für das Breviarium des Festus keine zeitgenössische deutsche Übersetzung gibt, entstand der Wunsch, diese Lücke zu schließen und einem breiten Publikum einen Lesetext des teilweise spröden Werks mit kurzen Anmerkungen zur Verfügung zu stellen" (Vorwort, S.7).

Breviarien bieten eine Zusammenfassung der römischen Geschichte, die auf Details verzichtet und aufgrund ihrer Kürze hinsichtlich der behandelten Themen eine Auswahl treffen muss. Die erhaltenen spätantiken Breviarien, die sich mit der römischen Geschichte befassen, werden sämtlich ins 4. Jahrhundert datiert. Dazu zählen die Werke des Aurelius Victor (ca. 358-360), des Eutrop (369 n. Chr.) und des Festus (369/370) sowie die anonyme Epitome de Caesaribus (nach 395 n. Chr.); die Breviarien des Eutrop und des Festus beginnen wie Livius mit der Gründung Roms, die beiden anderen mit der Herrschaft des Augustus. Daneben existieren früh christlich orientierte Historiographien, die schon früh eine kurze Darstellung bevorzugen. So entstanden im 2. Jh. die Werke von Clemens Alexandrinus, Julius Africanus und Hippolytus. Großen Einfluss auf spätere Darstellungen entfaltete das Chronicon des Eusebius (Anfang 4. Jh.).

Festus, der kein Christ war, scheint wie zuvor Eutropius von Kaiser Valens mit der Abfassung des nur dreißig Kapitel zählenden Werkes beauftragt worden zu sein (gut die Hälfte der Schrift bezieht sich auf die Beziehungen Roms zu den Parthern und scheint zur Legitimierung des Parterfeldzug des Valens in Auftrag gegeben zu sein). Die Kürze des Werks und die Fokussierung auf bestimmte Themen bringen jedoch auch Einschränkungen mit sich, z.B. eine fehlende erzählerische Qualität und eine begrenzte Perspektive auf den Stoff; zudem ergibt sich aus der Kürze die Notwendigkeit, dass der Leser zum richtigen Verständnis des Textes bereits über gute historische Kenntnisse verfügen muss. Trotzdem besteht Einigkeit darin, dass die kurze Form durch Konzentration auf die Fakten in besonderer Weise dazu geeignet war, schnell Wissen über die römische Geschichte zu vermitteln, Breviarien konnten gut in Schulen verwendet werden und dienten – so in diesem Fall – auch der Unterweisung von Beamten, denn nach dem Parterfeldzug des Valens bestand besonderer Bedarf, weil sich seit dem 3. Jh. n. Chr. eine neue politische Elite im Reich etabliert hatte, deren Mitglieder oft aus den Provinzen stammten und schnell verfügbares Wissen über den traditionellen Bildungskanon benötigten.

Die 30-seitige Einleitung gibt genügend Hilfen für das Verständnis des Breviariums, ebenso 40 Seiten Kommentar und ein umfangreiches Namensregister. Das kurze Werk enthält einige wichtige Informationen und gilt insgesamt als zuverlässiger als das wenig früher entstandene ähnliche, aber sprachlich weitaus anspruchsvollere Werk des Aurelius Victor. So bleibt zu hoffen, das das Breviarium des Hofbeamten Festus , bislang von der althistorischen Forschung eher stiefmütterlich behandelt, demnächst dank der soliden Vorarbeiten des Kölner Kolloqiums stärker rezipiert wird. 


Frederic Theis, Naves Plenis Velis Euntes. Die römischen Schiffsdarstellungen in Italien und Nordafrika, 346 Seiten mit 105 s/w Abbildungen wbg Academic, Darmstadt 2020, ISBN 978-3-534-27276-1 , 54,00 €,  43,20 € für WBG-Mitglieder
frederic theis cover

Den Titel „Naves Plenis Velis Euntes" hat jeder im Ohr, der Ausschnitte aus dem Gastmahl des Trimalchio des Titus Petronius gelesen hat. Der durch Handelsgeschäfte wohlhabend gewordene Gastgeber instruiert beim Gastmahl seinen Freund Habinnas, der Architekt und Bildhauer ist, genauestens über Details seines Grabmals, das dieser für ihn anfertigen solle. Auf der Schauseite des Monumentes seien Schiffe darzustellen, unter vollen Segeln, und obendrauf ein Bildnis seiner selbst (cena 71,9: te rogo ut naves etiam monumenti mei facias plenis velis euntes, et me in tribunali sedentem praetextatum cum anulis aureis quinque et nummos in publico de sacculo effundentem). Aussage und Wirkung sind evident: Schiffe sind die Werkzeuge und Ursache seines Wohlstandes und er will das auch über seinen Tod hinaus kundtun. Obwohl die Romanepisode fiktional und satirisch überhöht ist, bezieht sie sich auf ein im kaiserzeitlichen Fundgut zahlreich belegtes Phänomen – so die These von Frederic Theis – nämlich auf die bildliche Verknüpfung individueller Lebenswege mit Aspekten kollektiver Identifikation oder mit Schlüsselereignissen der römischen Seefahrtsgeschichte. Schiffsdarstellungen schmücken nicht nur Gräber, sondern ebenso Orte der Lebenswelt: Wohnhäuser etwa und öffentliche oder private Thermen, Markthallen und Tempel.

Frederic Theis, Autor dieser materialreichen Arbeit, studierte Klassische Archäologie und Vor- und Frühgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, und ist seit 2018 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven. 

