Unsere natürliche Gesichtserkennung meldet uns auf einer belebten Straße oder in einem Theaterfoyer verlässlich und im Wortsinn augenblicklich jedes bekannte Gesicht, ohne dass wir uns darüber im geringsten verwundern, und unser nicht ganz so verlässliches Namensgedächtnis liefert uns im glücklichen Fall gleich noch den Namen dazu. Neuerdings hat dieses natürliche System in der „biometrischen“ Gesichtserkennung, wie sie derzeit am Berliner Südkreuz – und jetzt auch am Zürcher Flughafen – erprobt wird, ein künstliches Gegenstück erhalten, und dieses automatische System hat eher die Gemüter erregt: Die „Biometrie“ ist zum jüngsten Hieb- und Stichwort des politischen Diskurses um Sicherheit und Datenschutz geworden.

Das im 19. Jahrhundert aufgekommene Fachwort vereinigt zwei geläufige Versatzstücke aus dem griechisch-lateinischen Fremdwörterbaukasten: das „Bio-“, nach dem griechischen bíos, „Leben“, und die „-metrie“, nach dem griechischen métron, „Mass“. Das zweite, die „-metrie“, ist rasch ausgemessen: Wie die Geometrie im ursprünglichen Wortsinn eine „Erd-“ oder „Landvermessung“ bezeichnet, so deutet die Biometrie auf eine Art von „Lebensvermessung“: Da wird Lebendes vermessen; anfänglich galt der Begriff jeglicher Gewinnung und Auswertung biologischer Messdaten, der heute sogenannten „Biostatistik“. Mit dem „Bio-“ hat es nicht so einfache Bewandtnis; das ist zuerst durch die „Biographie“, die „Lebensbeschreibung“, und dann durch die „Biologie“, die „Lebenswissenschaft“, in die neuen Sprachen eingegangen, und diese hat Dutzende spezieller „Bio“-Wissenschaften wie die Biochemie und weiterer „Bio“-Komposita nach sich gezogen, bis hin zu den die vielerlei „biologisch“, „ohne Chemie“ erzeugten „Bio“-Produkten und zuallerletzt noch den gleicherweise unverfälscht erzeugten „Bio-Deutschen“. Die heute so echt antik wirkende „Biologie“ stammt erst aus dem frühen 19. Jahrhundert. Sie ist eine Prägung des Bremer Naturforschers und Arztes Gottfried Reinhold Treviranus; der kühne Titel seines 1802 erschienenen Hauptwerks „Biologie“ bedurfte damals noch des klärenden Zusatzes „... oder Philosophie der lebenden Natur“.

Da war dieser erste „Biologe“ freilich an das falsche Wort geraten. Der griechische bíos deutet zuvörderst nicht auf das allem Lebenden gemeinsame Leben, das die derart neu angesprochene Biologie erforscht – das wäre die zoé gewesen –, sondern auf das spezifisch menschliche Leben und Erleben, das die seit der Spätantike so benannte Biographie beschreibt. In der Aristotelischen Zoologie bezeichnet der bíos allenfalls noch die verschiedenen Lebensstufen von Pflanze und Tier oder die besondere Lebensweise dieser oder jener Tiergattung. Ein byzantinisches Lexikon nennt das rühmende Prädikat biologikós für einen Komödianten, der „das Leben“ kennt und drastisch auf die Bühne bringt.

Mit einem derart gelebten, erlebten Leben haben die meisten „Bio“-Fachwörter nichts mehr zu schaffen. Aber manche, wie das „Biotop“ für den Lebensraum einer Pflanzen- oder Tiergesellschaft oder die „Symbiose“ für die Lebensgemeinschaft verschiedener Spezies, scheinen doch in einer Schnittmenge zwischen jenem verfehlt benannten „biologischen“ und diesem im eigentlichen Sinne „biographischen“ Leben angesiedelt zu sein. Und wenn sich in den Myriaden biometrischer Messpunkte im Geviert zwischen Ohren, Kinn und Stirn neben den ererbten Genen ein wenig auch das erlebte Leben mit abzeichnet – ist dann nicht auch jene „biometrische“ Gesichtsvermessung eine doppelte, zugleich biologische und biographische „Lebensvermessung“?