Stichwort »Algorithmus«
Algorithmen – so heissen die heimlich-unheimlichen immergleichen Rechenprozeduren, die unsere digital gesteuerten Maschinen und Roboter am Werken und überhaupt unsere ganze digitale Welt am Laufen halten. Und die am Ende – so eine jüngste Horrorvision – , wenn sie immerfort noch hinzulernen, immer noch intelligenter werden, den Unterschied zwischen Roboter und Mensch vollkommen aufheben könnten. Bis dann einmal einer dieser algorithmisch gesteuerten Burschen einen von uns auf berlinerisch anraunzt: „Was? Tellijent wollen Sie sein? Ich will Ihnen sagen, was Sie sind: In-tellijent sind Sie!“
Eine irrlichterndes Stichwort: Das „Al-“ vorneweg deutet wie in der „Algebra“ aufs Arabische, die Endung „-us“ aufs Lateinische und das „th“ mittendrin aufs Griechische, und die drei Fingerzeige bekommen nacheinander allesamt Recht. Und schaut da nicht, klingt da nicht – es geht ja ums Rechnen – aus dem „-rithmus“ eine griechische „Arithmetik“ heraus? Ja wirklich, aber das ist erst das Ende dieser ostwestlichen Wortgeschichte, und kein Wunder: Was wir zuletzt hineingelesen haben, das schallt als erstes wieder heraus.
Am Anfang steht da der Name des grossen arabischen Mathematikers und Astronomen Muhammad ibn Musa oder vielmehr sein Beiname Al-Huwarizmi, „der aus Huwarizm – am Aralsee – Gebürtige“. Dieser Al-Huwarizmi oder, je nach Umschrift, Al-Chwarazmi oder Al-Khwarizmi hatte im frühen 9. Jahrhundert in Bagdad in einer kleinen Lehrschrift das Rechnen mit den indischen Zahlzeichen von der Null bis zur Neun erklärt. Drei Jahrhunderte später, im 12. Jahrhundert, machte eine lateinische Übersetzung von Spanien aus sein Rechenbüchlein und mit ihm diese nun „arabischen“ Zahlen erstmals im Abendland bekannt. Doch da begegnet der Name des alten, fernen Gelehrten gleich zu Anfang in arger Verdrehung: „Dixit Algoritmi: Laudes Deo ...“, „Algoritmi hat gesagt: Lob sei Gott ...“
Und dann wird aus dem Lehrer noch die Lehre selbst. In einer versifizierten Version des Rechenbuchs, die im 13. Jahrhundert von Paris aus weite Verbreitung fand, erscheint ein indischer König Algor als Erfinder der neuen Zahlzeichen und der
„Algorismus“ als Bezeichnung dieser neuen „Rechenkunst“. Die Titelzeile kündigt an: „Hinc incipit algorismus“, „Hier beginnt der Algorismus“, und das Poem beginnt: „Haec algorismus ars praesens dicitur, in qua / talibus Indorum fruimur bis quinque figuris: / 0, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1“, auf deutsch, geradeso holprig: „So heisst, ,Algorismus‘, die neue Rechenkunst, mit der / solche Figuren der Inder wir nutzen, zweimal fünf Schnörkel: / 0, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1.“
Spätestens, nachdem 1453 Konstantinopel an die Türken gefallen war und man im Westen wieder Griechisch sprach und verstand, fiel der Anklang dieses „Algoritmi“ oder „Algorismus“ an das griechische Wort arithmós, „Zahl“, und die arithmetiké téchne, die „Rechenkunst“, bedeutsam ins Ohr. Der sachliche Bezug schien die vermeintliche Wortverwandtschaft zu bestätigen, und die seit der Humanistenzeit obligate Schreibung mit einem griechischen „th“, diesem augenfälligen edlen Griechisch-Label, bekräftigte die verführerische Volksetymologie ein weiteres Mal. Ein Etymo-Etikettenschwindel: Da stand nun dreimal „Griechisch“ drauf und war doch gar kein Griechisch drin.
Die arabischen Zahlen haben sich im Westen erst im Lauf von Jahrhunderten durchgesetzt. Ihr erster Auftritt in einer römischen Inschrift war ein Notbehelf. Auf der Grabplatte des 1455 in Rom verstorbenen, in der Kirche S. Maria sopra Minerva am Pantheon bestatteten Florentiner Malers Fra Angelico bot die eine Inschriftzeile am Fuss für Namen und Ruhmesprädikat, Vaterstadt, Ordensbruderschaft und das Todesjahr 1455 nur knappsten Raum. Da schnitt der Steinmetz für die Jahrhunderte anstelle des altrömischen „M CCCC“ ein erstes „14“ in den Stein. Mit der 55 liess sich kein Raum mehr gewinnen; so steht da jetzt als Todesjahr ein kühn aus neuen und alten Zeichen, Stellenwert und Zeichenwert gemischtes „14LV“.