Es gibt Forschungen über Schiffsdarstellungen auf antiken Münzen, auf spätantiker Keramik, auf Vasen und Öllämpchen, d.h. nautische Bilderwelten sind als Ausdruck hoch entwickelter Kulturen ein sehr verbreitetes Sujet. Auch auf einem anderen archäologischen Feld bilden Schiffe in den vergangenen Jahrzehnten einen vielfältigen Forschungsgegenstand. Diese Dissertation ist nicht zufällig in Mainz, dem Ort des berühmten Museums für antike Schiffahrt des RGZM (eröffnet 1994), entstanden, nachdem 1981/82 in Rheinnähe bei Bauarbeiten Überreste von fünf Flussschiffen aus dem 4. Jahrhundert gefunden worden waren, Das führte zu einer intensiven Beschäftigung mit dem antiken Schiffsbau, weitere Funde kamen dazu, Rekonstruktionen ermöglichten neue Erfahrungen und Erkenntnisse im Experiment. An den Universitäten Hamburg, Regensburg und Trier hat Althistoriker Prof. Dr. Christoph Schäfer mit Hilfe von studentischen  Mitarbeitern, Handwerkern und Schiffsbauern drei spätantike römischer Mannschaftsboote nachgebaut  und getestet. Unter seiner Leitung wollen in den nächsten Jahren bei einem auf neun Jahre angelegte Forschungsprojekt Trierer Wissenschaftler mithilfe nautischer Simulationen untersuchen, wie sich Seerouten und Seehandel wechselseitig beeinflusst haben. Als ein zentrales Instrument soll ein »Digitaler Interaktiver Maritimer Atlas zur Geschichte« (DIMAG) konstruiert und online zugänglich gemacht werden. Mit der Einrichtung einer zusätzlichen Professur für Maritime Antike ab 2022 tritt die Erforschung des antiken Seehandels an der Universität Trier in eine neue Phase ein. Unter dem Dach des von Christoph Schäfer geleiteten TRANSMARE-Instituts werden weitere Fächer der Universität Trier, die Kollegen und Kooperationspartner der Hochschule Trier (Michael Hoffmann, Karl Hofmann-von Kapherr und Fritz Nikolai Rudolph), des RGZM (Ronald Bockius) und der Universität Barcelona (José Remesal Rodriguez) sowie der TU Hamburg-Harburg (Alexander Christopher Wawrzyn) und des MIT in Massachusetts (Hans Moritz Günther) an dem nun genehmigten Vorhaben beteiligt sein.

Das sind neue Projekte, die auf jüngeren Erkenntnissen aufbauen, also Zukunftsaufgaben. Einem anderen Expertenkreis gehört Frederic Theis an. An seinem Studienort Mainz gab es vor einigen Jahren, im Mai 2013, eine vom dortigen Arbeitsbereich Klassische Archäologie und anderen Mainzer Institutionen initiierte Tagung, die  das Ziel verfolgte, einen fundierten Überblick zu gewinnen über die Bedeutung von Schiffsdarstellungen in unterschiedlichen Kontexten (privates Wohnen, Grab, Heiligtum, öffentlicher Raum, staatliche Repräsentation etc.), und zwar unter Beachtung von Anbringungsort, Material und Darstellungsform. Frederic Theis wurde quasi auf die Gleise dieser Mainzer Tagung gesetzt und  untersucht in der Folgezeit die römischen Schiffsdarstellungen Italiens und des zentralen Nordafrika von der mittleren Republik und den Kriegen gegen Karthago bis in die Umbruchszeit der Völkerwanderung und Spätantike. 

Erfasst werden knapp 500 freiplastische Skulpturen und Reliefs, Mosaikbilder, Wandgemälde sowie graphische Zeichnungen von Schiffen, Booten, Flößen und anderen Wasserfahrzeugen in ihrem räumlichen Umfeld; von öffentlichen Monumenten, aus Thermen und Theatern sowie aus Wohnhäusern und Gräbern. Theis legt damit die erste umfassende ikonologisch-topographische Untersuchung dieser Bildwerke aus dem Kerngebiet des Imperium Romanum vor. Es zeigt sich in den Abbildern eine Mentalität, die überraschend stark auf das Maritime und die Seefahrt schlechthin hin ausgerichtete war, und eine Geisteshaltung, in der das Schiff nicht bloßes Vehikel war für Handel oder Krieg, sondern darüber hinaus mannigfaltige neue Bedeutungszuweisungen erfuhr. 

Als wesentlichen Befund betrachtet Frederic Theis, dass Schiffsdarstellungen erstmals seit spätrepublikanischer Zeit in Erscheinung treten. „Die Exemplare aus Italien und Nordafrika und ihre spezifischen Anbringungsorte geben Aufschluss über die seit augusteischer Zeit partiell gestiegene Popularität der Schifffahrt, des Maritimen und entsprechender Abbilder in der Wohn- und Lebenswelt und in den Grabstätten der kaiserzeitlichen Gesellschaft. Sie verraten technische Details und Innovationen im römischen Schiffbau und geben spezifische Einsicht in die Entwicklung des mediterranen Seehandels insbesondere zwischen dem 1. Jh. v. Chr. und der Spätantike. Gleichwohl haben Fantasiedarstellungen neben den realitätsgetreuen Abbildungen einen ebenfalls hohen Stellenwert" (171). 

Die Untersuchungen des Autors führen aufgrund der Verknüpfung mit Zeit und Ort zu vielen überraschenden Ergebnissen; Darstellungen von Kriegsschiffen etwa gibt es in Ostia und Portus nur sehr vereinzelt. Große Popularität besitzen dort Bilder mit Frachtschiffen (zum Überwiegen von Frachtschiffen, Fischerbooten und anderen zivilen Fahrzeugen gegenüber Kriegsschiffen vgl. 155f). „Die Popularität entsprechender Bilder in verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen weist vielmehr auf eine stärker persönlich geprägte Beziehung der Menschen zu dieser speziellen Schiffsklasse und bestimmten realen Schiffen, als sie die Kriegsschiffe verraten ... Frachtschiffe begegnen vornehmlich ab der zweiten Hälfte des 2. Jhs n. Chr., womit sie ungefähr zeitgleich sind mit der größten Blute der Häfen an der Tibermündung ... Objekte mit christlicher Prägung oder solche mit christlicher Schiffsthematik trifft man überhaupt nicht an" (48).

In Rom bilden die Jonas-Szenen auf Sarkophagen in den Katakomben einen Spezialfall, größter Einzelfundort ist die Catacomba di S. Callisto an der Via Appia (57). Im Unterschied zu den nördlichen Katakomben ist das Jonasthema in den südlichen Katakomben bei der Via Appia mit 24 Bildern besonders stark präsent, vielfach mit großer Ähnlichkeit der Schiffsmotive (58). „Legt man die Gesamtzahl der Jonas-Szenarien auf Sarkophagen zugrunde, dann erweisen sich diejenigen mit großformatigen Schiffen auf dem Kasten als Einzelfälle. Es deutet sich zudem an, dass die Kastenszenen zeitlich weitgehend auf die kurze Phase von 280 bis 300 beschränkt blieben, derweil Jonasbilder auf den Sarkophagdeckeln zur selben Zeit bereits wesentlich zahlreicher auftreten" (59). Bilder von innerstädtischen Fundstellen stammen überwiegend aus den westlichen Stadtbezirken mit vorwiegend öffentlichem oder dezidiert repräsentativem Charakter. Unter den frühaugusteischen Schiffsdarstellungen stehen Kriegsschiffe zahlenmäßig in vorderster Reihe (52)

In Pompeji gibt es zwölf Beispiele für Buchstabenschiffe, das sind Graffiti, etwa der Schriftzug Neptunus, wobei das T in der Schiffsmitte zu einem hohen Mast mit quergestellter Rah vergrößert ist, so in der Basilica Argentaria, dem einzigen Beispiel in Rom. (56f. vgl. auch 157).

