Packer, James E. / Gorski, Gilbert J., Das Forum Romanum.
Aus dem Engl. von Cornelius Hartz und Jörg Fündling 2017.
464 S. mit 307 vorwiegend farb. Abb., Kt. und Graf., Bibliogr. und Reg., 30,5 x 23 cm, geb. mit SU im Schmuckschuber.
WBG, ISBN 978-3-534-26949-5, Darmstadt 2017, 179,00 € (für Mitglieder)

Wenn mein Latein- und Griechischlehrer uns Schülern im Oberstufenunterricht eine Freude machen und seinen Unterricht anschaulich gestalten wollte, dann brachte er einen Bildband von zu Hause mit in die Schule, der dann aufgeschlagen durch die Reihen ging oder uns im Halbkreis sitzend gezeigt wurde. Oft kam das nicht vor.
Ein Bildband, der ohne Zweifel das Zeug hat für einen dauerhaften Platz im Lateinunterricht der Mittel- und Oberstufe, ist der soeben erschienene monumentale Band von James E. Packer und Gilbert J. Gorski über das Forum Romanum, ein mit Preisen (PROSE Award for Excellence in Humanities 2016 und PROSE Award for Archaeology and Ancient History 2106) ausgezeichnetes Buch. Spektakulär sind die rund 150 eigens angefertigten 3D-Rekonstruktionen, die das Forum Romanum eindrucksvoll zum Leben erwecken. Bücher, bei denen Aufnahmen des rudimentären Jetzt-Zustands durch einige auf Folien gezeichnete Rekonstruktionen in Farbe kontrastiert werden, gibt es (für den Rombesucher) seit Jahrzehnten. Neue technische Möglichkeiten und neue wissenschaftliche Erkenntnisse aber führen hier zu einer völlig neuen Qualität.
James E. Packer ist emeritierter Professor für klassische Archäologie und Philologie an der Northwestern University in Illinois. Im Laufe seiner akademischen Karriere veröffentlichte Packer zahlreiche Bücher, u.a. ein dreibändiges Standardwerk zum Trajansforum in Rom. Zusätzlich verfügt James E. Packer über jahrzehntelange Erfahrung mit 3D-Rekonstruktionen antiker Stätten. (Als wir vor Jahren die Webseite des DAV neu konzipierten und dafür eine seiner Rekonstruktionszeichnungen verwenden wollten, gab James E. Packer uns in einem liebenswürdigen Schreiben sogleich die Erlaubnis dazu).
Gilbert J. Gorski ist ein erfahrener Architekt und Experte in den Bereichen architektonische Illustrationen und 3D-Rekonstruktionen. Für seine herausragenden architektonischen Zeichnungen und Entwürfe erhielt er mehrfach Preise der American Society of Architectural Illustrators und des American Institute of Architects. Er ist Lehrstuhlinhaber für Architektur an der University of Notre Dame in Indiana.
Das Forum Romanum war das politische, wirtschaftliche und religiöse Herz des alten Rom, von dem aus die Geschicke eines ganzen Weltreichs gelenkt wurden. Noch heute ist es eine der bekanntesten Stätten der klassischen Antike. Die bruchstückhafte Erhaltung der Bauten und zweieinhalbtausend Jahre Baugeschichte inclusive Grabungsgeschichte machen es dem heutigen Betrachter – selbst dem nicht ganz unkundigen – schlicht unmöglich, sich seine einstige Pracht vor Augen zu führen.
Die Autoren gehen von dieser Erkenntnis aus, die sich bei jedem Forum-Besucher angesichts der langen Geschichte dieses Areals und des gegenwärtigen Zustands einstellt: Touristen sehen dort bestenfalls Fragmente von Fundamenten längst verschwundener Gebäude aus verschiedenen Epochen der römischen Geschichte; viel von dem, was man hier sieht, stammt aus frühchristlicher Zeit, aus dem Mittelalter, Renaissance und Barock und aus dem 19. und 20. Jahrhundert, es gibt zudem diverse Rekonstruktionsversuche und Umbauten. Von den Millionen Touristen, die Jahr für Jahr diesen Ort besuchen, nehmen die meisten nur eine vage Vorstellung davon mit, wie die Ruinen, die sie dort sehen, in der Antike einmal tatsächlich aussahen.
In diesem Buch ist das anders. Die beiden Autoren beginnen ihre Erkundung des Forum Romanum mit einem geschichtlichen Abriss (Teil I, 3–66): Das Forum Romanum in der Kaiserzeit. Beschrieben wird der Wiederaufbau unter Augustus und der Zeitraum von Tiberius bis Phokas (14–608 n. Chr.). Achtzehn markante Bauwerke werden sodann im Teil II (67–334) vorgestellt, jeweils gegliedert in Angaben zu ihrer Geschichte und Erklärungen zur architektonischen Struktur. Das sind der Tempel des Antoninus Pius und der Faustina, der Tempel des Caesar, die Basilica Aemilia, die Curia, der Bogen des Septimius Severus, kleinere Bauten wie Rostra, Umbilicus Urbis Romae und Miliarium Aureum Urbis Romae, ferner der Tempel der Concordia, der Tempel des Vespasian, das Tabularium, die Portikus der Dei Consentes, der Tempel des Saturn, die Basilica Julia, der Bogen des Tiberius, die Schola Xanthi, die Diokletianischen Ehrensäulen, der Tempel der Dioskuren, der Partherbogen des Augustus und der Tempel der Vesta. Den Band beschließt Teil III (335–362), überschrieben mit: Schlussfolgerungen, bezogen auf das Augusteische Forum sowie das Flavische, Antoninische, Severische und Diocletianische Forum. Die sorgsame Pflege der Foren und die antiken Einstellungen zu diesem städtischen Raum endeten, als die Byzantiner 555 n. Chr. Rom zurückeroberten. In die Basen der Ehrensäulen wurden kleine Läden eingebaut, aus manchen Bauten wurden Kirchen, in andere Monumente baute man Häuser, später wurden die Denkmäler des Forums, inzwischen wertvoller Besitz der Päpste, als Steinbruch ausgebeutet. Eine Generation nach der anderen verwendete den übrig gebliebenen Marmor für Neubauten oder brannte ihn zu Kalk, deckte die Ruinen meterweise mit Schutt zu, wobei auch das Hochwasser des Tiber half, und überbaute sie, wodurch die Reste fast vollständig begraben wurden.
Ein Glossar mit Illustrationen zu archäologischen Begriffen, eine Übersicht der Marmor- und Gesteinsarten, ein sehr umfangreicher Anmerkungsteil, eine ausführliche Bibliographie und ein Register fördern die Arbeit mit diesem Buch.
Das Buch verfolgt zwei Ziele: es werden erstens die Beziehungen der verschiedenen Gebäude des Forum Romanum zueinander und zur architektonischen Entwicklung des Forums während der Kaiserzeit untersucht. Zweitens werden in topographischer Reihenfolge die Geschichte und der Charakter der einzelnen Gebäude präsentiert. Die Geschichte dieser Bauwerke erstreckt sich über mehrere Jahrhunderte, die meisten mussten mehrmals wieder aufgebaut werden. So wie Yadegar Asisi für sein Rom-Panorama1 das Jahr 312 gewählt hat (übrigens hat auch G. Gorski dieses Datum auf S. 334 opulent ins Bild gesetzt), mit dem Einzug des Kaisers Konstantin in Rom sogar auf den Tag datierbar, den 27.10.312, den freilich schon die Vorgänger Asisis, Josef Bühlmann und Alexander von Wagner 1888 für ihr Münchner Rom-Panorama gewählt hatten, so greifen Gorski und Packer auf das Jahr 360 zurück. Sie folgen dabei dem Vorbild des Architekten Italo Gismondi, dem Schöpfer des berühmten Gipsmodells des alten Rom im Museo della Civiltà Romana; zu jener Zeit standen alle berühmten Gebäude noch, der Tempel des Saturn war nach einem Brand gerade wieder aufgebaut worden, und die meisten anderen Gebäude waren noch in einem guten Zustand.
Für ein Buch dieser Art seien Bilder (des Originalzustands) unverzichtbar, ist im Vorwort zu lesen. Richtig! Die besten Bilder von Bauwerken des Forums – als Ruinen wie als architektonischen Rekonstruktionen – stammten von jungen französischen Architekten der École nationale supérieure des beaux-arts. Anderthalb Jahrhunderte lang (1819-1968) zeichneten sie im dritten Jahr ihres Aufenthalts in der Villa Medici in Rom Pläne und Skizzen eines zerstörten Bauwerks und fertigten eine Rekonstruktion des ursprünglichen Aussehens an, zahllose großartige Aquarelle und bemerkenswerte Kunstwerke, die in der Pariser École des beaux-arts archiviert werden. Die präzisen, farbenfrohen Zeichnungen seien jedem Betrachter sofort zugänglich und weckten automatisch sein Interesse an Architektur. Die Autoren betonen, dass ihr Buch von solchen Darstellungen durchaus hätte profitieren können, doch traditionelle Aquarelle anfertigen zu lassen, hätte jeden zeitlichen und monetären Rahmen gesprengt. „Glücklicherweise gibt es große Fortschritte in der Computertechnik. Mithilfe spezieller Hard- und Software konnten wir innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums zahlreiche Bilder” – oft mehrfach überarbeitet und als Ergebnis langwieriger archäologischer Diskussionen – „erstellen, die in archäologischer Hinsicht aktuell sind und, wie wir hoffen, auch die französischen Architekten überzeugt hätten” (Vorwort, S. 17).
Fragen bleiben dennoch; so wird darauf verzichtet zu zeigen, welche Teile bei einer Rekonstruktion erhaltene Teile sind und welche ergänzt wurden. Ein weites Feld ist die zumindest teilweise Farbigkeit der Gebäude bei den Römern. Für die korrekte Positionierung der Gebäude wurden Satellitenfotos herangezogen, ebenso Luftaufnahmen und die Unterlagen in den Archiven der Soprintendenza Speciale per i Beni Archeologici di Roma. Zu jedem Bauwerk gibt es maßstabgerechte Zeichnungen (manche Gebäude entsprechen ja heutigen zehnstöckigen Gebäuden!): einen detaillierten Plan, Front- und Seitenansichten, perspektivische Ansichten und Details zur architektonischen Ordnung.
