Ovid als Allegoriker und Vorbild mittelalterlicher Allegorese1
In der Praefatio seiner Ausgabe der ,Metamorphosen‘ (1977/1982) geht William Anderson angesichts seines überlieferungsgeschichtlichen Befundes von zwei Ovidianischen Zeitaltern aus.2 Das erste umfasst die Aufnahme des Werks zu Lebzeiten des Autors und in den 150 Jahren nach seinem Tod von Seneca bis Apuleius. Die andere aetas Ovidiana lässt er mit dem 11. Jahrhundert beginnen, aus dem die frühesten vollständigen Codices und maßgebenden Textzeugen unserer modernen Ausgaben stammen. Fragmente und Nachdichtungen in der Manier Ovids zeugen aber von einer schon im 9. Jahrhundert einsetzenden produktiven Rezeption, deren Ort durch das ganze Mittelalter hindurch das auctores-Studium der Kloster- und Domschulen, später zusätzlich der Universitäten und städtischen Lateinschulen war. Dort gehörten die Lektüre und stilistische Imitation seiner Distichen und Hexameter fest zum Bildungsprogramm der septem artes liberales, und zwar nicht nur des Triviums (mit seinen sprachlichen Disziplinen Grammatik – Dialektik – Rhetorik), sondern auch des Quadriviums, das die Gesetze der zahlenförmig organisierten Natur zum Gegenstand hat (Arithmetik – Geometrie – Musik – Astrologie). Denn die ars poetica ist mittelalterlich nicht etwa ein bloßer Anhang der Rhetorik. Über ihren strukturellen Bezug zu quantifizierbaren Verhältnissen (etwa der musikalischen Harmonielehre oder der geometrischen Proportionslehre) ist sie mindestens so sehr den quadrivialen wie den trivialen Disziplinen verpflichtet. In einem accessus, einer Werk- und Kommentareinleitung zu den ,Metamorphosen‘ aus dem 14. Jahrhundert (Codex Parisinus Latinus 8253), finden sich daher zwei Antworten auf die topische Frage, welchem Wissensgebiet das carmen perpetuum zuzuordnen sei:
Phisice supponitur quia de naturalibus
loquitur s. quomodo elementa nature principalis separate fuerunt a prima materia s. yle. […] Ethice supponitur quia tractat de moribus, sicuti de Lichaone.3
Das ist mit Blick auf das Vorbild Ovid, der in den ,Metamorphosen‘ Epos und Lehrdichtung, mythische Erzählung und Ekphrasis von Naturvorgängen miteinander verknüpft, nicht einfach so dahingesagt. Vielmehr zeigen die beiden einander polar entgegengesetzten Grenzbereiche des Wissens, die physica und die ethica, dass der eigentliche „Bildungsgegenstand”, den Ovids ,Metamorphosen‘ im Curriculum des artes-Studiums formieren, in einer Poetik und Hermeneutik besteht, die qua Dichtung Welt und Seele gleichermaßen erschließen und miteinander verschränken sollen.
Natur und Moralität bilden dabei eine Grundunterscheidung, die schon in der antiken Homer Exegese so aufgefasst wurde, dass der Litteralsinn des Epos um einen allegorischen Sinn erweitert gedacht werden müsse. So demonstrierte etwa der Neuplatoniker Porphyrios (* um 233 in Tyros; † zwischen 301 und 305 in Rom), dass Homers Beschreibung der Nymphengrotte im 13. Buch der ,Odyssee‘ ein verborgenes älteres Wissen über den Zyklus der Seelenwanderung unter der Oberfläche der Ortsbeschreibung verhülle.4 Für die antike Auffassung von Allegorie hieß das vor allem, dass die Bilder der geschilderten Welt nichts anderes sind als intensive Wiedergaben und intensivierende Impulse seelischer Transformationen. Daher die Grundunterscheidung zwischen einem körperlichen und einem psychischen Sinn, die zuvor Philo von Alexandrien (*um 15/10 v. Chr.; † nach 40 n. Chr.) auf die Exegese der Bücher Mosis anwendet, bzw. die Erweiterung der Schriftsinne bei Origenes (*um 185; † ca. 254) nach der stoischen Trias von σῶμα, ψυχή und πνεῦμα. In ihrem Zusammenspiel setzen die griechischen Begriffe einen Organismus voraus, der über äußere und über tiefe innere Sinne verfügt. Zur Funktion des seelischen bzw. cerebralen Wahrnehmungsapparats gehört dabei neben der Produktion beweglicher Phantasmen durch die vis imaginativa auch deren Prägung durch die vis memorativa und durch den rationalen Schematismus der vis aestimativa.5
Alle drei Instanzen – Einbildung, Urteilskraft und Erinnerungsvermögen – bilden das Einfallstor für die vielfältigen Umformungen der sensus-Hermeneutik. Sie münzt die psychischen vires in virtutes um und ermöglicht es umgekehrt, Tugenden als Kräfte aufzufassen, die in der Seele Verwandlungen von Wahrnehmungs-, Handlungs- und Erkenntnisweisen auslösen.