Auf Sizilien zeigt besonders die Villa von Piazza Armerina zahlreiche Schiffsbilder, obgleich sie im Binnenland gelegen ist. Man wird „die Ursache hierfür höchstwahrscheinlich in der Biographie des Dominus zu suchen haben, der als Finanzier und Eigner nicht allein den architektonischen Grundriss des Gebäudes, sondern auch dessen Dekorausstattung von Beginn an maßgeblich beeinflusst haben dürfte. Gewiss nicht zufällig ist die umfangreichste Schiffsszene, jene im Korridor 36, zugleich auch diejenige, welche am deutlichsten lebensweltlichen Aspekten (u.a. Jagd und Tiertransport) verpflichtet ist" (129).

In Nordafrika stehen Schiffe und Boote verhältnismäßig selten als Hauptthema im Mittelpunkt. Im überlieferten Bildmaterial gibt es „eine Vielzahl von Darstellungen, bei welchem Schiffe als Götterattribute (Neptun, Amphitrite, Okeanos, Venus, Dionysos) oder als Gefährte mythischer Fischer notwendiger Szeneriebestandteil sind ... Was die dargestellten Baumuster anbelangt, begegnen wir perspektivischem Ungeschick und Fehlinterpretatioonen ebenso wie Typenklitterung und Umbildung" (145). 

In einem einhundert Seiten umfassenden Katalogteil (173–272) werden alle einschlägigen Objekte in regionaler Sortierung aufgelistet mit Angabe des Fundorts, einer Beschreibung der Szenerie, Angaben zu Kontext und Datierung des Stücks sowie Hinweisen auf Fachliteratur. Es lässt sich also z.B. leicht eruieren, welche Schiffsdarstellungen etwa in Leptis Magna (256–259) oder in Pompeji (225–238) in Ostia (175–181) oder in Rom (183–220) zu finden sind und was auf dem jeweiligen Objekt zu sehen ist. 57 Schiffsdarstellungen sind auch mit Abbildungen vertreten, durchwegs in schwarz-weiß. Abgebildet sind auch die unterschiedlichsten Rumpfformen (313ff.). Das Literaturverzeichnis enthält an die 800 Titel in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache (273–291).

Im letzten Punkt seiner Gesamtauswertung vergleicht Frederic Theis die Transportkosten des Seehandels mit den Kosten für den Landtransport (S. 168f: Strecke Brundisium – Ravenna, 706 km, 59 Tage per Ochsenkarren vs. sechs Tage per Schiff; auf dem Landweg transportiertes Weizenkilogramm: 25 Denarii vs. 0,61 Denarii per Schiff) und errechnet – was schon Trimalchio lautstark vetreten hat – dass die Gewinnspanne für Schiffseigner beträchtlich war. „Da wir nun festgestellt hatten, dass der Besitz von Schiffen, indem er Wohlstand und Prosperität ankündigte, erstrebenswert sein konnte, manifestieren sich in manchen Schiffsdarstellungen möglicherweise Wünsche, Hoffnungen und zukunftsorientierte  Fantasien bestimmter Bevölkerungsteile bezüglich jenes hohen Lebensstandards, den erfolgreicher Seehandel versprach" (170).

Die ertragreiche Arbeit von Frederic Theis zeigt die Ergiebigkeit des Themas. In der antiken und mittelalterlichen Lebenswelt verdeutlichen nicht nur die Zahl und die Verschiedenartigkeit verzierter oder beschrifteter Objektgattungen, sondern auch die Vielschichtigkeit der Kontexte, in denen die schriftlichen und materiellen Zeugnisse verortet waren, dass Schiffe eine Rolle in den verschiedenen Feldern privater und öffentlicher Repräsentation, im weiten Feld religiöser Praktiken sowie im technisch-organisatorischen Bereich der Handwerker oder der Öffentlichen Hand spielten. 


Jutta Dresken-Weiland, Andreas Angerstorfer, Andreas Merkt, Himmel – Paradies – Schalom. Tod und Jenseits in christlichen und jüdischen Grabinschriften der Antike. Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2012, 400 Seiten, 70 s/w Illustrationen, 

ISBN 978-3-7954-2325-4, 49,95 €

Cover Himmel Paradies Schalom

Zu Regensburger Studienzeiten führte mich mein Weg zur Uni von der Maximilianstraße (wo ich in einem Studentenwohnheim mit Blick auf die Römermauer wohnte) bisweilen über den Unteren evang. Zentralfriedhof und den Oberen kath. Friedhof hinauf zum Universitätscampus. Der Weg hatte besonders im Frühling seinen Reiz, nicht nur wegen der (in der Erinnerung) fast Fußballplatz-großen Rasenflächen voll mit Blausternchen, sondern auch wegen der zahlreichen Monumente und erzählfreudigen Grabsteine von Menschen jeder sozialen Schicht, unterschiedlichster Herkunft und Karriere. Auf den Grabsteinen gab es die Aufstiege des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nachzulesen: Realitätenbesitzer, Oberlokführer, Donauschifffahrtskapitäne (und ihre Witwen), dazu Militärs, höhere Beamte, Ärzte aus nah und fern, mit allen möglichen Titeln bürgerlicher Karrieren. Seither mag ich Grabinschriften, und wenn diese heutzutage meist sehr dürftig ausfallen, dann lohnt umso mehr ein Blick auf solche aus Renaissance und Barock oder noch weit ältere, wie diejenigen, die in diesem schönen Buch gesammelt, übersetzt und kenntnisreich erklärt sind.

Die Autoren dieses Buches müssen Grabinschriften ähnlich verstehen, wenn sie im Vorwort Henning Mankell sprechen lassen (in: Vor dem Frost, München 2005, 209, zit. nach Vorwort S. 15):

Zwischen Grabsteinen umherzuwandern war,

wie zwischen den Regalen in einer

Bibliothek zu gehen. Jeder Stein war

wie der Deckel oder der Umschlag eines Buches.