Nahezu jede Gebäudebeschreibung beginnt mit der Vorstellung des Bauherren und Namensgebers (etwa beim Tempel der Dioskuren, S. 285 ff) oder der Darstellung eines spezifischen historischen Geschehens (etwa beim Bogen des Tiberius zu den Hintergründen der Katastrophe im Teutoburger Wald, S. 261 ff), teils mit längeren Zitaten aus literarischen Quellen. Auch auf besondere Ereignisse im Umfeld eines Gebäudes weist James E. Packer sachkundig hin. Die meist sehr abwechslungsreiche Geschichte der Gebäude ist plausibel gegliedert, etwa in Frühe Republik, Späte Republik und Kaiserzeit, in Zerstörung und spätere Geschichte, Mittelalter und Neuzeit, Ausgrabungen im 19. und 20. Jahrhundert und Moderne Rekonstruktionen. Friese, Dekorationen und Reliefs werden detailliert beschrieben, Inschriften wiedergegeben und rekonstruiert, Statuen oftmals anhand von Münzabbildungen ins Bild gesetzt. Ganz ausgezeichnet sind die vielen Verweise auf Abbildungen innerhalb des ganzen Buches. Plötzlich werden auch die vielen Architekturelemente lebendig (fotografiert von G. Gorski), die verstreut auf dem Forum herumliegen oder in Museen aufgestellt sind, und hier quasi zum Sprechen gebracht werden, wenn es etwa um eine Fassadenfront oder die Bestimmung von Dimensionen geht. Aus dem Computer von G. Gorski stammen auch zahllose Grundrisse, rekonstruierte Fassaden und Seitenansichten, welche die Dimensionen genau wiedergeben.
G. Gorski steuert Umzeichnungen der Relieftafeln von Bögen bei und auch Fotos von Italo Gismondis Modell der Stadt Rom, natürlich greifen die Autoren vielfach auf Zeichnungen des DAI Rom, des Istituto Nazionale di Studi Romani und anderer Archive, Museen und numismatischer Sammlungen zurück. Beeindruckend sind Ganz- und Detailansichten von Gebäuden in möglicher Farbgebung (z.B. 145). Prächtig sind natürlich die von G. Gorsky erstellten fast durchwegs ganzseitigen kolorierten Rekonstruktionszeichnungen und Gebäudeansichten (Tafel 4, Forum, Blick in Richtung Südwesten, S. 346f ist gar doppelseitig), von denen zu hoffen ist, dass sie bald in Lehrbüchern für den Lateinunterricht in möglichst großem Format auftauchen.
Im Abschnitt III – Schlussfolgerungen – stellen die Autoren die Baukonzeption unter Augustus vor: „Obwohl bei einem flüchtigen Blick auf den Plan des Forums nicht erkennbar, zeigen sich doch die durchdachten inhaltlichen und räumlichen Beziehungen zwischen den Neubauten des Augustus am deutlichsten, wenn der antike Besucher das Forum zu Fuß erkundete” (336). Alle Bauten, die Augustus als Ersatz für die alten stuckierten Gebäude der Republik errichtete, waren aus weißem Marmor – mal italisch, mal griechisch – mit zahlreichen gemalten Akzenten. Nur die Innenwände und die Fußböden zeigten den üppigen Buntmarmor, der in letzter Zeit bei den reichen Oberschichten so attraktiv geworden war. Die neuen Materialien und deren Beliebtheit stammten hauptsächlich aus den großen hellenistischen Hauptstädten des Ostens, jenen Orten, an denen die Prototypen für die Architekturordnungen auf dem Forum populär wurden. Bei fast allen neuen Tempeln ersetzte die korinthische Ordnung ihre bis dahin vorherrschende ionische Rivalin. (S. 348f). Das von Augustus umgestaltete Forum, ein völlig neues Architekturensemble, war visuell so gelungen, dass keiner seiner iulisch-claudischen Nachfolger nennenswert etwas daran änderte.
Erst Vespasian begann damit, den im Großbrand unter Nero zerstörten Tempel der Vesta neu zu bauen, Titus und Domitian widmeten ihrem Vater ein Heiligtum neben dem Tempel der Concordia. Die geglückten Proportionen des Neubaus demonstriert G. Garski überzeugend durch die Gegenüberstellung zweier Ansichten, einmal aus dem Jahr 14 n. Chr. und dann aus dem Jahr 98 n. Chr. mit dem Tempel für Vespasian (S. 355), ein Verfahren, das er häufiger bei seinen Rekonstruktionen anwendet (vgl. 240f., 251f., 357, 359f.). Septimius setzte mit mehreren Projekten die diskrete, konservative Linie seiner Vorgänger gegenüber den Monumenten des Forums fort. Erst sein Triumphbogen stand in krassem Gegensatz zu Entwurf und Dekor der augusteischen Bauten. Der Überreichtum an Skulpturen in leuchtenden Farben (vgl. zwei Farbentwürfe S. 145), eine Neuheit auf dem Forum, brachte einen Missklang in die verhaltene altmodische Dekoration. Seine Riesengröße verdeckte von der Mitte des Forums aus gesehen einen Großteil der Fassade des Concordia-Tempels; überdies muss es einem Betrachter schwer gefallen sein, irgendein anderes Gebäude auf dem Forum wahrzunehmen, wenn das helle Licht der aufgehenden Sonne das Statuengewimmel oben auf dem Monument traf, die Buchstaben der überlangen Inschrift der Ostattika ausleuchtete und blendend auf den vergoldeten Bronzeelementen der darunter angebrachten Reliefs schien. Als Diocletian an die Macht kam, waren im großen Feuer von 283 n. Chr. mehrere Gebäude um den Platz niedergebrannt. Die Curia und die Basilica Aemilia mussten gründlich repariert, die Basilica Iulia wiederaufgebaut werden. Die sog. Phokassäule ist das wichtigste Monument des Diocletian. G. Gorski beeindruckt wiederum mit zwei ganzseitigen Rekonstruktionszeichnungen (S. 359f), die erste datiert in das Jahr 380 n. Chr., die zweite in das Ende des 6. Jahrhunderts mit deutlichen Anzeichen des Verfalls und Hirten mit ihren Schafen vor der immer noch beeindruckenden Kulisse des Areals, das über Jahrhunderte das pulsierende Herz der römischen Welt war.
Bisweilen wird man von einem Referendar oder Kollegen gefragt, woher man die vielen kleinen Geschichten habe, mit denen man den Lateinunterricht auflockern kann. Die Antwort überrascht nicht: aus Büchern wie diesem Prachtband von Gilbert J. Gorski und James E. Packer. Angesichts der vielen Stunden, die man im Lateinunterricht quasi auf dem Forum Romanum verbringt, lohnt es sich, die wechselvolle unendliche Geschichte dieser Gebäude nachzulesen, gleich ob Curia, Basilica Aemilia, Septimius Severus-Bogen, Saturn-, Dioskuren- oder Vestatempel.
Informationen zur Originalausgabe bei Cambridge University Press mit zahlreichen beeindruckenden Abbildungen hier: http://assets. cambridge.org/97805211/92446/frontmatter/9780521192446_frontmatter.pdf cambridge.org/97805211/92446/frontmatter/9780521192446_frontmatter.pdf (22 Seiten)
Charakterköpfe. Griechen und Römer im Porträt,
Katalog zur Ausstellung in den Staatlichen Antikensammlungen und Glyptothek München,
hrsg. von Florian S. Knauß und Christian Gliwitzky, Hirmer Verlag München 2017, 424 Seiten, 850 Abbildungen in Farbe,
ISBN 978-3-7774-2954-0, Ladenpreis: 39,90 € (D)

Diesen opulenten Katalog müssen Sie in ihre nächsten Ferien mitnehmen. Es sollten nicht zu wenige Ferientage sein, denn der Band wiegt schwer, ist recht umfangreich und bietet zu den vielen Abbildungen eine Menge Lesestoff. Versammelt ist die Crème de la Crème der antiken Welt in Porträts. Amüsant liest es sich, wie das ein oder andere Stück seinen Weg nach München gefunden hat: Im Oktober des Jahres 1811 machte sich Johann Georg von Dillis, der Kunstagent des Bayerischen Kronprinzen und späteren Königs, Ludwigs I., von München aus auf den Weg über die Alpen. In Verona stand eine der ältesten Antikensammlungen Italiens zum Verkauf. Dillis ging mit gehöriger Skepsis auf die Reise, weil er die Gefahr für zu groß hielt, dass man sich neben einigen schönen Stücken auch jede Menge kostspieliger Ausschussware einhandelte. Schon nach der ersten Begutachtung fanden sich nach dem Urteil des Kunstagenten so viele „vortreffliche” und „ausgezeichnet schöne” Skulpturen in der Sammlung Bevilacqua, dass man die wenigen „schlechten” Objekte mühelos verschmerzen konnte. Nach dem bald erfolgten glücklichen Ankauf wurden einige römische Porträtbüsten mangels ausreichender Qualität zunächst in Verona zurückgelassen, bis Leo von Klenze, der Baumeister Ludwigs I., sich ihrer erinnerte, als er händeringend nach Antiken suchte, mit denen man die noch bestehenden Lücken in den Ausstellungssälen der Glyptothek schließen könnte. Die Büsten wurden dann übrigens in dunklen Ecken des Museums aufgestellt, damit ihre vorgebliche künstlerische Dürftigkeit nicht zu sehr ins Gewicht falle.
Die Aufstellung der Antiken etwa im Römersaal kommt heute natürlich ohne dunkle Ecken aus, auch das vernichtende Urteil über die erwähnten Bildnisse hat sich grundlegend geändert. Ludwig I. und seinen kongenialen Helfern Martin von Wagner und Leo von Klenze aber verdankt München die so großartige Sammlung griechischer und römischer Porträts. Die Glyptothek ist Münchens ältestes öffentliches Museum und das einzige Museum auf der Welt, das allein der antiken Skulptur gewidmet ist. Der Name „Glyptothek“ ist ein modernes Kunstwort. Es ist gebildet aus den altgriechischen Wörtern „glyphein“ (meißeln) und „theke“ (Ablage), bezeichnet also einen Aufbewahrungsort für Skulpturen. Hier werden griechische und römische Marmorstatuen von höchster Qualität in einem räumlichen Ambiente präsentiert, das jeden Besucher fasziniert, weil es einen idealen Rahmen für die Kunstwerke schafft: Vor den schlichten Ziegelmauern der eingewölbten Museumssäle, deren Architektur an römische Thermengebäude angelehnt ist, stehen die Antiken frei im Raum. Große Fenster, die die Wände bis zum Boden auf den Innenhof des Vierflügelbaus hin öffnen, sorgen für eine durchgehende Beleuchtung mit Tageslicht. An sonnigen Tagen kann man die Marmorfiguren deshalb in einer Atmosphäre erleben, die selbst an ihren originalen Aufstellungsorten in Heiligtümern oder auf Marktplätzen antiker Städte nicht eindrücklicher gewesen sein kann.