Stichwort »Arktis«
Die Wortgeschichte der „Arktis“ beginnt weitab von den Eiskappen im Norden und Süden an einem glutheissen Ort: in der Olympischen Schmiedewerkstatt des Hephaistos. Da fertigt der Götterschmied, in Homers „Ilias“, eine kunstvolle Rüstung für Achilleus und bildet auf dem grossen Schild die ganze Menschenwelt ab, vorweg als erstes Erde, Himmel und Meer, Sonne, Mond und Sterne: „... Die Plejaden und die Hyaden und die Kraft des Orion und die Bärin – griechisch: Arktos –, die sie auch ,Wagen‘ mit Beinamen nennen, die sich an ein und demselben Ort dreht und nach dem Jäger Orion späht und allein nicht teilhat an den Bädern im Okeanos.“ Der „Grosse Bär“ ist also eine Bärin, und kein Wunder, dass sie den Jäger in ihrem Rücken nicht aus dem Auge lässt.
Ovid erzählt die wechselvolle Geschichte dieser Bärin in seinen „Metamorphosen“, „Verwandlungen“: Der Göttervater Zeus hat sich mit der Jägerin Kallisto en passant auf einer Waldlichtung vereinigt. Als sie einen Sohn, Arkas, den Namensheros Arkadiens, gebiert, verstösst die jungfräuliche Artemis sie aus ihrem Gefolge, und die eifersüchtige Hera verwandelt diese „Schönste“ in eine Bärin mit schwarze Zotteln, krummen Krallen und einem garstigem Maul. Der Sohn wächst heran; als er bei einer Bärenjagd unversehens der verwandelten Mutter begegnet, entrückt Zeus die einstige Geliebte an den Sternenhimmel, was Hera nun vollends empört: Sie taucht zu den Meeresgöttern hinab und verlangt, dass dieser verstirnten Bärin das Bad im Okeanos für immer versagt bleibe.
Der weitere Weg dieses zweigeschlechtlichen griechischen árktos, „Bär, Bärin“, führt vom Mythos in die hellenistische Wissenschaft und zuletzt noch mitten hinein in den aktuellen klimapolitischen Diskurs. In der eigentlichen Bärenwissenschaft, der Zoologie, begegnet nur noch eine schwach ausgeprägte Wörterfährte wie die systematische Bezeichnung Ursus arctos arctos für den Braunbären und den Ursus arctos horribilis für den Grizzlybären.
Den stärksten Abdruck hat diese „Bärin“ in der Geographie hinterlassen. Wer als erster den Norden statt nach dem Nordwind Boreas nach dem Grossen Bären benannt hat, bleibt im Dunkeln. Schon im 5. Jahrhundert v. Chr. hatte Herodot von einer Weltgegend „unter der Bärin“ gesprochen. Eine fälschlich unter dem Namen des Aristoteles überlieferte hellenistische Schrift „Über die Welt“ spricht noch von einem „sogenannten“ arktikós pólos, einem „bärischen Pol“, und einem „sogenannten“ ant-arktikós pólos, einem „gegenbärischen Pol“. In der Folge hat diese weitverbreitete, bereits im 2. Jahrhundert n. Chr. und mehrfach im Mittelalter ins Lateinische übersetzte Schrift dieser bildlichen Bezeichnung allgemeine Anerkennung verschafft.
In der Antike und im Mittelalter war es bei den Adjektiven „arktisch“ und „antarktisch“ geblieben. Die „Arktis“ für die Region „unter der Bärin“ und die „Antarktis“ für die Region „gegenüber der Bärin“ sind, so griechisch sie ins Ohr fallen, doch erst neuzeitliche Ausprägungen; wahrscheinlich ist das Platonische utopische Atlantis dafür das Muster gewesen.
Dass jene himmlische Bärin, die selbst „nicht teilhat an den Bädern im Okeanos“, von dort oben auf munter im eisigen Wasser sich tummelnde irdische Bären, Eisbären der Art Ursus maritimus hinabschaut, hat sich die griechische und überhaupt die antike Tierkunde noch nicht träumen lassen. Erst im 11. Jahrhundert wusste der gelehrte Chronist Adam von Bremen in einer frühen Landeskunde „Nordmanniens“ von „weissen Mardern und Bären von derselben Farbe“ zu berichten, die dort auf dem Eis und im Eismeer unter der Grossen Bärin lebten. Da mag mancher seiner Leser ungläubig den Kopf geschüttelt und sich gefragt haben, was für einen Riesenbären dieser Bremer Domherr ihm da aufgebunden habe.