Der vorliegende Band, mehr ein Lesebuch als eine Enzyklopädie, basiert auf den Forschungen von Jutta Dresken-Weiland, die über 60.000 christliche Grabinschriften der Antike gesammelt und erschlossen hat. Eine Auswahl in lateinischer, griechischer und hebräischer Sprache findet sich jeweils mit deutscher Übersetzung und Kommentar in diesem Buch, dem Band 1 eines mehrbändigen Handbuchs zur Geschichte des Todes im frühen Christentum und seiner Umwelt. Der zweite Band, verfasst  von Jutta Dresken-Weiland, widmet sich der frühchristlichen Grabkunst und ist bereits 2010 unter dem Titel Bild, Grab und Wort erschienen und wurde nachträglich dem Handbuch inkorporiert. Weitere Bände sind angekündigt bzw. geplant. Ein Buch von Andreas Merkt mit dem Titel Metamorphosen des Todes. Bestattungskulturen und Jenseitsvorstellungen im Wandel der Zeit – Vom alten Ägypten bis zum Friedwald der Gegenwart (RKST 2) ist ebenfalls im Verlag Schnell & Steiner 2016 erschienen. 

Die drei Autoren stützen sich auf Arbeiten, die im Regensburger interdisziplinären Forschungskolloquium „Tod und Bestattung im frühen Christentum und seiner Umwelt" in vielen Jahren zusammengetragen und diskutiert wurden: Dr. Jutta Dresken-Weiland ist nach Studien in Münster, Bonn, Rom und Regensburg, der Habilitation in Göttingen seit 2009 außerplanmäßige Professorin für Christliche Archäologie und Byzantinische Kunstgeschichte an der Univ. Göttingen und im Verlag Schnell & Steiner für den Bereich Archäologie verantwortlich. – Prof. Dr. Andreas Merkt, langjähriger Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Kirchenhistoriker im deutschen Sprachraum, ist  Inhaber des Lehrstuhls für Alte Kirchengeschichte und Patrologie an der Universität Regensburg. – Dr. Andreas Angerstorfer, seit 1973 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg, lehrte dort bis zu seinem frühen Tod 2012 Griechisch, semitische Sprachen und Judaistik. 

Beim Lesen der ausgewählten Inschriften lassen sich schon aus den Altersangaben einfache Erkenntnisse gewinnen: angegeben sind vielfach überraschend genau die gelebten Jahre, Monate und Tage. Der exakte Todestag ist häufig vermerkt, schwieriger ist es mit dem Sterbejahr. Unter den Verstorbenen sind – nicht ganz unerwartet – sehr viele Kinder (denen, wie eine quantitative Auswertung der stadtrömischen Inschriften ergeben hat, die meisten antiken Inschriften gewidmet sind) und Jugendliche, zudem junge Erwachsene, aber auch sehr alte Menschen, etliche in den 80-er Lebensjahren (vgl. S. 198, 209, 217, 355, 363), etwa der 110-jährige Pancharios (Marmortafel, 18 x 25 cm, heute im Vatikanischen Lapidarium ebraicum ex-Lateranense), übrigens, das höchste Alter, das sich in den jüdischen Grabinschriften findet, das zweithöchste Lebensalter von fast 97 Jahren erreichte Poimenis (S. 362).

Hier liegt Pancharios, Vater der Synagoge von Elea, 110 Jahre (alt). Er liebte das Volk, er liebte die Gebote, er lebte ein gutes Leben. In Frieden sei sein Schlaf. (S. 361f).

[Euse]bius infans per aetatem sene(!) pecca-

[to acce]dens ad sanctorum locum in pa- 

[ce qui]escit

Das kleine Kind Eusebius, das wegen seines Alters ohne Sünde an den Ort der Heiligen gelangt, ruht in Frieden. (S. 133)

Hic requiescit in pace

Dulcitius qui vixit ann(os)

VII d(ies) XX et III resurrec-

turus in XPO

Hier ruht in Frieden Dulcitius, der 7 Jahre, 20 und 3 Tage lebte. Er wird auferstehen in Christus. (S. 181)

Gott, der Herr, lass die Seele deines Dieners Stephanus ausruhen. Trauere nicht über den Tod. Niemand ist nämlich in der Welt unsterblich. (S. 212)

Bevor du noch sagst: 'O Grab, wer oder wessen Kind ruht hier?' ruft schon der Grabstein allen Vorübergehenden zu: 'Der Leib ruht hier der unvergesslichen Makaria, nachdem er den Tod, wie die Frommen es pflegen, verkostet; sie selbst aber durchwandelt die himmlische Stadt der Heiligen und besitzt als Lohn ihrer Mühen himmlische Kränze.' (S. 215)

Virginis hic tenerae lector miserere sepulcro

unius huic lustri vix fuit arta dies

o quam longinquae fuerat dignissima vitae

heu cuius vivit nunc sine fine dolor

addamus meritis lacrimas tam mortis acervae

nam quae grata forent sunt modo flenda diu

haec Theodote habuit nomen quae gaudia matris

perculit aeterno vulnere rapta cito

sola tamen tanti restant solamina luctus

quod tales animae protinus astra petunt

vixit ann(os) IIII mens(es) VIII d(ies) XXV dep(osita) III Non(as) Sept(embres) ind[ictione ---]

Erbarme dich, Leser, des Grabes des zarten Mädchens hier, dem kaum die knappen Tage eines einzigen Lustrums beschert waren, o wie sehr sie eines langen Lebens würdig gewesen wäre. Ach, der Schmerz über sie lebt nun ohne Ende. Wir fügen wegen ihres so bitteres Todes ihren Verdiensten Tränen hinzu, denn diese wären erwünscht, sie sind jetzt ein Maß, um lange zu klagen. Diese hieß Theodote, die so schnell dahingerafft die Freuden der Mutter zu ewigem Kummer zerschmetterte. Dennoch bleiben als einzige Trostmittel in dieser so großen Trauer, dass solche Seelen geradewegs zu den Sternen streben. Sie lebte 4Jahre, 8 Monate und 25 Tage, begraben am 3. September in der – Indiktion. (S. 131)