„Griechen und Römer im Porträt”: Das französische Lehnwort Porträt – man verwendet heute synonym den Begriff Bildnis – leitet sich vom Verb „protrahere” ab, wörtlich „hervorziehen” im Sinne von „ans Licht bringen”. Viele Porträts bringen tatsächlich individuelle Züge ans Licht und ziehen den Betrachter mit ihrer ausdrucksstarken Physiognomie in den Bann. Erstmals in der frühklassischen Zeit des 5. Jahrhunderts v. Chr. wagten griechische Künstler den Schritt zum individualisierten Abbild von Menschen. Freilich waren diesen Porträts nicht einfach getreue Wiedergaben der Realität. Porträts dieser Zeit boten durch Typisierung und Verwendung idealer Gestaltungselemente ein künstlerisch geformtes Bild der jeweiligen Person, welches das Selbstverständnis des Auftraggebers vermitteln und nachhaltigen Eindruck beim Publikum erzielen sollte.
In der griechischen Klassik werden charakteristische, die Einzelperson von anderen unterscheidende Merkmale ins Bild gesetzt, um einen bestimmten Menschen unverwechselbar kennzeichnen zu können. Und: das Porträt zielte bei den Griechen von vorneherein auf öffentliche Wirkung. Es waren Porträts von Politikern und Feldherrn, von Dichtern und Philosophen und der eigentliche Zweck der Porträtkunst bestand darin, den jeweils Dargestellten in besonderer Weise zu ehren, seine Verdienste für das Gemeinwesen herauszustellen und die Erinnerung an seine Taten zu bewahren.
Mit den Eroberungen Alexanders des Großen erfuhr der Wirkungskreis griechischer Kunst und Kultur eine ungeahnte Ausdehnung. Fortan ging es den Bildhauern jetzt weniger um die Darstellung vollendeter Körper und vorbildlicher Tugendhaftigkeit. sondern darum, den einzelnen Menschen in ganz bestimmten Lebenssituationen zu zeigen, mit all seinen Gefühlen, bisweilen sogar in all seiner körperlichen Unvollkommenheit.
Bei den Römern erlebt die Porträtkunst einen einzigartigen Aufschwung und nimmt noch vor der Sarkophagplastik und den historischen Reliefs den ersten Rang ein. Die griechische Skulptur der klassischen und hellenistischen Zeit wurde bei den Römern ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. intensiv rezipiert. Im öffentlichen Raum wie im Privathaus wimmelte es nur so von Kopien der gefeierten Statuen aus den Händen der bedeutendsten griechischen Bildhauer wie Phidias, Polyklet, Praxiteles oder Lysipp. Gleiches galt für die Porträts der griechischen Herrscher, Politiker, Feldherren, Dichter und Philosophen - ausgestellt bisweilen in veritablen Bildnisgalerien - ergänzt durch die nach und nach länger werdende Reihe verdienter römischer Magistrate und Imperatoren. Die Vorliebe für Porträts wurde durch den Ahnenkult der Römer stark gefördert.
Mit der Einführung der Monarchie in Rom änderte sich das Anforderungsprofil für die Selbstdarstellung der römischen Machthaber erheblich. Nun ging es darum, ein dauerhaft gültiges, wenn möglich zeitloses Porträt zu schaffen, das die Familienzugehörigkeit dokumentierte und den Herrscher gleichzeitig mit der Aura der Souveränität und anhaltenden Vitalität umgab. Der Porträttypus eines Kaisers konnte lange in Geltung bleiben, durch einen veränderten Porträttyp konnte der Kaiser auch neue programmatische Aussagen treffen. Kaiserbildnisse darf man allerdings nicht als reine Propagandamittel missverstehen, der jeweils gültige Zeitstil, die gerade vorherrschende Mode sowie das tatsächliche Aussehen des Dargestellten spielen eine Rolle.
Die Porträts von Angehörigen der Herrscherfamilie wirken wiederum stilbildend auf die Bildnisse ihrer Untertanen. Trajan, der 98 n. Chr. an die Macht kam, setzte sich in seinem Bildnis scharf von seinen flavischen Vorgängern ab. Die klaren Formen, ein fast hageres Gesicht und die schlichte Strähnenfrisur erinnern an das Porträt des Augustus, an den sich Trajan offensichtlich programmatisch stark anlehnte. Mit Hadrian, seinem Nachfolger, hielten dann die Bartmode und eine aufwendige Lockenfrisur Einzug in das Kaiserbild. Diese höfische Aufmachung verstärkte sich in den folgenden Jahrzehnten noch erheblich.
Caracalla (211–217) entwickelte eine völlig gewandelte Form der Selbstdarstellung, die für fast ein Jahrhundert stilbildend wurde: Kurzhaarfrisur, gestutzter Bart und energisch angestrengter Blick vermittelten seinem Porträt eine militärische Aura, ganz passend auch für die nachfolgenden Herrscher der Soldatenkaiserzeit. Von solchen Bildnissen setzte sich Konstantin der Große in seinem Porträt deutlich ab: er imitierte nämlich Augustus und Trajan, die „guten” Kaiser der Vergangenheit, und präsentierte sich dem Betrachter wie diese mit beruhigten, zeitlos jugendlich wirkenden Gesichtszügen sowie einer wohlgeordneten Strähnenfrisur.
Im 6. Jahrhundert riss die seit der griechischen Klassik bestehende Traditionslinie des wirklichkeitsnahen und individualisierten Bildnisses in Marmor oder Bronze endgültig ab. Erst im 13. Jahrhundert unter der Herrschaft des Staufenkaisers Friedrich II. ließen italienische Bildhauer bewusst antike Vorbilder wieder aufleben, verstärkt dann seit der Renaissance. Eine besondere Blüte erfuhr das antikisierende Marmor- und Bronzeporträt im Zeitalter des Klassizismus gegen Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Auch wenn die Antike den ganzen Körper abbildete; heute gibt es meist nur noch Köpfe aus Marmor oder Bronze. Ausdrucksstarke Physiognomien sind es allesamt, egal, ob es sich um Dichter und Denker, Fürsten oder Feldherrn handelt. Bildwürdig waren sogar Kinder, meist allerdings zur Erinnerung an früh verstorbene und, eher selten, Frauen-Darstellungen, bevorzugt von Kaisergattinnen. Sehr gut lässt sich der stilistische Wandel nachvollziehen, der nicht nur abhing von der Epoche, sondern auch dem jeweiligen Auftraggeber. Normale Sterbliche wurden häufig realitätsnah mit Falten oder Glatze verewigt wie der römische Politiker, während sich Herrscher äußerlich meist idealisieren ließen wie Alexander der Große. Dies hing auch davon ob, ob sich eine Persönlichkeit bereits zu Lebzeiten ein Denkmal schuf oder Künstler es posthum herstellten, es hing von der realen Bedeutung des Porträtierten ebenso ab wie vom Image, welches er, salopp gesagt, herstellen wollte.
Der gewichtige Katalog enthält sieben gut lesbare Fachartikel: Christian Gliwitzky, Von Volkshelden, Porträtisten und Kunstsammlern. Antike Bildnisse und ihre Geschichte – eine Einführung (10–27). – Florian S. Knauß, Das griechische Bildnis (28–89). – Christian Gliwitzky, Von echtem Schrot und Korn. Das römische Porträt spätrepublikanischer Zeit (90–141). – Jörg Gebauer, Vom Princeps zum Kaiser und Gott. Bildnisse der frühen Kaiserzeit (142–201). – Astrid Fendt, Militärs, Reisende, Philosophen und Tyrannen. Das römische Porträt in der Zeit der Adoptivkaiser (202–261). – Christian Gliwitzky, Soldatenkaiser und Herrscher von Gottes Gnaden. Porträts von den Severern bis in die Spätantike (262–319). – Anastasia Meintani, Wie aus dem Gesicht geschnitten. Porträts auf antiken Münzen und Gemmen (320–337). – Es folgt der Katalog mit 138 Nummern, Porträt für Porträt, meist mit mehreren Ansichten, kurz beschrieben mit Literaturangaben (339–404).
Das Rückgrat der Ausstellung bildet der reiche Schatz des Museums an qualitativ herausragenden antiken Marmorbildnissen. Hochkarätige Leihgaben aus großen archäologischen Sammlungen der Welt (u.a. Basel, Berlin, Kopenhagen, Neapel, New York, Rom, Trier, Wien) ebenso wie aus Privatbesitz ergänzen das durch die Meisterwerke der Glyptothek gezeichnete Panorama.
Die Ausstellung Charakterköpfe ermöglicht einen Rundgang durch 1000 Jahre Porträtgeschichte vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis ins 5. Jahrhundert n. Chr. Die wirklichkeitsnahe Darstellung menschlicher Gesichter zählt zu den großen Leistungen der antiken Bildhauerkunst. So erfuhr die Porträtkunst bei Griechen und Römern ihre erste große Blüte und fand zugleich bereits eine vollendete Form. Die Münchner Ausstellung macht gleichermaßen anschaulich, was uns mit der Antike verbindet, wie viel wir davon aufgenommen haben und was uns heute im 21. Jahrhundert auffällig unterscheidet. Das hat sich seit den Zeiten König Ludwigs I. in charakteristischer Weise verändert.