Unter christlichem Vorzeichen entwickelt sich aus solchem Kräftespiel die Unterscheidung eines mehrfachen, in letzter Instanz vierfachen Schriftsinns. Seine schulmäßig kanonisierte Form dürfte allen, die sich einmal mit mittelalterlicher Hermeneutik beschäftigt haben, in Form eines Merkverses begegnet sein, der Augustinus de Dacia (1260) zugeschrieben wird:
Littera gesta docet, quid credas allegoria, / Moralis quid agas, quo tendas anagogia.
Eine solche Memorierhilfe lässt vom Wirken formativer Kräfte kaum mehr etwas erahnen. Deshalb ist es, wenn man vormoderne Allegorie poetologisch und Allegorese hermeneutisch beurteilen möchte, wichtig an eines zu erinnern: Die psychohistorischen und wissensgeschichtlichen Bedingungen für die Auslegung des Buchstabens nach seinen allegorischen Dimensionen des sensus historicus, typologicus, tropologicus und anagogicus sind auf die wahrnehmungspsychologische Notwendigkeit zurückzuführen, die widerstrebenden Energien zwischen makrokosmischer Schöpfung und dem seelischen Mikrokosmos auf unterschiedlichen Erregungsniveaus auszubalancieren. Ein solch dynamisches Modell allein kann den modernen Leser davor bewahren, Allegorie in der ästhetischen Tradition des 19. Jahrhunderts mit „Entseelung oder Entkörperung” zu verwechseln, als ob Allegorien lediglich eine Idee verkleidet visualisierten und in der erzählten Handlung bloße Personifikationen statt lebendiger Gestalten auftreten ließen: „ihnen [ist] die Seele ausgeweidet, ein Begriff dafür hineingestopft, sie thun nur so, als handelten sie, es sind ausgebälgte Puppen”.6 Für die vormoderne Poetik gilt das genaue Gegenteil: In jeder allegorischen Dichtung spielt sich die dynamischste und subtilste Formung des seelischen Pneumas ab, die man sich vorstellen kann.7 Sie arbeitet daran, Welt und Seele, Natur und Moralität miteinander in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen und ihre Kommunikation auf dem Wege der Phantasmenbildung zu steuern.
Die Konsequenzen, die das für das vormoderne Verständnis der ,Metamorphosen‘ Ovids hat, sind entsprechend lehrreich und von mehr als nur antiquarischem Interesse. Sie lassen sich wiederum an den accessus und Kommentaren ablesen, die seit den frühen ,Allegoriae super Ovidii Metamorphosin‘ des Arnulf von Orléans (12. Jhd.)8 versuchen, die einzelnen Verwandlungsgeschichten nach Mustern zu klassifizieren, die den Sinn des paganen Textes in Analogie zu den sensus der Schriftexegese konstruieren möchten. Arnulf unterscheidet entsprechend zunächst drei Typen der Metamorphose: mutatio naturalis, magica und spiritualis, legt das Gewicht mit Blick auf das Gesamtwerk aber vor allem auf die mutatio moralis.9 Ähnlich geht Johannes de Garlandia in seinen ,Integumenta Ovidii‘ (1234) vor. Ihm steht klar vor Augen, was die Aufgabe des guten Erzählers als eines Deuters der Mythen ist:
Nodos secreti denodat, clausa revelat
Rarificat nebulas, integumenta canit.10
Die Knoten des Geheimnisses löst er, das Verborgene deckt er auf,
Er vertreibt die Nebel und beschwört die integumenta.