Schon diese kleine eher zufällige Zusammenstellung von Grabinschriften läßt Bilder erkennen, die eine lange Vorgeschichte in der heidnischen lateinischen und griechischen Antike besitzen, oder Formulare, die eine Jenseitshoffnung zum Ausdruck bringen, Texte knüpfen an die pagane Tradition an, die einen Dialog mit dem Leser führt und den Grabstein als sprechend vorstellt. Der Aufenthalt des toten Leibes ist ein vertrauter Topos; das Erringen eines Kranzes als Lohn für ein christliches Leben wird im Neuen Testament erwähnt. Das hic requiescit in pace (das in Vienne und Umgebung ein häufig und gern verwendetes Formular war) wird noch heute gebraucht. Die Formel „lebte ein gutes Leben" ist Standard in den jüdischen Grabinschriften in Rom, in Kleinasien ist diese Formel unbekannt. Grabinschriften bieten vielfach Anklänge an Vergil und Homer, viele Formulierungen, Bilder und Motive sprechen wohl auch heutige Leser an, berühren ihn – auch durch die Metrik – oder lassen ihn aufgrund ihrer schlichten Naivität vielleicht schmunzeln.

Einen sehr guten Einstieg in diese vergangenen Welten frühchristlicher Grabinschriften, bei der Frage nach dem Wert der Epitaphien für die Rekonstruktion von Jenseitsvorstellungen der frühen Christen und bei der Suche nach dem Besonderen an der „Friedhofsliteratur" bieten Andreas Merkt: Das Schweigen und Sprechen der Gräber. Zur Aussagekraft frühchristlicher Epitaphe (13–63) und Jutta Dresken-Weiland: Tod und Jenseits in antiken christlichen Grabinschriften (71–89). Andreas Angersdorfer folgt den Spuren jüdischer Grabinschriften in Galiläa, Kleinasien, Rom und Venosa. In der Heimat des Dichters Horaz gab es im 2.–5. Jahrhundert eine bedeutende jüdische Gemeinde (S. 367–377) und eine größere jüdische Katakombenanlage (ein Teil wurde 1853 entdeckt, weitere Bereiche 1932 und Anfang der 1970-er Jahre) mit sieben parallelen Galerien, mit eigenen Eingängen und Querverbindungen (S. 367). Der Grabgang D hat die meisten Grabnischen mit mehreren hundert Gräbern. Die Loculi reichen (bis zu zwölf übereinander) vom Fußboden bis zur Decke. Die seit 2007 teilweise wieder geöffnete Katakombe umfasst 590 Gräber und ist den kaum zugänglichen jüdischen Katakomben von Rom ebenbürtig. Die Anlage muss auf den Autor großen Eindruck gemacht haben: „Der Höhepunkt der Arbeit an den antiken Grabinschriften war die Besichtigung der jüdischen Katakombe von Venosa (Provinz Basilikata) .. an der collina di Maddalena am 30. März 2009” (S. 279). Während die paganen Inschriften in Venosa durchgehend lateinisch sind, sind von den 75 jüdischen Inschriften 33 in griechischer, zehn in hebräischer und neun in lateinischerSprache; neben 19 zweisprachigen Texten ist eine griechische Inschrift kurios, die mit hebräischen Schriftzeichen geschrieben ist (S, 369). Auffällig auch die hohe sprachliche Korrektheit der hebräischen Inschriften: Offensichtlich wurden diese von besseren Schreibern geschrieben oder Vorlagen von Schreibern benutzt (S. 369). Andreas Angersdorfer listet auch eine Reihe von Unterschieden der Formulare der Gräber in Venosa zu den jüdischen Gräbern in Rom, Karthago oder Palmyra auf.

Spannend zu lesen ist das Kapitel über die Entstehung und Eigenarten christlicher Grabinschriften, in dem Jutta Dresken-Weiland die Spezifika in Rom, Kleinasien, im lateinischen Westen und im griechischen Osten herausarbeitet und sich deutlich vorkonstantinische Inschriften von solchen späterer Zeiten unterscheiden lassen. In Rom etwa werden seit der Mitte des 4. Jhs. metrische Texte immer häufiger. „Dieses Interesse besonders an der Dichtung Vergils und seiner Zeitgenossen ist für Gebildete und Reiche des 4.–6. Jhs. ein so wichiges Element ihres Selbstverständnisses, dass auch die immer zahlreicher vertretenen Christen in ihren Epitaphen auf christliche Elemente verzichten und sich innerhalb einer traditionellen Begrifflichkeit bewegen können" (S. 80). In Kleinasien sind christliche Grabinschriften vorwiegend in ländlichen Gebieten anzutreffen. Die auf den Grabsteinen dargestellten Werkzeuge weisen auf Bauern, Viehzüchter und Winzer, Handwerker und Händler, sowie auf einige wenige Juristen, Lehrer, Ärzte und Soldaten (S. 84); anders als in Rom findet kein Bruch mit bestehenden epigraphischen Konventionen statt. Die Vorliebe für eingeritzte Kreuze oder Christogramme, die zwar auch in Rom vorkommen, sind in Aquileia besonders beliebt. Die Mischung aus einer im Formular zurückhaltenden Christianisierung, der Vorliebe für Ausdrücke der Trauer und der geritzten Darstellung der oder des Verstorbenen auf dem Grabstein darf als Eigenart der christlichen Inschriften Aquileias gelten (S. 87). Ein besonders charakteristisches Formular Ägyptens, das in Grabinschriften bis in das 7.–8. Jh. erscheint,fordert auf, nicht zu trauern, da niemand in dieser Welt unsterblich sei. Dieses ursprünglich heidnische Formular, das in banaler, an den Toten gerichteter Trost häufig in paganen Grabinschriften der Oikumene zu finden ist, verändert in christlichen Inschriften seinen Sinn und wird zum Ausdruck der Hoffnung auf ein Weiterleben in einer anderen Welt (S. 89). Die griechischen Epitaphe Ägyptens, die Aussagen zum Leben nach dem Tod machen, zeichnen sich durch eine besondere Kreativität ihrer Verfasser aus, die auf alt- und neutestamentliche sowie liturgische Texte anspielen. Im Unterschied zu anderen Regionen fällt auf, dass ein standardisiertes Formular neben zum Teil ausgefeilten und raffinierten metrischen Texten steht; Prosa-Inschriften sind nur selten belegt (S. 89). In Karthago hingegen überrascht das fast völlige Fehlen von Grabgedichten; offenbar bestand keine Tradition aufwendiger Epitaphe. Außerhalb von Karthago sind metrische Texte dagegen durchaus anzutreffen.