Schatten Roms. Der etruskische Bestand der Sammlung Ebnöther im Museum zu Allerheiligen Schaffhausen,
herausgegeben von Werner Rutishauser. Mit Beiträgen von Giacomo Bardelli, Maria Cristina Biella, Silva Bruder, Fritzi Jurgeit, Robinson Krämer, Raffaella Da Vela, Werner Rutishauser, Ursula Sattler, Joachim Weldig, Manuela Wullschleger, Emanuel Zingg, Philipp von Zabern Verlag, WBG Mainz 2017,
320 Seiten, 12 sw-Abildungen, 291 Abbildungen,
ISBN: 978-3-8053-5115-7, 59,95 €

Die Etrusker haben Hochkonjunktur: Im Pompejanum Aschaffenburg geht es noch bis 15. Oktober 2017 um „Die Etrusker – Von Villanova bis Rom”, das Archäologische Museum in Frankfurt/Main zeigt vom 14. Oktober 2017 bis 4. Februar 2018 die Ausstellung „Götter der Etrusker. Zwischen Himmel und Unterwelt” und das Museum zu Allerheiligen Schaffhausen präsentiert vom 23. September 2017 bis 4. Februar 2018 „Etrusker – Antike Hochkultur im Schatten Roms”. Anschließend folgt noch Karlsruhe mit der Ausstellung „Die Etrusker – Weltkultur im antiken Italien” vom 16. Dezember bis 17. Juni 2018 im Badischen Landesmuseum Schloss Karlsruhe. Die Zeitschrift Antike Welt stellte die Etrusker in Heft 4,2017 in den Mittelpunkt (mit fünf Beiträgen jener Autoren, die auch am Katalog der Schaffhauser Ausstellung maßgeblich beteiligt sind) und konstatiert: „In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit spielen die Etrusker als ,geheimnisvolles’ Volk der Antike schon lange eine Hauptrolle.”
Die letzte umfassende Etrusker-Schau in der Schweiz fand vor über 60 Jahren im Kunsthaus Zürich (1955) statt. Nun also Schaffhausen. Das Museum zu Allerheiligen gehört – das habe ich gelernt – zu den flächenmäßig größten Museen der Schweiz. Es liegt in der malerischen Altstadt von Schaffhausen, untergebracht im ehemaligen benediktinischen Kloster Allerheiligen. Das bedeutendste Museum der Region vereinigt Archäologie, Geschichte, Kunst und Naturkunde unter einem Dach. Die materielle Basis für die Ausstellung im Museum zu Allerheiligen bildet die dort aufbewahrte ehemalige Privatsammlung Dr. Marcel Ebnöther (1920–2008), die heute der Stadt Schaffhausen gehört. Deren etruskischer Bestand umfasst 235 Objekte und bietet eine solide Ausgangslage zur Darstellung nahezu aller relevanten Themenbereiche. Lücken der eigenen Kollektion werden mit sorgfältig ausgewählten Leihgaben aus schweizerischen, deutschen und dänischen Partnermuseen gefüllt. Gegliedert in vier Hauptblöcke Anfänge, Leben, Glauben, Nachklänge vermittelt die Ausstellung die in den vergangenen Jahrzehnten stark angewachsenen Erkenntnisse der Etruskologie auf leicht zugängliche Weise.
Die Etrusker zeigten eine verblüffende Offenheit, was die Aufnahme fremder Einflüsse betrifft. Sie übernahmen bekanntlich Technologien aus anderen Kulturregionen – etwa bei der Goldschmiedekunst, bei der sie eine eigene Meisterschaft entwickelten, sie fügten griechische Gottheiten und Heroen in ihr eigenes Pantheon ein (z.B. Herakles bzw. Hercle) oder adaptierten fremde Sitten, indem sie sie den eigenen Bedürfnissen anpassten, besonders ausgeprägt während der sog. orientalisierenden Epoche im 7. Jahrhundert v. Chr., als Etrurien vielfältige Impulse aus dem östlichen Mittelmeergebiet erreichten.
Der Verlag Philipp von Zabern hat zusammen mit dem Museum zu Allerheiligen Schaffhausen einen 320 Seiten starken Katalogband herausgebracht, von dem die Direktorin des Museums in ihrem Grußwort begeistert sagt: „Die kostbaren Leihgaben, insbesondere aus der Ny Carlsberg Glyptothek und dem Nationalmuseum Kopenhagen, werden nur kurze Zeit in Schaffhausen zu Gast sein. Es ist daher tröstlich zu wissen, dass dieses wunderbare Buch auch nach Abbau der Ausstellung weiterhin über das faszinierende Volk der Etrusker erzählen wird.”
Dem Katalogteil (22ff), in dem alle als etruskisch zu klassifizierende Objekte der Schaffhauser Sammlung von einem international zusammengesetzten jungen Forscherteam aufbereitet, abgebildet und beschrieben sind, gehen zwei einleitende Beiträge voraus. Werner Rutishauser stellt den „Sammler Dr. Marcel Ebnöther und die Etrusker” (9ff) vor, Maria Christina Biella schreibt über „Die Etrusker – Grundzüge ihrer Geschichte und Kultur” (13–21).
Die Etrusker gelten als eines der innovativsten Völker der Antike und haben lange vor den Römern die erste große Zivilisation Italiens geschaffen. Dank üppiger Metallvorkommen, einer blühenden Landwirtschaft und florierendem wirtschaftlichem und kulturellem Austausch mit anderen Mittelmeerkulturen entwickelten sich die Etrusker zu einem der prägendsten Völker der Antike. Die Aura des Geheimnisvollen, die dieses Volk seit der Antike umgibt, mag damit zusammenhängen, dass ihre Sprache, die nicht indoeuropäischen Ursprungs ist, bis heute nur begrenzt verständlich ist. Ihre Kultur ist durchdrungen zunächst von orientalischen, später auch griechischen Elementen, die sie aufnahmen, neu interpretierten und in eigener Ausprägung verarbeiteten. Neuerdings wird der Austausch mit Kulturen des prärömischen Italien stärker beachtet. Die Nekropolen von Tarquinia und Cerveteri stehen auf der Liste des UNESCO-Welterbes. Das Siedlungsgebiet der Etrusker ist ein an Ressourcen besonders reiches Territorium.
In der Etruskologie hat sich folgende Periodisierung in fünf Phasen durchgesetzt; auf die frühe Eisenzeit (900–725 v. Chr.) folgt die orientalisierende Phase (725–575 v. Chr.), ab 575 spricht man von der archaischen Periode, in der eine markante städtische Entwicklung zu beobachten ist; die Bewohner von Caere unterhielten im Heiligtum von Delphi ein eigenes Schatzhaus. Nach einer Phase anhalten Erfolgs wendet sich das Blatt in der Schlacht von Cumae (474 v. Chr.), Folge dieser Niederlage gegen die syrakusische Flotte war, dass die etruskischen Unternehmen vom Handel im Mittelmeerraum ausgeschlossen wurden. Die entscheidende negative Wendung für alle etruskischen Städte brachte der Fall der Stadt Veji 396 v. Chr. und die zunehmend imperialistische Politik Roms auf der italienischen Halbinsel. Die folgenden zweihundert Jahre bleibt Etrurien fest im Griff der „Romanisierung”.
Beim Blättern im Katalogteil bleibe ich vielfach stecken, etwa bei der Votivplastik (86ff) mit markanten Gesichtern, bei einem Kandelaber mit Aufsatz in Gestalt eines Pferdebändigers (135) oder bei den bronzenen Griffspiegeln (138–153), charakteristischen Erzeugnissen der Etrusker. Viele der Rückseiten sind mit gravierten Szenen geschmückt. Die Vorbilder dazu sind griechisch und waren in Etrurien bestens bekannt, etwa durch zahlreiche Importe griechischer Vasen. Die meisten Szenen stammen aus der griechischen Mythologie, wobei die Akteure oft mittels etruskischer Beischriften bezeichnet sind. Die über 3000 (!) heute bekannten Griffspiegel zeugen von einer starken Verbreitung in Etrurien. Zumindest in späterer Zeit sind sie in massenhafter Serienproduktion von dafür spezialisierten Werkstätten hergestellt worden, etwa in Vulci, Orvieto oder Praeneste. Natürlich sind militärische Objekte (Waffen, Helme, Schilde) unter den Ausstellungsstücken, aber auch zahlreiche Pferdetrensen, die als Grabbeigaben einen symbolischen Bildcode tragen, etwa mit Pferdchen, Wasservögeln, mit stark stilisierten Mischwesen oder anthropomorphen Gestalten (185ff). Gold- und Silberschmuck fehlt nicht: Lockenhalter, Navicellafibeln, Sanguisugafibeln, Siegelringe, Ohrringe. Auch Bronzeschmuck und Gerät für die Körperpflege gibt es in hervorragenden Fotoaufnahmen zu betrachten, welche die Objekte in Originalgröße und in Vergrößerung zeigen.
Im Katalogband gibt es noch eine Rubrik „Fälschungen und moderne Nachahmungen” (292ff): „Die Nachfrage nach archäologischen Objekten auf dem Kunstmarkt hat über Jahrhunderte hinweg die Anfertigung von Imitationen bewirkt, die zu erkennen eine Hauptaufgabe der Archäologie darstellt. Für die Wissenschaft ist die Frage nach der Echtheit archäologischer Fundstücke von zentraler Bedeutung. Dabei erweist sich die Forschung zu den Fälschungen in archäologischen Sammlungen aus ethischer Sicht als weniger bedenklich, verglichen mit Untersuchungen zu echten Funden aus dem illegalen Kunsthandel. Höchst problematisch ist, dass bei diesem Handel die ursprünglichen Kontexte der Objekte unersetzlich verloren gehen – was in gewisser Weise ebenfalls einen Betrug darstellt, nämlich dem Weltkulturerbe gegenüber” (S. 293). Interessant sind dann die Kriterien, nach denen Objekte als „vermutlich moderne Fälschung” deklariert werden, etwa die 11 cm große Statuette eines Jünglings mit Stock und Mäntelchen. „Einige motivische und stilistische Merkmale sind allerdings sehr verdächtig und deuten darauf hin, dass es sich hierbei um eine Fälschung handeln dürfte. Zu diesen Merkmalen gehören insbesondere die Gestaltung des um die Hüfte geschlungenen Mantels sowie die markante Ausführung der Rückenpartie mit Betonung der Schulterblätter, welche eher für Brustpanzer typisch ist. Äußerst ungewöhnlich ist außerdem der Stab an der Seite des Jünglings. Stäbe sind in etruskischen und griechischen Darstellungen typische Attribute von mittelalten Personen in ihrer Rolle als Bürger und Mitglieder der städtischen Gemeinschaft. Für etruskische Bronzestatuetten ist ein solcher Stab meines Wissens überhaupt nicht bezeugt” (294). – Nach gut 300 Seiten interessanter Lektüre und Schwelgen in Bildern wäre ich jetzt fit für den Ausstellungsbesuch im Museum zu Allerheiligen Schaffhausen.
