1Antike ist in den neuen Bundesländern seit 1989/90, wie man etwa bei der Lektüre von Zeitungen feststellen kann, wieder in, so wie Christliches und Kirchliches wieder in ist, auf jeden Fall verbal. Meines Erachtens ist beides weithin eine Mode, aber immerhin. Journalisten besinnen sich auf ihre in größerem oder meist kleinerem Umfang vorhandenen Lateinkenntnisse („der Corpus“, „nolens volens“ auf einen Plural bezogen) und werfen mit lateinischen Brocken um sich: Sie sagen nicht mehr „von Anfang an“, sondern „ab ovo“ (bekanntlich lobt Horaz Homer, dass er den Trojanischen Krieg nicht „vom Ei der Leda an“ besingt; Zeus, in Gestalt eines Schwans, hat eine Affäre mit Leda, Ergebnis dieses Tête-à-Têtes sind zwei Eier, aus denen die Dioskuren hervorgehen und die „Schöne Helena“, die später den Anlass zum Trojanischen Krieg gibt). Man liest oder hört oft nicht mehr „ausführlich“, sondern „in extenso“, nicht mehr „Verfahrensweise“, sondern „modus procedendi“ oder lieber noch „das Prozedere“, mit z und mit großem P (das ist auch bei Wissenschaftlern außerordentlich beliebt), und sie sagen nicht mehr „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ (ein Gedanke, der zu der Prägung „Wolfsgesetz des Kapitalismus“ führte), sondern „Homo homini lupus“. Dieses Sprachgut hat es immer schon gegeben, aber zumindest in den DDR-Medien war es nicht sehr verbreitet. Umso mehr seither auch in Ostdeutschland.
Wir haben es mit Redeschmuck zu tun, mit lateinischen Zitaten (griechische spielen fast keine Rolle) aus der Antike oder aus späteren Zeiten bzw. mit Geflügelten Worten. „Geflügelte Worte“ nannte 1864 Georg Büchmann sein Lexikon von Zitaten aus der gesamten Weltliteratur. Er griff die Homerische Prägung ἔπεα πτερόεντα auf, gesagt von Wörtern, die, erst einmal ausgesprochen, wie gefiederte Pfeile dahinfliegen.2 Büchmanns Name diente inzwischen zur Bezeichnung seines immer wieder aufgelegten Buches: „der Büchmann“, so, wie „der Duden“ nach dem bekannten Orthographen Conrad Duden heißt. Die DDR schuf sich übrigens aus Valuta- und ideologischen Rücksichten ihren eigenen, nicht schlechten Büchmann, der allerdings aus urheberrechtlichen Gründen nicht „Büchmann“ heißen durfte, sondern nur, mit einem Sachtitel „Geflügelte Worte“ (Leipzig 1981, von einem Team unter Leitung von Kurt Böttcher herausgegeben). – Wenn bei Spruchgut, das Erfahrungen von gewisser Allgemeingültigkeit (z.B. Errare humanum est) in sprachlich, rhythmisch, gegebenenfalls metrisch einprägsamer, oft auch in bildlicher Form präsentiert, der Verfasser bzw. der Anlass nicht mehr bekannt ist, so bezeichnen wir es bei in sich geschlossenen Aussagen in Form von (z.T. elliptischen) Sätzen als Sprichwort (Homo homini lupus), bei Syntagmen je nachdem als sprichwörtliche Redensart (ab ovo), sprichwörtlichen Vergleich (melle dulcior) usw. Ist dagegen der Verfasser bekannt, sprechen wir von einem „Geflügelten Wort“. Einerseits greifen Dichter/Schriftsteller auf bereits in einer Sprachgemeinschaft umlaufendes Spruchgut zurück, dessen Urheber nur eben oft nicht mehr bekannt sind. (Der englische Politiker Lord John Russell hat im 19. Jh. das Sprichwort definiert als “The wit of one, the wisdom of many“.) Andererseits werden von Dichtern geprägte Wendungen auf Grund der genannten Charakteristika zu Sprichwörtern, die jeder benutzt, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass sie etwa aus Schillers „Wilhelm Tell“ stammen wie „Die Axt im Haus erspart den Zimmermann“, ein Vers, der seinerseits auf ein wesentlich älteres Sprichwort zurückgehen mag. Die Entwicklung Sprichwort > Schiller-Passage > Sprichwort ist nicht selten. Darüber wird gelegentlich reflektiert. So heißt es im „Wallenstein“: „Erinn’r ich an den alten Spruch ‚Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben‘“. Für das Sprichwörtlichwerden spielen übrigens außer der sprachlichen und sonstigen Formung, die bei Schiller in hohem Maße gegeben ist, noch andere Faktoren eine Rolle, so, gerade im Fall Schiller, seine Bekanntheit als Schul- und als Bühnenautor!3 Eine annähernd einheitliche und damit aussagekräftige Abgrenzung von Geflügeltes Wort, Zitat usw. gab es weder im Lateinischen noch im Altgriechischen. Die Klassische Philologie ist da schlechter dran als die überwiegend auf Neuzeitliches gerichtete, außerordentlich anregende und ertragreiche internationale Sprichwortforschung, wie sie vor allem durch Wolfgang Mieder unter anderem mit der von ihm herausgegebenen sehr nützlichen Zeitschrift „Proverbium“ (zuletzt Bd. 33/2016) und der „International Bibliography of Paremiology…“ [zu griech. paroimía „Sprichwort“ in dem oben zitierten weiten Umfang von dtsch. „sprichwörtlich“], 2 Bde., Berlin, New York 2009 repräsentiert wird.