Die in vorliegendem Buch präsentierten Grabinschriften von unterschiedlichen Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten und Jahrhunderten bringen viele Facetten von Jenseitshoffnung zum Ausdruck. Die christlichen Texte zeigen durchgehend ein freundliches und friedvolles Jenseits, in dem die Toten Gemeinschaft mit Gott haben. Die jüdischen Inschriften betonen die Sicherstellung der ungestörten Grabesruhe mit dem Wunsch »Schalom« bzw. »in Frieden sei sein/ihr Schlaf«. 

Die profunde Gelehrsamkeit der drei Autoren in Verbindung mit gut lesbarem Stil und optisch ansprechender Präsentation machen die Lektüre zum Gewinn.


Welt der Renaissance. Ausgewählt, übersetzt & erläutert von Tobias Roth. Galiani Verlag Berlin 2020, 640 Seiten, ISBN 978-3-86971-205-5, 89,00 €, als E.book 39,99 €
Cover Welt der Renaissance

„Das schönste Buch des Herbstes 2020“ – so liest man in den Feuilletons der Zeitungen zu diesem Buch über die „Welt der Renaissance“, also über Literatur, Gedankenwelt, Alltag und Geschichte der italienischen Renaissance. Komponiert hat diese prächtige Anthologie in der Machart ähnlich den Buchkunstwerken, die vor über fünfhundert Jahren entstanden sind, Tobias Roth, geb. 1985. Er ist freier Autor, Lyriker und Übersetzer aus dem Italienischen, Französischen und Lateinischen. Er wurde mit einer Studie zur Lyrik und Philosophie der italienischen Renaissance promoviert..

Wir kennen Tobias Roth schon von der prächtig gestalteten und üppig kommentierten deutsche Ausgabe der „Liebeskunst“ des Ovid, die er 2017 im  Berliner Galiani Verlag  zusammen mit Melanie Möller und Asmus Trautsch herausgegeben hat.

Beim ersten Scrollen in der „Welt der Renaissance“ – ich habe beim Verlag „nur“ das E-book bekommen, weil die Printausgabe nach acht Wochen bereits vergriffen ist – zeigte sich, dass der Fortschritt auch seinen Preis hat: E-books mögen preisgünstiger und leichter zu tragen sein, lassen es aber in diesem Fall an Handhabbarkeit und bibliophiler Qualität fehlen. Fast komme ich mir vor wie der Fürst Federico da Montefeltro, der in seiner Bibliothek handgeschriebene Bücher den gedruckten vorzog, Ich möchte die  auf champagnerfarbenen Leinen gedruckte bibliophile Ausgabe der „Welt der Renaissance“ jener (vielleicht ganz praktischen) aber letztlich sehr profanen und spröden  Digitalausgabe vorziehen.

Beim Scrollen also blieb ich (tagesaktuell) bei der Pest in Florenz im Jahr 1348 und bei Baldassarre Bonaiuti lesend hängen (S. 67ff.). Der junge Baldassarre ist zwölf Jahre alt, als die große Pest über Italien hereinbricht, Homeschooling noch kein Thema. Seine Aufzeichnungen in der Cronaca über diese Katastrophe zählen zu den besten Quellen. Er beschreibt vor allem die Auswirkungen der Seuche auf die Stadtgemeinschaft und den sozialen Zusammenhalt in Florenz (sie rafft in kürzester Zeit ein Drittel der Bevölkerung dahin), aber die Katastrophe betrifft die ganze mediterrane Welt. „Wenn die Krankheit erst einmal in einem Haus ausgebrochen war, kam es oft vor, dass kein Einwohner überlebte. Und sie machte nicht halt bei Männern und Frauen, sondern auch die Tiere starben, Hunde und Katzen, Hühner, Rinder, Esel und Schafe, alles starb an der gleichen Krankheit und mit dem gleichen Zeichen behaftet. Fast niemand, an dem sich das Zeichen gezeigt hatte, konnte geheilt werden“ (S. 67ff). Was bleibt, ist Flucht für die einen, Ausharren für die anderen. Der einzige Schutz ist räumliche Distanz (das kommt uns heute bekannt vor!). Den drastischsten Eindruck des allgegenwärtigen Todes geben wohl die Metaphern und Vergleiche, die für Massenbegräbnisse gefunden werden. Boccaccio spricht davon, dass die Leichen gestapelt werden, eng wie Fracht in einem Schiff. Bonaiuti wählt das anschaulichere Beispiel der Lasagne (S. 68).

Einen Überblick über diese Anthologie zur Renaissance geben sieben Seiten Inhaltsverzeichnis mit den Namen von 68 Repräsentanten der italienischen Renaissance und Auszügen aus ihren Werken, gedruckt auf einer spezifischen Leinenart, die den Herstellungsprozess aufwendig, das Produkt aber ausgesprochen schön macht (so teilt es mir die Pressereferentin von Galiani mit, was digital leider nicht zu ertasten ist!). Allein die Beschäftigung mit Petrarca, der den Renaissance-Reigen eröffnet (mit seinem berühmten „Brief an die Nachwelt“), wäre für viele Philologen als Lebensaufgabe ausreichend. Aber da sind auch noch so bedeutsame Gestalten wie Giovanni Boccaccio, Lorenzo de Medici, Leonardo da Vinci, Aldo Manuzio, Lorenzo Valla, Ennea Silvio Piccolomini, Ludovico Ariosto, Marsilio Ficino, Michelangelo Buonarroti oder Pietro Bembo. Ja, und die weiteren 57 Zeitgenossen, die ebenfalls zu Wort kommen, sind nicht minder reizvolle Figuren. Zeitbedingt sind nur wenige Frauen darunter, die Dichterinnen Veronica Gambara, Vittoria Colonna, Gaspara Stampa, außerdem Tullia d’Aragona. sowie Alessandra Macinghi. 