Klimt und die Antike. Erotische Begegnungen,
Katalog der gleichnamigen Ausstellung in der Galerie Belvedere, Wien.
Herausgegeben von Stella Rollig und Tobias G. Natter, Prestel Verlag München,
256 Seiten, 23,5 x 29,7 cm, 163 farbige Abbildungen, 33 s/w Abbildungen,
ISBN: 978-3-7913-5698-3, € 39,95

Wer kennt nicht Gustav Klimt und sein in ornamentalem Gold schwelgendes Bildnis der Adele Bloch-Bauer? Dieses sein fraglos bekanntestes Porträt, mit dem ihm die Verschränkung der Gattungen Tafelbild und Mosaik gelungen ist, hatte der Künstler 1907 vollendet. In diesem Jahr brachte er auch nach mehr als zehn Jahren Arbeit die drei Fakultätsbilder zu einem Abschluss; für den Festsaal der neuen Universität an der Wiener Ringstraße sollte er eine Darstellung von Philosophie, Medizin und Jurisprudenz beisteuern. Allerdings tat sich dabei eine Kluft auf zwischen der universitären Selbstsicht und Klimts Individualität, aus der eine Skandalisierung der Bilder erwuchs, die schließlich zum Rückkauf der Fakultätsbilder vom Staat führte, um so einen Schlussstrich zu ziehen: „Genug der Zensur, ich greife zur Selbsthilfe. Ich will loskommen. Ich will aus allen diesen unerquicklichen, meine Arbeit aufhaltenden Lächerlichkeiten zur Freiheit zurück. Ich lehne jede staatliche Hilfe ab.“ In dieser Entzweiung profilierte sich Klimt vom bis dahin gefeierten Shootingstar der Belle Epoque zum Bannerträger der Moderne und zur Symbolfigur der Wiener Avantgarde. Im Jahr 1907 überraschte er sein Publikum zudem mit einem damals provokativen Meisterwerk der Zeichenkunst, seinen Illustrationen zu Lukians Hetärengesprächen.
Der bekannte Satiriker Lukian von Samosata (etwa 120–180 n.Chr.) – seine Geburtsstadt war am Oberlauf des Euphrat im Südosten der heutigen Türkei gelegen – lässt in den 15 Dialogen Hetären über die Sorgen und Nöte ihrer Existenz als Gunstgewerblerinnen sprechen (ein Thema, das traditionellerweise in der Komödie abgehandelt wurde), deren sozialer Status weit über jenem von gewöhnlichen Prostituierten lag. Dabei geht er auf Themen wie Untreue, Eifersucht, Gewalt und Intimitäten ein, wobei die allgemeine Problematik zwischenmenschlicher Beziehungen dabei stets im Mittelpunkt bleibt. Der zeitlose Charakter der hier geschilderten menschlichen Typen erklärt zweifellos die ungebrochen begeisterte Rezeption dieses Werkes, die weit über die Antike hinaus und bis in die Gegenwart und die aktuelle Gender-Debatte hineinreicht. Der Wiener Schriftsteller Franz Blei hatte eine deutsche Neuübertragung (keine textgetreue Übersetzung) des altgriechischen Texts angefertigt, er hatte auch die Reihenfolge der Dialoge geändert und wohl von sich aus den Kontakt zu Gustav Klimt gesucht. Klimt lernte den Lukiantext erst bei dieser Gelegenheit kennen, als Künstler war ihm der Reichtum der griechischen Kunst aber längst vertraut. Der Historismus bot ihm ersten Zugang, in den 1890er Jahren rezipierte er die antiken Vorbilder unter den Bedingungen und Bedürfnissen von Jugendstil, Flächenkunst und Ornament. Eine dritte Phase brachten die Hetärengespräche, zu denen Klimt eine Auswahl von 15 seiner „Illustrationen” lieferte. Um die verlegerischen Belange kümmerte sich Julius Zeitler in Leipzig, der von der Gestaltung der Einbände (gefertigt in einer Wiener Werkstätte) bis zum meisterhaften Druck „ein Juwel von einem Buch” machte. 2018 erscheint bei der WBG in Darmstadt übrigens eine neue zweisprachige Ausgabe der Hetärengespräche von Peter Mauritsch.
Habent sua fata libelli – das gilt gerade auch für Klimts Hetärengespräche; das Werk wurde zum vielgelobten Gegenstand buchkünstlerischer Analyse, entwickelte sich zum maßgeblichen Werk des Jugendstils, fand lebhafte Beachtung bei Buchliebhabern und Erotikasammlern. Die Darstellungen Klimts waren so freizügig, dass es zweimalig zur Beschlagnahmung der Publikation kam. Bereits 1907 war in Österreich die Rede von einer möglichen Aktion des Staates, die anscheinend abgewendet werden konnte. Doch 1912 und 1920 kam es in Deutschland zur Beschlagnahmung der von Klimt illustrierten Hetärengespräche. Seither gab es mehrere Neuauflagen, die bibliophil anspruchsvollste Edition stammt 1976 aus der Raritätenpresse des Hamburger Gala Verlags (Nachdruck in verkleinerter Form als Band 102 der Reihe Die bibliophilen Taschenbücher 1979 im Dortmunder Harenberg-Verlag). In wissenschaftlicher Hinsicht besonders bemerkenswert ist die Edition, die 1989, im letzten Jahr der DDR, in Ostberlin erschien. Sie wurde von Rudolf Schottlaender herausgegeben (im modernen Antiquariat noch leicht und preisgünstig erhältlich), der die Franz Blei-Übersetzung neu fasste und mit einem Nachwort samt philologischen Korrekturen versah. In mehreren internationalen Ausstellungen wurden in den letzten Jahrzehnten die Hetärengespräche präsentiert, nunmehr auch in der Ausstellung Klimt und die Antike. Erotische Begegnungen in der Orangerie des Unteren Belvedere in Wien, wo es „zu einem faszinierenden Rendezvous zwischen antiken Originalen und Arbeiten, in denen sich der Künstler mit der klassischen Kunst auseinandersetzt,” kommt.
An unvermutet vielen Stellen in Klimts Schaffen finden sich – so die Wiener Ausstellungsmacher – Reminiszenzen an die Antike, gut nachzuvollziehen, wenn man bedenkt, dass die großen kaiserlichen Antikensammlungen im 19. Jahrhundert enormen Zuwachs erfuhren, dass die Anerkennung der klassischen Archäologie, die Gründung des Österreichischen Archäologischen Instituts im Jahr 1898 und die österreichische Beteiligung an den Grabungen in Ephesos großes öffentliches Interesse nach sich zogen. Der Antikenbezug eröffnet sich freilich oft erst auf den zweiten Blick und im unmittelbaren Kontext mit den Vasen, Reliefs und anderen Vorbildern, die in der Orangerie gezeigt werden. Überdies gefiel die freizügige Darstellungsform der Antike mit ihren erotischen Sujets Gustav Klimt. Diese Klimt-Ausstellung wird denn auch mit zahlreichen Stücken aus dem Kunsthistorischen Museum, der Wiener Antikensammlung, dem Antikenmuseum Basel, der Sammlung Ludwig sowie den Staatlichen Antikensammlungen und Glyptothek München bereichert. Der Ausstellungsbesucher wird überdies eingeladen, sich auf Spurensuche in Wien zu begeben, denn viele jener großartigen Werke Klimts, die einen markanten Antikenbezug aufweisen, finden sich an den schönsten Orten der Stadt.
Wer „nur” den reich illustrierten Ausstellungskatalog zu Hause vor sich hat, wird leider auf den ein oder anderen Besuch in einem Wiener Traditionscafé und bei einem K. u. K. Hofzuckerbäcker verzichten müssen – und damit auch auf die gefühlte Begegnung mit Wiener Künstlern dort: Im Café Museum (Operngasse 7, http://www.cafemuseum.at/de/cafe-museum/die-story.html) verkehrten die Maler Gustav Klimt, Egon Schiele und Oskar Kokoschka hier wie die Schriftsteller Karl Kraus und Elias Canetti oder die Architekten Otto Wagner und Adolf Loos. Der Katalogband bietet freilich interessante Lektüre, etwa von Tobias G. Natter, Gustav Klimt und die Hetärengespräche des Lukian. Ein Erotikon, sein Bedeutungsraum und die griechische Antike (8–25). – Marian Bisanz-Prakken, Klimts Zeichnungen für die Hetärengespräche und ihr Stellenwert im Werk des Künstlers (26–33). – Brigitte Borchhardt-Birbaumer, Eros statt stiller Größe. Klimts unakademische Antikensehnsucht (34–43). – Georg Plattner, Linienkunst in der klassischen Antike. Die attische Vasenmalerei des 5. Jahrhunderts v. Chr. (44–49). – Florian S. Knauß, Wein, Weib und Gesang. Das griechische Symposion (50–59). – Elke Hartmann, Die Welt der Hetären im antiken Griechenland (60–69). – Kordula Schnegg, Lukians Hetärengespräche. Antike Dialoge über käufliche Gefährtinnen und deren Liebhaber (70–77). – Stephanie Auer, Die prominenten Erstbesitzerinnen und Erstbesitzer der Hetärengespräche (78–86). – Der Katalogteil nimmt die Seiten 87 bis 232 ein mit den Abschnitten Klimt und Pallas Athene / Vom Motiv zur Atmosphäre – von der Belle Epoque zur Moderne / Die Hetärengespräche des Lukian / Antike Frauenbilder / Faszination Linie: Zeichenkunst. Im Anhang findet man eine Leseausgabe der Hetärengespräche des Lukian neben den üblichen Verzeichnissen (Exponate, Literatur, Autoren, Bildnachweise).
Die in Zusammenarbeit mit den Kunsthistorischen Museum in Wien (https://www.khm.at/) entstandene Ausstellung Klimt und die Antike. Erotische Begegnungen zeigt nicht nur Klimts 15 Zeichnungen für die Hetärengespräche, sondern insgesamt 82 Werke, welche die Entwicklung seiner Formensprache aus der Vasenmalerei oder den Abgüssen nach antiken Skulpturen veranschaulichen und neue Sichtweisen auf das Antikenverständnis des Künstlers zeigen. Aber auch nach dem Ende der Ausstellung lohnt ein Gang ins Obere Belvedere, das ja ohnehin mit 24 Arbeiten die weltweit größte Sammlung an Ölgemälden des Künstlers besitzt.
Ovid, Amores und die Römische Liebeselegie.