Mit jenem Distichon weist Johannes auf die vier Modi der Transformation voraus, die er im Anschluss mit den Stichworten ars, natura, typus und magus näher charakterisiert (V.11). Die mutatio artificialis ist eine vom Künstler, die mutatio naturalis eine vom Schöpfergott selbst bewirkte Verwandlung; die mutatio typica bezieht sich auf die physiognomische Ausprägung einer moralischen Disposition im Zuge eines Gestaltwechsels (Beispiel: der Mensch, der zum Löwen wird), die mutatio magica auf die Manipulation der Sinneseindrücke bei der Gestaltwahrnehmung (Beispiel: der Fluss, dessen Wellen bergauf zu fließen beginnen). In jedem Fall materialisiert sich in einer Entstehungs- oder Ursprungsszene eine gedachte und geschaute Welt: im mundus materialis ein mundus ydealis.11 Sie beruht folglich nicht einfach auf den Gesetzen der Physis, sondern auf denen der Physiologie und Psychomotorik des Körpers und seines Wahrnehmungsapparats.
Signifikanter noch für die Bestimmung der ,Metamorphosen‘ als eines mittelalterlichen Bildungsgegenstandes scheint mir aber der Prolog des altfranzösischen beziehungsweise mittelenglischen ,Ovide moralisé en prose II‘. Sein Verfasser bzw. Übersetzer begreift die Transformation der körperlichen und seelischen Metamorphose in eine vielschichtige Wissensform als konsequente Fortschreibung der Metamorphose durch ihre Auslegung. Daher begnügt er sich nicht damit, den Titel des Epos im Sinne des Ovid‘schen Proömiums durch „Verwandlung von Gestalten in neue Körper” wiederzugeben. Vielmehr sieht er den Gestaltwandel mit der Verschränkung der Erzählungen untereinander und sogar mit ihrer Interpretation kontinuierlich verbunden.
Il imposa nom Metamorphose, qui sonne ou vault autant a dire comme transmutacion dune fable en vne autre ou lynterpretacion dicelles, car lui, voyant tant les poetes Latins comme les Grecz de parauant son temps, auoit touchie et escript pluiseurs fables et icelles passé superficielement, sans ce quilz eussent exprime leur entendement ne leur congnoissance.
He imposed the name Methamorphose whiche is asmoche to say as transmutacion of one fable in to anoþer or interpretacion of theym, for he seeng as wel the Latyn
poetes as the poetes of Grece, that hade ben to fore hym and hys tyme, hade touched in wrytyng many fables and them passed superfycyelly without expressynge theyre knowledge or entendement.12
Der Verzicht auf allegorisch kommentierende Fortschreibung, dessen sich die oberflächlichen Mythensammler vor Ovid schuldig gemacht hät-
ten, sei der eigentliche Grund für dessen Mythenrevision. Ovid ist also in den Augen seines mittelalterlichen Auslegers nie ein bloßer Mythenerzähler gewesen, sondern der initiale Allegoriker, und seine mittelalterlichen Kommentatoren, die sich darüber im Klaren sind, setzen mit ihren Nachdichtungen und Allegoresen seine Intention nur konsequent und radikalisierend fort. Sie erkennen – besser als ihre antiken Vorläufer –, dass das Prinzip der Metamorphose von vornherein in der Form verankert und nicht schon durch den Stoff realisiert ist. Sie betrachten folglich die materia der Verwandlungserzählung als etwas, dem allererst in der Wiederaufnahme und kommentierenden Fortschreibung ein besonderes Wissen, ein eigentümlicher Sinn, ein energetischer Überschuss in Form von vires und virtutes abgewonnen werden kann und muss.