Das Buch ist hervorgegangen aus Tobias Roths unregelmäßig per E-Mail erschienenen Berliner Renaissancemitteilungen, eine Art Zeitschrift mit Übersetzungen im Anhang und Erläuterungen in der Mail; die erste Nummer (Pietro Bembos Priapus) erschien im Vorfrühling 2011, die letzte, 261. Nummer (aus Leon Battista Albertis Intercenales) im Vorfrühling 2017. Nun sind 68 Autorinnen und Autoren aus Italien mit Hunderten von Texten versammelt, eine möglichst große Vielfalt an Formen und Gestalten, Inhalten und Figuren. Geordnet sind sie chronologisch nach ihren Geburtsjahren, in der Ordnung also, in der die Fortuna sie auf die Welt losgelassen hat (Vorwort S. 19). Jedes der 68 Kapitel eröffnet mit einer biographischen Einleitung, die die Texte, ihre Urheber und ihre Kontexte vorstellt. Die Individuen stehen im Vordergrund, die einzelnen Texte und einzelnen Autoren. Längere Linien ergeben sich zwischen Kapiteln und nicht zuletzt im direkten Kontakt der Autoren: Die Humanisten waren gesellige Literaten, sie feierten den Wert der Freundschaft wie kaum eine andere Zeit, und knüpften diese Bande als Lehrer, Lektoren und Berater auch künstlerisch. Man muss das Buch also nicht zwangsläufig nach der Chronologie lesen, man kann springen und schweifend spazieren oder den Freundeskreisen folgen, man kann sich vom Register leiten lassen oder eben von der Fortuna (S. 20).

Arbeiten zur Kultur der Renaissance finden seit einiger Zeit verstärkt Interesse. Mir fällt Arnold Esch ein, der in seinen Büchern immer wieder gewöhnliche Menschen, Gebäude, Landschaften der italienischen Renaissance zum Sprechen bringt oder Stephen Greenblatts preisgekröntes Buch „Die Wende. Wie die Renaissance begann“ von 2013 (auf den Spuren von Lukrez’ De rerum natura) oder das Schwergewicht „Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance“ des Züricher Historikers Bernd Roeck (1300 Seiten, 1600 g, 4. Aufl. 2018, C.H. Beck). Es hat den Anschein - so der Rezensent Andreas Kablitz in der FAZ, als versuche man sich im Zeichen zunehmender Verunsicherung über die Gegenwart und wachsender Zweifel an den Errungenschaften der Moderne noch einmal der – grandiosen – Anfänge der Neuzeit zu vergewissern.

Die Renaissance war die Zeit des erblühenden Buchdrucks. Da musste sich ins Zeug legen, wer mit dem Augenschmaus der Buchmalerei konkurrieren wollte. Ein prächtiges Buch kostete bisweilen allerdings mehr als ein Haus. Seine Herstellung erforderte eine Truppe fähiger Spezialisten, etwa Zeilenzieher, Schreiber und Miniaturisten. Um das Pergament für eine einzige Bibel zu beschaffen, waren ganze Schafherden als Pergamentlieferanten erforderlich. Ein ordentlicher Buchhändler musste zudem nicht nur über Kapital und Kontakte in die Welt der Gelehrten und Literaten verfügen, sondern sich auch auf das Management komplizierter Arbeitsabläufe verstehen. Aldo Manuzio, 1449 südöstlich von Rom geboren, ist dies in besonderer Weise gelungen (S. 257ff.). Das Drucken von griechischen Texten wird ihm zur Lebensaufgabe. Er hat als Verleger lange verschollene Texte aufgespürt; als Kardinal Bessarion 1472 stirbt, vermacht dieser der Republik Venedig seine Sammlung griechischer Manuskripte. Hier leben unzählige griechische Exilanten, die nach dem Fall von Griechenland und Konstantinopel 1453 nach Westen flüchten. Ein ordentlicher Verleger wie Aldo Manuzio musste über Kontakte in die Welt der Gelehrten und Literaten verfügen, In den Jahren nach 1475 hatte er in Ferrara bei Battista Guarini das Griechische, aber auch Ideen zur Bildung und Wissensvermittlung studiert. Hier lernte er vermutlich Giovanni Pico della Mirandola kennen, einen Kommilitonen bei Guarini. Von Ferrara ging er in die Romagna, nach Carpi, wo er 1480 das Bürgerrecht erhielt und wo Verwandte Picos, namentlich die Familie Pio, die Stadt beherrschten. Aldo verbringt einige Zeit als Lehrer in Carpi am Hof der Pio und als Forscher mit Giovanni Pico und dem kretischen Gelehrten Manuel Adramitteno im nahe gelegenen Mirandola (S. 257). 

Als venezianischer Buchdrucker hat Aldo Manuzio eine herausragende Sorgfalt in die Textgestaltung gelegt. Seine Veröffentlichungen wurden „Aldinen“ genannt, was ein Gütesiegel war. Im Vorwort zum Füllhorn der Amaltheia vom August 1496 richtet Aldo Manuzio sein Wort „an alle Studenten“: „Es ist ein hartes Geschäft, ihr Studenten aller guten Literatur, lateinische Bücher ohne Fehler zu drucken, noch härter, fehlerfrei auf Griechisch zu drucken, und am härtesten, sowohl das eine als auch das andere sorgfältig in harten Zeiten zu tun. Ihr könnt alle sehen, in welchen Sprachen und unter welchen Umständen ich Bücher drucke. Seit ich dieses harte Geschäft angefangen habe (die Unternehmung ist nun in ihrem siebten Jahr), habe ich, und das kann ich beschwören, in all den Jahren keine einzige Stunde wahrer Ruhe gehabt. Dass unser Vorhaben überaus schön und nützlich ist, das bestätigen alle wie aus einem Mund, alle künden das Lob. Es mag schon so sein. Ich aber habe durch die Lust, euch zu helfen und euch mit guten Büchern zu versorgen, einen Weg gefunden, um mich zu foltern.“ (S. 200) 

Ein Buchkünstler der besonderen Art war auch Vespasiano da Bisticci (um 1422–1498). Seiner Florentiner Werkstatt entstammen einige der schönsten Buchkunstwerke der Renaissance. Nachruhm erntete er auch als Autor von über hundert Lebensbeschreibungen berühmter Männer und Frauen seiner Zeit, von denen er einige persönlich gekannt hatte. In Tobias Roths Sammlung ist Vespasiano da Bisticci (S. 165ff.) mit einigen Passagen der Biografien vertreten. Wie alle Quellen hat der Herausgeber sie frisch übersetzt und mit einer knappen Einleitung versehen. »Renaissance«, das war vor allem Tinte und Druckerschwärze. Sie formten fromme und gelehrte Traktate, fein ziselierte Gedichte, historische Erzählungen, witzige Essays. Die äussere Gestalt vieler Bücher, die das alles bewahren, nobilitiert die Worte. 