Bearbeitet von Rudolf Henneböhl (Reihe Kreativ Bd. 5),
146 Seiten, über 90 Abbildungen in Farbe, Ovid-Verlag, Bad Driburg 2017,
ISBN 978-3-938952-31-3, 15,00 €

Ovid Liebeskunst. In der Übersetzung von Wilhelm Hertzberg und Franz Burger
(erstmals 1923 erschienen), überarbeitet und reich kommentiert von Tobias Roth, Asmus Trautsch und Melanie Möller,
Galiani Verlag, Berlin, 384 Seiten, Leinen, Quartformat, zweifarbiger Druck, 2017,
ISBN 978-3-86971-153-9, 39,90 €

Die beiden Ovidbücher sind nahezu zeitgleich im Oktober 2017 erschienen, das Ovidjahr hat es möglich gemacht, auch wenn es für diesen römischen Dichter kein Jubiläum braucht, um sich mit seinen Gedichten zu beschäftigen. Beide Bücher haben ihre besonderen Qualitäten.
Rudolf Henneböhl stellt sich die Frage: „Warum lesen wir heute noch in der Schule die Liebesgedichte eines antiken Menschen? Weil die Liebe ein sehr privates Thema ist und wir auf diese Weise so eindringlich wie sonst kaum Einblicke in das Empfinden eines Menschen 2000 Jahre vor unserer Zeit erhalten. Und weil wir viel erfahren über das Verhältnis von Mann und Frau, die ebenso als puella (reizendes Mädchen) wie als domina (dominierende Herrin) auftritt. Dabei geht es nicht um eheliche Verhältnisse oder um Freundschaft und Liebe im heutigen Sinn, sondern um den Umgang mit einer „Libertine”, einer Freigelassenen, die sich als Kurtisane oder Mätresse (gehobene Prostituierte, oft eines reichen Mannes) ihr Einkommen verdient. Was aber dachten die „alten Römer” über die Liebe, über das Verhältnis von Mann und Frau? Kannten sie bereits das Konzept oder die Vorstellung einer „romantischen” Liebe? Schließlich sind ja die „Romantik” wie die „Romanze” ebenso wie der „Roman” – auch der „Liebesroman” – nach den Römern benannt.”
Der Band zeichnet die Entstehung und Entwicklung dieser – fast unrömischen – Gattung Liebeselegie nach und versucht das intertextuelle Spiel der Dichter auch für Schüler erkennbar und nachvollziehbar zu machen. Die „Römische Liebeselegie” ist eine sehr ausgefeilte und technisch hochkomplexe Form von Dichtung; die begriffliche, sprachliche und poetische Raffinesse wird den Schülern durch Interpretation erst erschlossen. Dies erfolgt auf allen relevanten Textebenen und in Hinsicht auf die nötigen Kompetenzen. Die einzelnen Gedichte sind aber auch Ausdruck eines ganz neuen, oft „modern” anmutenden Lebensgefühls („Make love, not war!” oder auch „Make love, not money!”) und können von daher auch existenziell gelesen werden. Sie bieten die Chance, mit Heranwachsenden über frühere und heutige Erfahrungen von Liebe zu sprechen und die Wertungen und Schwierigkeiten, die mit ihr verknüpft sind, bewusst zu machen. Insofern legt der Band − dem Reihennamen „Latein Kreativ” entsprechend − Wert auf Anregungen zu einer persönlichen und existenziellen Auseinandersetzung. Zahlreiche moderne Bilder regen dazu an und lassen auch optisch den Witz dieser Gattung erkennen.
Zu den Dutzenden modernen Bildern aus dem 21. Jahrhundert von Künstlern aus aller Welt kommen noch zahlreiche Gemälde von bekannten und unbekannten Meistern aus Antike und Neuzeit hinzu: Charles Meynier, Lawrence Alma Tadema, Sandro Botticelli, Luca Cranach d. Ä., Thomas Cole, John William Godward, Peter van Lint, Alexandre Abel de Pujol, George Frederick Watts, Sir Edward John Poynter, Juan Jiménez y Martin u.a. Nach einer Einleitung in Ovids Leben und Werk (anhand von Trist. IV,10 in Übersetzung und mit Leitfragen), der Darstellung der Ehegesetzgebung des Augustus und begrifflichen Unterscheidungen des Wortes „Liebe” in Antike und Gegenwart folgt die Auswahl der Texte, gegliedert in „Liebe” in antiker Dichtung (Texte von Sappho, Lukrez, Properz, Anakreon; 19–34), Die Entwicklung der „Römischen Liebeselegie” (Vergil, Properz, Tibull; 34–47), Typische Motive der „Römischen Liebeselegie” (Z.B. servitium amoris / dura puella / foedus aeternum / militia amoris / pauper amator; 48–79), Liebesszenen (80–94) sowie Gattungsende und Gattungstransfer (95–123). Zu den ausgewählten Textes aus den Amores gibt es vielfach Vergleichstexte von Catull, Tibull, Properz, Horaz, Vergil oder aus anderen Schriften Ovids. Es folgt ein umfangreicher Anhang (124–144) zu Metrik und Stilmitteln (jeweils mit Übungen), zu den dichterischen Mitteln und Wortschatz, es folgen Literaturhinweise, Bildnachweise und ein Namens- und Begriffsverzeichnis. Zu den Übersetzungstexten aus den Amores gibt es Aufgaben zum Textverständnis sowie – farblich abgesetzt – kreative Aufgaben zur existenziellen Auseinandersetzung mit Themen, Texten und Bildern. Diese Textausgabe belegt übrigens – wie alle Textausgaben aus dem Ovid-Verlag – erneut den Einladungscharakter einer sorgfältig redigierten, altersbezogen und dennoch fachlich begründeten Textausgabe für die Hand des Schülers. Es ist unmöglich, dass eine Schülerin oder ein Schüler nicht in diesem Buch zu blättern und zu lesen beginnt – und sich vielleicht gar eigenständig an die lateinischen Texte heranmacht. Was könnte man sich mehr wünschen! Probieren Sie es aus!
Ihre Leser hat auch die Liebeskunst Ovids, deren lange Reihe von Übersetzungen hier um eine ganz besondere Ausgabe bereichert wird. Gebunden in rotes Leinen (wie schon 2014 die vielgelobte Ausgabe von Lukrez, Über die Natur der Dinge, übersetzt und kommentiert von Klaus Binder mit einem Vorwort von Stephen Greenblatt) kann man Ovids großartiges Gedicht und den Kommentar dazu im Stil der Renaissance mit einem Blick erfassen: Dieser ist „wie ein zärtlicher, arabesker Rahmen um den Text gelegt. Der Sprung des Auges von den Distichen in unsere Prosa soll ein Angebot an die Leserinnen und Leser sein, bei dem sie sich das Blättern zwischen Text und Kommentar sparen können” (S. 343). Der Ovidtext ist rot gehalten, ebenso jene Begriffe und Namen, auf die der Kommentar Bezug nimmt. Und warum ist solch ein Kommentar wichtig? Aus den Gründen, die auch schon R. Henneböhl genannt hat: „Ovids begriffliche, sprachliche und poetische Raffinesse”. Bei Tobias Roth, Asmus Trautsch und Melanie Möller liest sich das so: „Ovids Dichtung fasziniert uns in ihrer Verbindung aus leichter, eleganter Oberfläche und kaum zu ermessenden Tiefenraum von Anspielungen, literarischen Bezügen, Vieldeutigkeit und komischer Subversivität. Sie fasziniert uns in der Feinheit des Versbaus, der raffinierten Arbeit an der Form und der Großzügigkeit, mit der erzählt, argumentiert und gespielt wird. Wenn Liebe vor allem eine Gabe ist, dann ist Ovids Buch ein Liebesgeschenk, das eine nicht nachlassende Lektürelust erzeugt” (a.a.O.). Die Autoren verweisen darauf, dass die Forschungsliteratur zur Liebeskunst seit den 1970er Jahren stark angewachsen sei und dass etwa die Kommentierung des 2. Buchs durch Markus Janka 512 Seiten, die des 3. Buchs durch Roy Gibson 446 Seiten füllten. Ein Anspruch auf Vollständigkeit müsse an einer so reich und stupend gearbeiteten Dichtung wie der Ovids scheitern. Die Autoren wählen also notgedrungen aus.
Ungewöhnlich auch die Kooperation der Autoren in diesem Buch: Tobias Roth ist Lyriker und Übersetzer (aus dem Italienischen, Französischen und Lateinischen) und Gründungsgesellschafter des Verlags Das Kulturelle Gedächtnis; Asmus Trautsch ist Lyriker und Philosoph, promovierte über die antike Tragödie und gibt die Essayreihe Edition Poeticon im Verlagshaus Berlin heraus; Melanie Möller ist Professorin für Latinistik und lieferte gleich nach ihrer Berufung an die FU Berlin ihr Meisterstück mit Planung und Organisation einer viele Termine umfassenden Mega-Veranstaltungsreihe „Bimillennium 2017 – Ovid und Europa”. Das Unternehmen maßgeblich beraten, inspiriert und unterstützt hat Wolfgang Hörner (er trat auch bei der o.g. Veranstaltungsreihe auf), 18 Jahre beim Eichborn Verlag tätig, seit bald zehn Jahren Verleger des neu gegründeten Galiani Verlags in Berlin. Ihre Kooperation beschreiben sie folgendermaßen: Wir haben die Übersetzung gemeinsam neu bearbeitet und das Nachwort zusammen geschrieben. Den Kommentar haben Tobias Roth und Asmus Trautsch verfasst, Melanie Möller hat ihn ergänzt (S. 345).