Mit einer solchen Auffassung, die den mittelalterlichen Nachdichtern und dichtenden Exegeten Ovids den modernen Vorwurf eingehandelt hat, sie seien durch das Anlagern poesiefremder Wissenselemente eher mit dem „undoing of Ovid the storyteller”13 als mit dessen Würdigung beschäftigt, sind diese der Ovidianischen Poetik wesentlich näher als die heutigen Ovid-Versteher. Das möchte ich in einer Doppellektüre der Daphne-Episode vorführen: erst der prototypischen Version aus dem 1. Buch der ,Metamorphosen‘, dann ihrer Bearbeitung und Auslegung im ,Ovide moralisé‘ (1309–1320).14 Ovid selbst setzt die Serie der allegorischen significationes mit einer amplifikatorischen Geste in Gang. Denn er verknüpft die Metamorphose Daphnes eng mit der vorangehenden Episode von Apollon, dem Pythontöter. In einer solchen Konfiguration codiert er die moralische Dimension des Verwandlungsvorgangs. Die moralisatio ist narrativ und exegetisch weitaus mehr als ein Zuschreiben fixer Werte oder das Applizieren einer normativen Ethik auf einen antiken Mythenstoff. Sie partizipiert – im Gegenteil – ihrerseits an der transformativen Dynamik der Metamorphose, genauso, wie es der oben zitierte Prosa-Kommentar versteht: im Sinne einer gleichberechtigten, bruchlos im Erzählen wie im Kommentar sich vollziehenden transmutacion of one fable in to anoþer or interpretacion of theym.
Dass die ,Daphne‘ Ovids von einem Wertekonflikt ausgeht, zeigt sich daran, dass er die Erzählung von der jungfräulichen Nymphe mit einer anderen verschränkt: Bevor Apollon als Jäger seiner „ersten Liebe” auftritt, exponiert Ovid ihn in seiner Rolle als Sieger über Python, den drachenartigen Sohn der Gaia. Dem primus amor Phoebi (Met. I, V. 452) – zugleich dem ersten erotischen Sujet der ,Metamorphosen‘ – steht so die Ursprungsgeschichte seines honor, seiner Verehrungswürdigkeit als Zivilisationsbegründer, gegenüber, der das Ungeheuer der Urzeit dank seiner unfehlbaren Pfeile besiegt und dadurch zum Kultgründer der Pythischen Spiele wird. Dass man dort um Siegeskränze kämpft, gibt dem Erzähler Anlass, über die Herkunft des Lorbeers, des Apollon geweihten Baumes, zu sprechen. Dazu verwandelt er den (in der Augusteischen Zeit höchst brisanten) Wertekonflikt zwischen Ehre und Liebe in einen Agon zwischen den göttlichen Bogenschützen Apoll und Amor: Hält sich der eine für den würdigeren, weil alles treffenden Schützen, so der andere für den mächtigeren, weil er selbst den Schützen trifft: filius huic Veneris „figat tuus omnia, Phoebe, / te meus arcus” ait (Ihm antwortete der Sohn der Venus: „Mag dein Bogen alles treffen, o Phoebus – meiner trifft dich!”, Met. I, 463f.). Schon beim Übergang von einer Mythe zur nächsten passiert der Leser also die Grenze zur moralisierenden Allegorie. Die Kommentatoren des Mittelalters brauchten daher der Metamorphose Daphnes keine Gewalt anzutun, sondern nur der Ligatur der beiden verknüpften Episoden zu folgen, um auf kürzestem Weg die Tropologie des sensus moralis aufzudecken. Sie konnten dabei auf das für Ovids metamorphotische Poetik charakteristische „fluide System” stoßen, das die agonale Situation nicht einfach nach der einen oder nach der anderen Seite hin aufzulösen versucht, sondern die Konfliktpositionen dynamisiert und ineinanderfließen lässt. So entstehen Turbulenzen und aufeinander reagierende Schwankungen der Affekte eher als fixe Bewertungen. Das heißt im gegebenen Fall: honor und amor werden als Triebkräfte – die beiden stärksten, die es (mindestens in einer Adelsgesellschaft) gibt – in einem unaufhörlichen Kräftespiel dargestellt, das in einer allegorisch-narrativen Dynamik zur Anschauung gebracht wird.