Stichwort »Kanapee«
Dass Königin Berenike II. von Kyrene, die Gattin Ptolemaios’ III. von Ägypten, über die ihr zu Ehren benannte Hafenstadt Berenike, heute Benghasi, und einen nach diesem Herkunftsort benannten Lack veronice, vernice, vernis, „Firnis“, den Gemälde-Vernissagen des 19. Jahrhunderts den Namen gegeben hat, ist schon abenteuerlich genug. Aber dass die heute auf solchen Vernissagen, sozusagen Bilder-„Firnissungen“, zum Prosecco gereichten Wildlachs- und Crevetten-, Tatar- und Roastbeef-Kanapees gleichfalls altgriechischen und gleichfalls ägyptischen Hintergrund haben, das ist eine schier noch abenteuerlichere Geschichte, und eine Stechmücke hat das Stichwort dazu gegeben.
Im zweiten Buch seines Geschichtswerks berichtet Herodot, wie die Ägypter sich vor der Mückenplage schützen: Die in den höheren Regionen bleiben auf ihren Wohntürmen von Stichen verschont, weil die Mückenschwärme wegen der starken Winde so hoch nicht hinauffliegen; die in den niederen Regionen haben keine Wohntürme und helfen sich auf andere Weise: „Jeder von ihnen besitzt ein Netz – ein amphíblestron –, mit dem er am Tag auf Fischfang geht, und in der Nacht gebraucht er es so: Er stellt das Netz über seinem Bett auf und dann schlüpft er am Abend hinein und schläft darunter. ... Und durch dieses Netz versuchen die Mücken gar nicht erst zu stechen.“
Das griechische Wort amphíblestron stellt ein „beidseits“ zur Linken und zur Rechten „ausgeworfenes“ Fischernetz vor Augen und an dieser Stelle zugleich ein „beidseits“ über zwei oder vier Bettpfosten „ausgeworfenes“ Mückennetz. Spätere Au-
toren bezeichnen ein solches Mückennetz nach der Stechmücke, griechisch kónops, als ein konópion, ein „Mückennetz“, und in der Folge schwärmt dieses Mückenwort munter in die Bettenwelt aus.
Zunächst überträgt es sich von dem schützenden Netz auf das ganze so geschützte „Mückenbett“ mit seinen hohen Pfosten an Kopf- und Fussende und dem darüber hingebreiteten Netz, und dann überträgt es sich weiter – die Mücken haben sich inzwischen irgendwohin verflogen – auf ein Prunkbett mit vier hohen Säulen zu Häupten und zu Füssen und speziell auf den prächtigen Baldachin darüber.
Von einem solchen konópion der besonderen Art lesen wir in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der Septuaginta, in der Erzählung von Judith und Holophernes: „... und sie führten Judith in das Feldherrnzelt hinein. Und da lag Holophernes; er ruhte auf seinem Lager unter dem Baldachin – dem konópion –, und der war von Purpur, und Goldplättchen und Smaragd und andere kostbare Steine waren darein eingewoben.“ Und als Judith ihm dann den Kopf abgeschlagen hat, „wälzte sie seinen Leib von der Bettstatt hinunter und nahm den Baldachin – das konópion – von den Säulen herab, und bald darauf ging sie hinaus und übergab ihrer Dienerin den Kopf des Holophernes.“ Nur die engstirnigsten Etymologen oder Entomologen können bei dieser Schilderung noch an eine Stechmücke denken.
Bei den Augusteischen Dichtern wird das griechische Wort zur Chiffre für das extravagante Leben und Treiben des Staatsfeindes Antonius und der Kleopatra am ägyptischen Königshof. Horaz empört sich bei der Vorstellung, das „schändliche conopium“, das Pracht- und Prunkbett, Schimpf- und Schandbett dieser beiden unter römischen Feldzeichen aufgestellt zu sehen; den etwas jüngeren Properz schaudert es bei dem Gedanken, die „königliche Dirne aus dem verderbten Canopus“ hätte ihr „abscheuliches conopium“ auf dem Kapitol aufstellen können. Der Anklang des Wortes an den Namen des Sündenbabels Canopus an der Mündung des westlichsten Nilarms kam dem Dichter noch gut zupass.
Über das Französische hat das alte griechische Wort seinen Weg in die Gegenwart gefunden. Im hohen Mittelalter begegnet ein französisches conopé im Sinne eines die Sicht verwehrenden Bettvorhangs; in der Zeit König Ludwigs XIV. ist ein canapé im Sinne eines – nun unverhüllten – Ruhesofas gebräuchlich geworden und bald auch ins Deutsche übergegangen. Aber erst die jüngste Übertragung von diesen üppig gepolsterten Louis XIV-Kanapees auf die üppig mit allerlei Köstlichkeiten „gepolsterten“ Traiteur-Kanapees hat das Wort weltweit geläufig werden lassen. „Pikant belegte und garnierte Weissbrothäppchen“, erklärt das DudenFremdwörterbuch. Pikant? Da können die griechischen kónopes aus dem alten Ägypten doch bloss lachen.
Seite 69 Kanapee: Herodot 2, 95, 1ff. – Septuaginta, Judith 10, 21 und 13, 9 – Horaz, Epoden 9, 15f. – Properz, Elegien 3, 11, 39ff.