Der Kommentar erläutert naheliegender Weise die vielen Anspielungen mythologischer Art bei Ovid – dafür gibt es ein spezielles Register. Ein zweites Personenregister (S. 371–379) nennt die Gewährsleute und ihre Texte, auf denen Ovids Liebeskunst fußt, mit denen sie produktiv umgeht, auf die sie bewundernd oder persiflierend oder ironisch anspielt. Nicht weniger interessant sind die ausgesprochen vielen Anmerkungen auf spätere Autoren, Dichter, Musiker und Maler (in Mittelalter, Renaissance, Neuzeit und Gegenwart) im Kommentar, die von Ovid inspiriert sind, die ihn weiter denken, kritisieren und bewundern. Die Liebeskunst ist natürlich voller Hinweise auf römische Bauten, die Stadtgeographie, auf Dinge des Alltags und des täglichen Großstadtlebens, der Unterhaltung in Arena und Theater, der Mode, der Hygiene, der Kosmetik, der Rolle von Sklaven und Freigelassenen, von Warenverkehr und Migration, zu denen Erklärungen ausgesprochen hilfreich und kurzweilig sind. Es gibt sogar eine Karte Roms zu augusteischer Zeit mit den von Ovid in der Liebeskunst und den im Kommentar erwähnten Gebäuden und Orten (von Sybille Neumeyer, S. 300f.). Ganz sicher gilt – was die Autoren sich vorgenommen haben – dass der so ausführliche Kommentar, der Wege bahnt in den Tiefenraum der Anspielungen und impliziten Argumente, die Lust des Lesens entscheidend erhöht. Der Lateinkundige wird häufig den lateinischen Text der Ars amatoria neben diese schöne Ausgabe legen, um die Verskunst Ovids vollends zu begreifen.
Nun gilt es, beide Neuerscheinungen für die Schule und einen guten Unterricht zu lesen, zu rezipieren, ihre vielen Anregungen aufzugreifen. Gespannt und sehr neugierig bin ich aber schon auf die Folgebände bei Galiani und im Ovid-Verlag. Bei Rudolf Henneböhl folgt – das steht fest – auf den Amores Band „Latein Kreativ V” die Nummer VI, die märchenhafte Novelle Amor und Psyche von Apuleius, „ein genialer Stoff für die Oberstufenlektüre”.
Lena Florian, Heimliche Strategien. Wie übersetzen Schülerinnen und Schüler?
1. Auflage 2015, 206 Seiten mit zahlreichen Abbildungen Paperback,
ISBN 978-3-8471-0410-0, V&R unipress, 35,00 €

Lena Florian, So übersetzen Schüler wirklich,
1. Auflage 2017, 164 Seiten Paperback, ISBN 978-3-525-71117-0,
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 16,00 €

Viele Theorien versuchen, die Verstehensprozesse beim Übersetzen aus dem Lateinischen zu erklären. Empirische Überprüfungen und Untersuchungen hierzu lägen bisher jedoch kaum vor. So lautet die These der Autorin. Mit einem qualitativen Untersuchungsansatz möchte sie einen ganzheitlichen Blick auf Verstehens- und Übersetzungsprozesse bei Schülerinnen und Schülern tun, der durch die üblichen Diagnoseverfahren in der Schule nicht geboten werden kann. Im Gegensatz zur quantitativen biete die qualitative Forschung die Möglichkeit, ein Individuum in all seinen Facetten zu betrachten. In der lateinischen Fachdidaktik habe sich solcherart empirische Forschung noch nicht etabliert. Praktische Ansätze für den Unterricht gebe es zwar viele, doch Erkenntnisse darüber, wie SuS beim Übersetzen vorgingen, wie sie einen lateinischen Text verstünden oder welche Rolle das Wörterbuch für sie spiele, gäbe es jedoch bisher kaum. Meine Intention ist – so die Autorin – zu ergründen, wie SuS tatsächlich mit einem lateinischen Text umgehen, wie sie Textverständnis aufbauen und welche Bausteine diesem Prozess zugrunde liegen. Dabei wird auch untersucht, welche Strategien SuS fernab von didaktischen Theorien und methodischen Vorschlägen anwenden und wie die Prozesse von Verstehen und Übersetzen bei realen SuS ablaufen (Vorwort S. 12).
Wie macht man solch eine Untersuchung? Sechs (!) SuS-Paare wurden bei der Bearbeitung eines Übersetzungstextes gefilmt und (ihre sprachliche Interaktion) aufgenommen. Ergänzend wurde unter deren Mitschülern ein Fragebogen mit demselben Textabschnitt erhoben. Die Transskripte der Video- und Audioaufnahmen dienen dann als Basis der Analysen. Zentrale Fragestellung der Untersuchung ist, welcher Art die Schwierigkeiten von SuS beim Übersetzen und Verstehen von lateinischen Sätzen sind und wie sie entstehen. Im Focus steht, welche Strategien und Handlungsweisen der SuS besonders erfolgversprechend sind, um daraus Perspektiven für die Praxis entwickeln zu können. Als Bausteine des Übersetzungsprozesses werden Vorgehen, Textverstehen, Wörterbucharbeit und Bedeutungssuche der SuS betrachtet.
Was kommt heraus bei solch einer empirischen Studie? Auf Seite 161 liest man: Überraschend sei gewesen, dass das Vorgehen der SuS stärker von den ermittelten Vokabelbedeutungen abhing, als anhand der Untersuchung von Eikeboom (1970) vermutet werden konnte. Eine Orientierung im Satz und die Konstruktion von Verständnis erfolgten fast ausschließlich anhand von Wortbedeutungen. Formen und Grammatik wurde nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Bei allen SuS der Untersuchung überwog die Phase der Bedeutungssuche. – Überrascht das wirklich? Seit der Untersuchung von Eikeboom sind gut 45 Jahre verstrichen und die Ziele des LU (z.B. hinsichtlich Vokabellernen) haben sich ebenso verändert wie die Zusammensetzung der Schülerschaft. Jeder Lateinlehrer, der ein oder zwei Jahrzehnte im Geschäft ist, kann entsprechende Beobachtungen beisteuern. Ich erinnere mich an eine Schülerin, die bei ihrer Abiturklausur im Leistungsfach die ersten 60 Minuten damit verbrachte, stur der Reihe nach jede Textvokabel mit jeweils zwei deutschen Bedeutungen zu notieren, seitenweise! Mich brachte das beim bloßen Zuschauen schon zu Schweißausbrüchen.
Eine weitere Beobachtung (S. 162 f) korreliert mit einem Befund Eikebooms: Die videografierten SuS gingen im Übersetzungsprozess zyklisch vor: Sie bearbeiteten einen Satz zunächst Wort für Wort, betrachteten dann Wortblöcke und kamen wieder auf einzelne Wörter zurück, die ihnen Schwierigkeiten bereiteten, so dass sie dann erneut einzelne Vokabeln nachschlugen, deren Bedeutungen sie bereits ermittelt hatten. Grund dafür sei - was man bei seinem PC bisweilen auch registriert; vielleicht kommt das Erklärungsmodell daher - dass die Arbeitsgedächtniskapazität ausgeschöpft ist: die SuS konnten nicht alle Propositionen aktiv halten. Die Phase der Dekodierung im lateinischen Übersetzungsprozess unterliege also im Gegensatz zum deutschen und fremdsprachlichen Leseprozess Kapazitätsbeschränkungen. Dadurch dass die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses durch ,kontrollierte Suchprozesse’belastet werde, fehle sie dann bei der ,semantischen Verarbeitung’ (S. 163). Derart schwach ausgebildete Arbeitsgedächtnisse scheinen mir auch eine Folge gegenwärtiger Unterrichtsprinzipien und informationstechnischer Praktiken zu sein, welche die Merkfähigkeit bekanntlich nicht sonderlich fordern.
Als problematisch identifiziert die Autorin ferner, dass die bei allen Gruppen zu beobachtende Übersetzungsmethode, der konstruierende Ansatz, die SuS allein auf morphologischer und syntaktischer Ebene agieren ließe. Dieser Ansatz erfordere eine hohe Lernbereitschaft und ein hohes Maß an Auswendiglernen und es sei die Frage, ob die SuS bei drei Stunden Lateinunterricht pro Woche und der Schulzeitverkürzung dies noch leisten könnten. Viele Lehrkräfte seien überdies auf ein konstruierende Vorgehen geprägt, ein Ansatz, der nach der vorliegenden Untersuchung offensichtlich nicht jeden Lernenden zu einer guten Übersetzung leite (S 164).
Bei den erfolgreichen Paaren beobachtet die Autorin eine Gemeinsamkeit des Übersetzungsprozesses: auffällig viele und schnelle Phasenwechsel, außerdem passten sie ihr Vorgehen den Erfordernissen des Textes an. An Stellen, die für sie auf semantischer Ebene schwer verständlich waren, setzten sie Formenkenntnisse ein, an Stellen, die syntaktisch für sie nicht zu lösen waren, nutzten sie Bedeutungen. Dabei war der Strategieeinsatz an den individuellen Stärken eines Paares orientiert (S. 164). Interessant!
Zu beobachten war ferner, dass SuS bei Fehlern im Bereich von Lexik und Wortbedeutungen keine Probleme damit hatten, Formen richtig zu identifizieren, sondern sie zu rekodieren. Oft handelten sie sogar ihren Formenkenntnissen zuwider, um ermittelten Bedeutungen zu entsprechen. Durch ihre Fixierung auf Vokabelbedeutungen war das Wörterbuch für die SuS die wichtigste Instanz zum Lösen von Problemen. Die Autorin konstatiert darüber hinaus: Obwohl die SuS das Wörterbuch so intensiv nutzten, lagen den meisten Übersetzungsfehlern Schwierigkeiten bei der Wörterbucharbeit zugrunde. Die SuS hatten nicht nur inhaltliche Schwierigkeiten mit dem Wörterbuch, sondern auch technische. Viele hatten Probleme, Hilfen und Anmerkungen in den Wörterbucheinträgen zu verstehen, umzusetzen und für sich zu nutzen; eher wurden sie durch die Angaben verwirrt, als dass sie ihnen halfen. Sie waren schlichtweg überfordert mit den Angaben im Wörterbuch. Die Autorin stellt verwundert fest, dass zur Wörterbucharbeit im Lateinischen kaum Literatur existiere: Hier gibt es eine Forschungslücke (S. 169). – All diese Beobachtungen überraschen ja nicht wirklich, das ist schulischer Alltag, auf den Lateinlehrkräfte mehr oder weniger klug, phantasievoll, motivierend und effizient reagieren müssen.
Lena Florians Untersuchung bot durch ihr Design auch die Möglichkeit, die Kooperation der SuS näher zu beleuchten. Dabei stellt sie kritisch fest, dass die SuS durch übermäßigen Einsatz der Partnerarbeit als Arbeitsform in immer gleichen und eventuell ineffektiven Konstellationen unter Umständen nur unzureichend auf eine Prüfungssituation vorbereitet werden (S. 170). Ne quid nimis – das wissen wir seit Terenz.