Das Daphne-Apollon-Geschehen ist mithin schon durch die kompositorische Technik Ovids als ein innerer, impliziter Schauplatz widerstreitender und
zugleich miteinander verbundener, aufeinander reagierender Affekte in Szene gesetzt. Seine äußeren Impulse erhält das Drama durch den goldenen und durch den bleiernen Pfeil, den Amor – das ist bezeichnend für seine Volatilität – vom Musenberg Parnass, also aus dem Zentrum des gegnerischen Territoriums, auf den Rivalen abschießt: den ersten, Liebe unwiderstehlich generierenden gegen Apollon; den zweiten, Liebe abhorreszierenden gegen Daphne. Der erste infiziert den ohnehin für nymphische Erotik empfänglichen Olympier, der zweite ein Mädchen, das sich von Natur aus nichts sehnlicher wünscht als eine dianenhafte Existenz in unbezwinglicher Jungfräulichkeit. Insofern treiben die Pfeile Amors nur bestehende Dispositionen hervor. Sie verdinglichen, symbolisch verdichtet, Passionen, die in den getroffenen Psychen längst angelegt sind. Zugleich setzen sie zwei miteinander korrelierte Dynamiken des Begehrens15 in Gang, die
Apollons und Daphnes Wesen überschreiten und insofern beide einer neuen Form bedürfen: Apoll wünscht die Vereinigung mit Daphne so stark, dass in Vorausdeutung der Metamorphose der Erzählerkommentar lautet: quodque cupit,
sperat, suaque illum oracula fallunt – „was er begehrt, erhofft er: Da täuscht ihn sein eigenes Orakel!” (Met. I, 491). Der nicht nur mit Pfeilen, sondern sonst auch mit seinem prophetischen Wort Unfehlbare zielt voller Liebeshoffnung und wird danebentreffen,16 so dass bereits an diesem Punkt Amor den Agon für sich entscheidet, wie Apollon wenig später eingestehen muss: „Mein Pfeil trifft zwar ins Ziel, doch gibt es einen Pfeil, der noch genauer ins Ziel geht!” (certa quidem nostra est, nostra tamen una sagitta / certior, Met. I, 519f.). Ebenso wird die auf Unberührbarkeit fixierte Daphne ihrer Schönheit wegen den Wunsch, das ungestörte Leben einer Jägerin in Wald und Wildnis zu führen, nicht verwirklichen können. Sie wird selbst zur Gejagten und steigert durch die Fluchtbewegung, mit der sie Apollon zu entgehen versucht, nur noch die Wirkung ihrer forma und das Verlangen ihres Verfolgers danach.
Zugleich ist Ovids Erzählung so gestrickt, dass die beiden divergierenden Wunschmuster sich dennoch verwirklichen, wenn auch anders, als von den Protagonisten vorgesehen und ihren ursprünglichen Intentionen gegenüber verschoben: So spricht im Zuge ihrer Flucht Daphne, als sie merkt, dass ihre Schnelligkeit das erotische Phantasma Apollons bestärkt, den Wunsch an ihren Vater, den Flussgott Peneios, aus: qua nimium placui, mutando perde figuram! (Met. I, 547: „Zerstöre durch eine Verwandlung diese Gestalt, in der ich allzu sehr gefiel!”) Das geschieht in der Tat: Indem die fliehende Daphne aus der Bewegung heraus zu einem biegsamen Lorbeerbaum mutiert, verliert sie ihre alte Gestalt und formt sich in einen neue um, in der sie sich weiter – auch körperlich – dem Zugriff ihres Verfolgers entziehen kann:
Er legt die rechte Hand an den Stamm und fühlt noch, wie die Brust unter der frischen Rinde bebt, umschlingt mit den Armen die Äste, als wären es Glieder, küßt das Holz – doch das Holz weicht den Küssen aus. (refugit tamen oscula lignum, Met. I, 556)
Ähnlich Apollon: Zwar kann er sich nicht mit Daphne vereinigen, doch er erhält an ihrer statt den Lorbeer, einen Zweig jenes Baumes, der seither für seine göttliche Gegenwärtigkeit steht und dessen Laub er als sein Attribut stets mit sich führen wird:
„Da du nicht meine Gemahlin sein kannst, wirst du wenigstens mein Baum sein. Stets werden mein Haupthaar, mein Saitenspiel, mein Köcher dich tragen, Lorbeer. […] Und wie mein Haupt im ungeschorenen Haarschmuck stets jugendlich ist, so trag auch du fortwährend als Ehrenschmuck dein Laub.” (tu quoque perpetuos semper gere frondis honores, Met. I, 565)
Damit aber nicht genug: Nachdem Apollon der neuen Form des Baumes seine höheren Weihen zugesprochen hat, endet die Metamorphosen-Geschichte mit dem entscheidenden Satz (einer grandiosen Abbreviatur der gesamten Dichtung): finierat Paean (Met. I, 566). Das heißt nicht nur, dass Apollons Rede hier schließt (insofern „Paian” sich als Epiklese des Gottes verstehen lässt). Es bedeutet darüber hinaus, dass hier der Paian endet: das Kultlied, das in der Rede des Gottes sich erstmals manifestiert als Urmuster des apollinischen Gesangs. Paian und Lorbeer, als artifizielle Form und naturhafter Inhalt ebenso voneinander getrennt wie als erotisches Phantasma und imago zweier gegensätzlicher, aber korrelierter Begehren untrennbar aufeinander bezogen, wären also jene beiden Ausprägungen neuer, Natur und Kunst verknüpfender Körper, nach denen die stürmenden Affekte – ohne es aus sich heraus steuern zu können – streben, um sich im Kraftfeld der Metamorphose (ihrer Moralität) zu reformieren. Sie sind insofern dingliche Ausformungen von Affekten im Zuge der Ovidianischen Allegorisierung des Mythos.