Wer der Einladung zur Besichtigung eines Zeitalters folgt, begegnet den Superstars Leonardo, Raffael und Michelangelo, dazu Benvenuto Cellini, dem Goldschmied aller Goldschmiede. Mit dem Gewürzkrämer Luca Landucci spaziert man durch das eiskalte Florenz des Januars 1490; der von den Medici kaltgestellte Machiavelli ist auf seinem Landgut bei San Casciano anzutreffen. Nach den Mühen des Tages tröstet sich der Meisterdenker durch imaginäre Gespräche im Studierzimmer mit den Grossen der Antike. Und in Ferrara wartet ein »privates« Abendessen des Herzogs Ercole d’Este: Die Speisenfolge reicht von Pfauenstückchen, Austern und Zickleinbrust bis zu Konfekt.

Die Renaissance ist gesprächig. Sie liebt das Gespräch, wie sie das Lesen liebt, schreibt Tobias Roth in seinem Vortwort. „Francesco Petrarca beschreibt die Freude, die ihm der schiere Akt des Schreibens bedeutet. Er verfasst nicht nur einen Brief an uns, die ihm unbekannte Nachwelt, er schreibt auch Briefe an die Vorzeit, an Autoren der römischen Antike, von denen bis heute keine Zeile überliefert ist. Nicht zuletzt ist sich Petrarca, der die große Pest von 1348 überlebt, durchaus bewusst, dass sich ein gewaltiger Umbruch ankündigt und er daran teilhat: Sein Standpunkt, schreibt er, liegt auf der Grenzlinie zwischen zwei Völkern, indem er gleichzeitig in die Zukunft und in die Vergangenheit schaut, nach vorne und nach hinten, simul ante retroque prospiciens. Die Hingabe an die Schönheit menschlichen Denkens und Sprechens wird wortreich zelebriert. Die meisten Humanisten schreiben unzählige Werke, sie sind Vielschreiber. Alles, was aus den alten Büchern und der Welt gesogen wird, wird in neue Bücher für die Welt zurückgeführt. Der Großartigkeit eines Werkes tut es kaum Abbruch, wenn es nicht fertig wird. Andre Epochen mögen großartige Vollender und Vollstrecker vorweisen, die Renaissance glänzt durch ihre grandiosen Anfänge und Beginne. Neues wird geplant und vielleicht nicht abgeschlossen, Schritte ins Neuland gehen schief, Missverständnis wird Treibstoff. Viele Humanisten sind nicht zuletzt Virtuosen der Selbstüberforderung (Vgl. Vorwort S.15).

Das 14. Jahrhundert erlebt mit Dante, Petrarca, Boccaccio und vielen anderen eine Blüte des volgare, das damit seine Würdigkeit als Literatursprache erweist. Dem gegenüber steht die Hochschätzung des alten, antiken Latein, das durch den Gebrauch der Humanisten zum modernen Latein wird und in seinem Sprachprestige unerreicht ist. Die Humanisten des 15. Jahrhunderts schreiben nicht einfach immer noch Latein, sondern schon wieder. Dieser toten, aber überaus lebendigen Sprache vertrauen sie nicht nur die wichtigsten und höchsten Dinge an, sondern auch die progressivsten und experimentellsten. (Vorwort 16). 

Im Original lateinische Texte beginnen hier im Buch mit einer roten Initiale, volkssprachige mit einer schwarzen. Jeden Kapitelbeginn markiert überdies eine Medaille. Solche Medaillen, Schaustücke, entwickelten sich aus der Nachahmung antiker Münzen, die ein Herrscherporträt im markanten Profil zeigen. Antike Münzen und Medaillen werden gesammelt, beforscht, als Geschichtsquellen ausgewertet und für die Neuproduktion nutzbar gemacht. Ein typischer Renaissanceakt: Das antike Format wird wiedergeboren, aber verändert seine Funktion, seine Bedeutung, seinen Kontext vollkommen. Die abgebildeten Medaillen stammen aus dem Münzkabinett und der Skulpturensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin. Die Motti und Impresen auf den Medaillen tendieren gerne zum gelehrten Rätsel, zu einer Phantasie, die sich an Mythologie, Zitat und Umweg freut. Dazu aber kommt oft auch ein hoher moralphilosophischer Anspruch. Es geht um Werte und Inhalte, mit denen man sich gerne schmückt. 

Es gibt in diesem „Großlesebuch“ (S. 20) zeitlos schöne, verschlüsselte und manifeste Weisheiten zuhauf. So erläutert Niccolo Machiavelli in seinen „Ratschlägen für einen, der Botschafter wird“ (179ff), dass man sich einen guten Ruf erwerbe, „indem man nicht für einen gilt, der eine Sache denkt und eine andere Sache sagt.“ Aber auch die Aktualitäten haben für uns Pandemiker von heute einen hohen Reiz. Nachdem die Pest im Jahre 1348 ihre Schneise geschlagen hat, beschreibt Baldassare Bonaiuti (67ff.) den Lockdown in seiner „Florentiner Chronik“: „Alle Werkstätten waren geschlossen, alle Wirtshäuser waren geschlossen, alles außer Gewürzhändler und Kirchen.“ Zu den Seuchengewinnlern zählt er die Kräuterhändler, die „unglaublich viel Geld verdient“ hätten. 

Was sich in den Schatzkammern der Renaissance finden lässt, bringt einen zum Staunen: Von den grandiosen Liebesgedichten Petrarcas bis zu erotischer Lyrik von Kardinälen und Staatsoberhäuptern, von Spekulationen über den Seeweg nach Osten zu Thesen über weiße Magie, die Würde des Menschen und Überlegungen zur Gleichwertigkeit von Mann und Frau. Auch Betrachtungen über das Alltagsleben eines Kaufmanns, die Heiratspläne einer Mutter, ein Festmahl zur Inauguration eines Papstes oder die Verbrennung Savonarolas sind im Band enthalten. Überraschungen finden sich zuhauf, darunter Fabeln Leonardo da Vincis, obszöne Briefe Machiavellis, eine Satire Ariosts, die ersten Ideen zum Denkmalschutz von Baldassarre Castiglione und Raffael. Wie aber liest man solch ein Großlesebuch? Man kann das Buch nach der Chronologie lesen, man kann die Registern nutzen, welche die Navigation in diesem dicken Buch erleichtern: Personen und Figuren, Orte und Institutionen, Themen und Dinge – oder man folgt Fortuna in die Schatzkammern einer unvergleichlichen Epoche.