Die Autorin kommt mit ihrem Untersuchungsdesign zu dem Schluss, dass es keine Übersetzungsmethode gebe, die allen SuS hilft, zu einer guten Übersetzung und Textverständnis zu gelangen (S. 175); daher müssten den SuS ihre eigenen Stärken bewusst gemacht und Sensibilität dafür geschaffen werden, welche Strategie individuell sinnvoll sei, Reflexion und Metakognition seien zu schulen. Eine Übersetzungsaufgabe allein könne das nicht leisten. Empfohlen wird die Arbeit mit einem Portfolio: Es ermöglicht eine kontinuierliche Überprüfung der eigenen Fähigkeiten und eine aussagekräftige Rückmeldung an die Lehrkraft. So ließen sich Verstehens- und Übersetzungsprozesse der SuS individuell optimieren (S. 176).
Als nächster Schritt sollten – so fordert die Autorin – Methoden in Form von Unterrichtseinheiten und neuen Materialien entwickelt werden, die den Erkenntnissen dieser Untersuchung entsprechen, um beispielsweise den SuS die Rekodierung zu erleichtern, ihr Arbeitsgedächtnis zu entlasten und ihre Wörterbucharbeit1 erfolgreicher und weniger fehleranfällig zu gestalten. Diesen Schritt versucht sie dann selbst in dem zweiten hier anzuzeigenden Buch „So übersetzen Schüler wirklich”, indem sie ihre Dissertation auf schulpraktische Bedürfnisse einschmilzt. In Kurzform referiert sie Thesen und Ergebnisse ihres qualitativen Forschungssets und gibt dann zu den Defizitbereichen jeweils ein Bündel von „Methodischen Anregungen für die Praxis”. Ausgehend von dem Versuch, einen „Blick in den Kopf der Schüler” zu tun, und indem sie das reale Vorgehen der Schüler zeigt und ihre Denkprozesse sichtbar macht, definiert sie die folgenden sechs Problembereiche (allesamt traditionell formuliert und sogleich in Frage gestellt): Schüler achten beim Übersetzen fast nur auf Vokabelbedeutungen / Ohne Grammatikkenntnisse keine richtige Übersetzung / Formenkenntnis führt zur richtigen Übersetzung / Die Übersetzung zeigt das Textverständnis / Die Übersetzungsmethoden funktionieren bei allen / Die Wörterbuchbenutzung ist intuitiv. Die insgesamt sechzehn näher vorgestellten methodischen Anregungen stellen teils bewährte Modelle dar, einige sind neu (für mich), etwa die Reflexion des Lernprozesses mit Google Sheets, einzelne würde ich gerne ausprobieren.
Aus dem Lateinischen zu übersetzen, anspruchsvolle Texte aus einer eher fremden Welt, die nicht für Jugendliche des 21. Jahrhunderts verfasst wurden, ist fraglos eine hochkomplexe Angelegenheit. Dass man an solch einer Aufgabe scheitern kann, liegt nahe. Dass man daran nicht zwangsläufig scheitern muss, ist Sache eines guten Unterrichts. Dass Didaktiker und Dozenten damit sich seit Menschengedenken befassen und praktikable Theorien entwickeln, sollte kein Nachteil sein. Die traditionellen Verfahren und Herangehensweisen in Sachen Übersetzen als „Philologen-orientiert” zu deklarieren und sie in Opposition zu bringen zum hehren Anspruch der „Schülerorientierung” halte ich denn doch für überzogen. Das „Rumprobierenlassen” scheint mir keine echte Lösung zu sein. Jugendliche werden durch verbreitetes Rumprobieren – etwa bei der Benützung des Wörterbuchs – Theorie und Praxis des Übersetzens nicht grundlegend neu erfinden. Da müssen Schule und Lateinunterricht schon das passende Handwerkszeug vermitteln und einüben. Verdichtetes Wissen muss vom Lehrer auch in Zukunft anregend ins Spiel gebracht werden, wobei der kluge Lehrer immer offen für Fragen und Kritik seiner Schüler bleibt. De facto realisiert Lena Florian das auch, wenn sie den „Heimlichen Strategien” eine Fülle von „Methodischen Anregungen für die Praxis” entgegensetzt – in guter Philologen-Orientierung!
Klaus Bartels, Nikolaus Peter: Nikolaus-Predigten im Fraumünster. Antike und biblische Texte im Dialog,
Theologischer Verlag Zürich, 2017, 144 Seiten, mit farbigen Illustrationen von Sebastian Büsching,
ISBN 978-3-290-17913-7, 17,90 €

Immer kurz vor oder nach dem Nikolaustag findet in der Reformierten Kirche Fraumünster (laut Zürichs ältester Urkunde hat König Ludwig der Deutsche am 21. Juli 853 seiner Tochter Hildegard ein königliches Eigenkloster im „Flecken Zürich“ überschrieben, damit sie hier in der Gemeinschaft adeliger Frauen Gott diene) eine Predigtveranstaltung statt jeweils über einen Text aus der griechisch-römischen Geisteswelt und einen aus den biblischen Traditionen. Der Ort ist nicht zufällig gewählt, denn das Zürcher Fraumünster mit seinem romanischen Chor und dem hochgewölbten gotischen Querschiff ist eine reformierte Predigtkirche mit hoher theologischer Ausstrahlung. Dieses architektonische Kleinod mit dem fünfteiligen Fensterzyklus im Chor (1970) und der Rosette im südlichen Querschiff (1978) von Chagall und dem Giacomettifenster „Himmlisches Paradies”(1945) mit Gott-Vater mit Weltkugel und Jesus Christus zur Rechten zieht viele Besucher aus aller Welt an.
Eine Doppelpredigt erfordert wohl zwei Prediger mit einer gewissen Kongenialität. Klaus Bartels muss dem Leserkreis dieser Zeitschrift nicht vorgestellt zu werden. Er ist in Zürich seit Jahrzehnten zu Hause. Wortgeschichten und Streiflichter sind seine Erfindung, das Sammeln Römischer Inschriften und Geflügelter Worte sein Metier, seit 2009 nun auch die Doppelpredigt. Niklaus Peter (*1956) hat in Basel, Berlin und Princeton Theologie studiert, wurde mit einer Arbeit über Franz Overbeck promoviert, war Studentenseelsorger in Bern, von 2000 bis 2004 Leiter des Theologischen Verlages Zürich, seit Oktober 2004 Pfarrer am Fraumünster Zürich, seit 2016 Dekan des Pfarrkapitels Stadt Zürich. Verheiratet ist er mit Vreni Peter-Barth, einer Musikerin und Enkelin des bedeutenden Theologen Karl Barth. Eine Gemeinsamkeit der Autoren Bartels und Peter besteht (zufällig?) darin, dass sie den Vornamen dessen tragen, der sie vor neun Jahren zum Projekt Doppelpredigt zusammengeführt hat – Nikolaus von Myra – dass sie immer wieder in der NZZ publizieren, dass sie eine sehr lange Liste von Reden, Aufsätzen, Artikeln und Büchern zu ihren jeweiligen Fachgebieten vorweisen können und dass sie überzeugt sind, dass Theologie und antike Literatur Menschen auch heute etwas zu sagen haben, dass sie wie die Figur des Nikolaus von Myra „Wegweiser” sind: Gemeinsamkeiten in großer Zahl.
Am 6. Dezember 2009 also hielten der Altphilologe Klaus Bartels und der Pfarrer Niklaus Peter im Fraumünster erstmals eine Doppelpredigt zum Thema «Wer ist mein Nächster?»: Bartels predigte über Seneca, Peters über ein Gleichnis aus dem Lukasevangelium. So begann die kleine Tradition humorvoller und kurzweiliger Fraumünster-Predigten, immer kurz vor oder nach dem Nikolaustag (in diesem Jahr am 10. Dezember 2017 um 10 Uhr).
Angefangen hat alles mit Klaus Bartels Bitte, ob er, Niklas Peter, nicht die Einleitung zu einem seiner Vorträge übernehme, am St. Nikolaustag wolle er im „Zunfthaus zur Waag” über die Gestalt des historischen Nikolaus von Myra sprechen, das durch Eintritte erzielte Geld komme der Winterhilfe Zürich zugute. Da Pfarrer Niklas Peter im ehrenamtlichen Vorstand dieses Hilfswerks saß, sagte er sofort zu und fragte Klaus Bartels, ob er nicht im Gegenzug am gleichen Tag im Fraumünster mit ihm den Gottesdienst gestalten würde. So kam es zur ersten Doppelpredigt und zur Begründung einer Freundschaft und einer Tradition, die in diesem kleinen Buch ihren Niederschlag findet.
Die hier gesammelt vorgelegten Doppelpredigten handeln von der Menschenliebe, der Friedensidee, der Selbstfindung, dem Verständnis von «Logos», «Person» und «Gottesfreundschaft». Vorangestellt ist besagter zündender Vortrag von Klaus Bartels, der den historischen Nikolaus von Myra von Klischees befreit und ihn als einen mutigen Mann des Glaubens darstellt. – Als Lateinlehrer kann man sich davon durchaus zu einer kleinen Unterrichtsreihe über die Goldene Legende (Legenda Aurea) im Allgemeinen und über Nikolaus von Myra im Besonderen inspirieren lassen. Mit einem Schmunzeln verrät Klaus Bartels, dass die hochdramatische Erzählung des Jacobus de Voragine dem Leser „Interventionskompetenz” vermittle, das sei ja heute „in der hohen pädagogischen Wissenschaft, Abteilung Bildungsforschung, Unterabteilung Persönlichkeitsbildung” (S. 24f) verlangt. Wie Nikolaus als Nothelfer der Seefahrenden in Seesturm und Seenot konsequenterweise zum Nothelfer der Klosterschüler in Examensstürmen und Examensnöten wurde, lässt sich bei der Lektüre gut nachvollziehen, jedenfalls erkennt man in Nikolaus eine markante zupackende unaufgeregte Persönlichkeit.
Die Autoren dieses Büchleins sind übrigens eng mit Berlin verbunden, Klaus Bartels ist regelmäßig und häufig zur Vorträgen zur Lehrerbildung in der Stadt, Niklaus Peter hat in Berlin einige Zeit studiert und Sebastian Büsching, der dem Buch als Grafik-Designer Linien und Farbe gegeben hat, arbeitet als Gestalter und Illustrator in Berlin. So sind die Nikolaus-Predigten insgeheim auch ein Berliner Buch und mögen hier mit Sympathie und Zuneigung gelesen werden.