Entsprechend findet die Logik der Daphne-Erzählung in einem Satz Apollons, der zunächst widersinnig erscheinen mag, ihre präzise, zum Appell verkürzte Formulierung: moderatius, oro, / curre fugamque inhibe: moderatius insequar ipse (Met. I, 511f.) – „Lauf, bitte, langsamer / und zügle deine Flucht! Dann werde ich dich langsamer verfolgen!” Natürlich liest sich sein Angebot, die Verfolgung in gleichem Maße mit der verminderten Geschwindigkeit der Flucht seines Opfers zu verlangsamen, wie ein zynischer Witz,17 wenn man es auf die manifeste Asymmetrie des Machtverhältnisses zwischen Jäger und Gejagter bezieht; nicht aber, wenn man die Kräfteverhältnisse zwischen den triebgelenkten Seelen bedenkt. Dann nämlich zielt die Formel statt auf die Welt der physischen Präsenz und ihres Ungleichgewichts auf diejenige latente der psychischen Intensität: auf die dynamische Allegorie, die sich abspiegelt in der Amplitude zwischen ausladender Schilderung der Flucht und sententiöser Zuspitzung der Triebkräfte. Ihre Skala vereinigt die beiden von Amors Pfeilen Traumatisierten in einem spannungsvollen energetischen System kommunizierender Anziehung und Abstoßung: Je niedriger der Ausschlag der Erregung aufseiten der Anziehung ausfällt, desto merklicher sinkt sie aufseiten der Abstoßung (und umgekehrt bei ansteigender Spannung). In Daphne und Apollon, allegorisch transformiert zu Lorbeer und Paian, verdichtet sich so eine intensive, energetisch hoch aufgeladene Korrelation neuer Formen.
Der Reflex solch elementarer Psychodynamik fin-det sich ungeschwächt im altfranzösischen ,Ovide moralisé‘ und seiner sensus-Allegorese des Daphne-Mythos wieder:18
- Einer ausführlichen, amplifizierenden Wiedererzählung der Daphne-Metamorphose, die besonderen Wert auf die Beweglichkeit und Geschmeidigkeit des erotischen Phantasmas der Nymphe legt, schließt sich eine noch weit ausführlichere, gestufte significatio an. Sie hält zunächst einmal den topographischen Rahmen und die damit verbundenen natürlichen Bedingungen der materia fest. Secundum naturam et ad litteram zeigen der Flussname Peneus die Fülle der Feuchtigkeit und der Name des Phoebus Apollon die Sonnenhitze an, die der Lorbeerbaum, gr. δάφνη, beide zum guten Gedeihen benötigt. Von jener elementaren lectio physica, wie Andreas Speer eine solche „methodische Parallelisierung von naturhaft-physikalischer und dem Wortsinn folgender Auslegung” nach Thierry von Chartres (Mitte 12. Jhd.) nannte,19hebt sich der allegorische Schriftsinn in vier Durchläufen ab.
- Der erste Aufschwung verwandelt die physikalisch-litterale Basis des Stoffes in die Allegorie des sensus historicus. Der historische Sinn befindet sich zwar an der Oberfläche eines Narrativs, das sich kontinuierlich und teleologisch von einem Anfang über eine Mitte zum Ende hin entwickelt. Das macht die historia aber noch lange nicht identisch mit der Positivität von Tatsachen. Denn schon die Wahrnehmung eines geradlinigen Erzählstrangs ist keine primäre Naturgegebenheit mehr, sondern bereits eine exegetische Leistung und Entscheidung des Hörers oder Lesers. Im Falle der Daphne-Metamorphose fördert die historisierende Allegorese eine euhemeristische Deutung zutage. Sie erzählt vom Schicksal einer jungen Frau, der Tochter des Königs Peneus, die um jeden Preis ihre Unberührtheit vor ihrem Verfolger bewahren möchte und auf der Flucht stirbt. Ihr Grab befinde sich an einer für jeden auffindbaren Stelle unter einem Lorbeerbaum.
- Die zweite Wandlung rückt die klimatischen Aspekte der significatio in eine typologische Beziehung zur geistlichen Dimension der Glaubensgewissheit. Über die Temperamentenlehre wird das Zusammentreffen von Daphne und Apollon mit der Prädisposition zur Reinheit und zur Weisheit in Verbindung gebracht: Daphne erscheint als zweite Diana dem Mond, Apollon als Phoebus der Sonne zugeordnet. Die Wechselwirkung ihres makrokosmischen Kräftespiels bricht die Allegorese dann um auf die virtus Daphnes. Das geschieht auf einem bemerkenswerten, höchst willkürlich anmutenden Umweg: über den Bezug zum neutestamentlichen Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen (Mt 25,1–13). Wo die Klugheit sich für die Ankunft des Königs gerüstet zeigt, treffen beide aufeinander wie zu einer Hochzeit. Die Ovidianischen Transformationen – Daphnes in einen Lorbeerzweig und Apollons in das hymnische Kultlied des Paian – werden so brautmystisch überführt in die virginitez der sponsa und in das Bild des sponsus, des himmlischen Bräutigams, der im Brautlauf die Unberührtheit seiner Erwählten allererst prüft und zweifelsfrei zur Erscheinung bringt.
- Der dritte Aufschwung nimmt von jenem sensus typologicus seinen Ausgang und begibt sich in die seelische Dimension des sensus moralis oder tropologicus. Ausgelegt werden auf dieser Stufe das Element „Baum” (hinsichtlich der Unbeugsamkeit der Seele gegenüber den stärksten Stürmen der Leidenschaft) und die Qualität „grün” (mit Blick auf ihre Lebenskraft, die aber jungfräulich bleibt und keine Frucht bringt, bis auf den singulären Fall der Geburt Christi aus der Jungfrau Maria).
- Die vierte Stufe des sensus anagogicus führt den Deutungsimpuls des sensus tropologicus konsequent weiter zur Identifikation Daphnes mit Maria, da beide sich jeder fleischlichen Berührung entziehen, und Apollons mit Christus, weil er sich liebend zur Jungfrau begibt, um sich durch sie zu inkarnieren – so, als zeichne sich in der Textur des antiken Stoffs über die Stufen seiner allegorischen Metamorphose letztlich das christliche Mysterium der Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen ab.
Beim Durchlaufen jener diversen Stufen der Sinne geht es nicht einfach darum, einen Gipfel der Erkenntnis bis zur spirituellen Schau zu erklimmen. Vielmehr wird in der Bewegung von einem sinnlichen Niveau zum anderen eine transformative pneumatische Dynamik ausgelöst, die es letztlich gilt, auf den Buchstaben der Geschichte zurückzulenken und in ihn einzuspeisen, damit so die Potenzialität des Sinns in die Aktualität der Wahrnehmung verwandelt werden kann. In der Abfolge jener sensus-Metamorphosen des Daphne-Mythos verfehlen die allegorischen Sinnzuschreibungen des ,Ovide moralisé‘ daher die Poetik Ovids nicht; keineswegs begraben sie deren Litteralsinn unter einem Schwall willkürlicher Deutungen. Indem sie vielmehr die gestuften Intensitäten der Allegorese in den Buchstaben der Metamorphose einsenken, nehmen sie Ovids Intention als Allegoriker des antiken Mythos auf und verschärfen sie, indem sie seine materia unter immer neuen Aspekten entfalten und das dadurch aufgeschlossene Kräftespiel in eigene, prägnante Wertbegriffe überführen. Allegorie und Allegorese bilden so in Erzählung wie in Kommentar den Treibsatz eines produktiven Nachlebens der Antike.20 Sie machen Ovids ,Metamorphosen‘ zu einem exemplarischen Bildungsgegenstand mittelalterlicher Poetik und Hermeneutik.