Standardwerk für das Lateinische ist noch immer A. Otto, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, Leipzig 1890; dazu publizierte Reinhard Häussler „Nachträge […]“, Darmstadt 1968; die von Häussler in Angriff genommene dringend notwendige Neufassung des „Otto“ hat er wohl nicht mehr abschließen können. Vorrangig an Nichtfachleute wenden sich zahlreiche Bücher von Klaus Bartels, so: Veni vidi vici. Geflügelte Worte aus dem Griechischen und Lateinischen (mit ständig erneuerten Auflagen), der Titel seines Buches ist selbst ein Geflügeltes Wort: Mit „Veni vidi vici“ berichtete Cäsar über einen erfolgreichen Feldzug in Kleinasien sprachlich und rhythmisch unüberbietbar: dreimal dieselbe grammatische Form/Endung/Silbenzahl, außerdem eine Alliteration. Die von Plutarch überlieferte griechische Fassung – das muss ich als Gräzist leider sagen – ist längst nicht so eindrucksvoll: ἦλθον, εἶδον, ἐνίκησα. Cäsars lateinisches Diktum existiert, in italienischer Aussprache, in einem Lied von Erika Pluhar, die sich an einen italienischen Lover erinnert: „Veni vidi vitschi sagtest du“.
Ständig erscheinen neue Bücher mit lateinischem Sprachgut. Von Haus aus Griechisches wird ebenfalls häufig in lateinischer Form zitiert, z.B. Texte des Neuen Testaments. Hier nenne ich nur einige mir besonders wichtig erscheinende Werke. Nicht eingegangen sei auf die Bücher von Karl Bayer und Hubertus Kudla. Zu Helfer (s.u.) auch Gnomon 69, 1997, 368ff. und Vox Latina, 42 (Fasc. 165), 2006, 418. Erste Gedanken zum Thema äußerte ich in verschiedenen in- und ausländischen Fachzeitschriften. Einen einschlägigen Vortrag hielt ich u.a. vor längerer Zeit an der Universität Tbilisi. Stellenweise greife ich darauf zurück; hier ist der Vortragscharakter beibehalten, Literatur wird nur in Auswahl zitiert.
Zu Theorie und Geschichte von Spruchgut s. M. Eikelmann, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft Bd. 3, Berlin, New York 2003 (Dort fehlt Mieder, Deutsche Sprichwörter und Redensarten, Stuttgart 1983, mit Anregungen für die Arbeit mit Spruchgut in der Schule.)
In allen hier genannten Werken haben die Autoren/Herausgeber eine subjektive Auswahl getroffen. Man vermisst dieses und jenes und findet manches überflüssig. So ist es verständlich, dass es auch ein Buch „Ungeflügelte Worte“ mit dem Untertitel „Was nicht im Büchmann stehen kann“ gibt, von dem Religionswissenschaftler Hans-Joachim Schoeps, 3. Aufl. Hildesheim 2005.
Renzo Tosi, Dizionario delle sentenze latine e greche. 10000 citationi dall‘ antichità al Rinascimento nell originale e in traduzione, Mailand 1991; für den Hinweis darauf danke ich Winfried Bühler. Zu dessen monumentalem Thesaurus griechischer Sprichwörter, die zu uns oft in lateinischer Fassung gelangt sind, s. J. Werner GGA 240, 1988, 92-96 bzw. DLZ 109, 1988, 366–369.
Besonders wichtig für die Neuzeit, wo uns Otto und andere oft im Stich lassen, ist Christian Helfer, „Crater dictorum. Lateinische Sprich- und Schlagwörter…“ aus dem 15.–20. Jh., 2. erw. Aufl. Saarbrücken 1995. Die in Helfers Lemmata artikulierten Sachverhalte bzw. Gedanken stammen zwar vielfach schon aus dem Altertum, doch sind die von Helfer mitgeteilten Fassungen durchweg nachantik. Helfer bietet in Satzform z.B. an: Natura non facit saltum (heute ist bekannter die Fassung des Botanikers Lenné mit Akkusativ Plural: … saltūs); Naturalia non sunt turpia; Ignoramus et ignorabimus (Schlagwort seit dem Physiologen Dubois-Reymond, 19.Jh., der damit aber nicht einem absoluten Agnostizismus das Wort reden wollte), ebenso wenig wie Sokrates mit dem ihm zugeschriebenen Apophthegma „Ich weiß, dass ich nichts weiß“4; Nemo contra Deum nisi Deus ipse (das Motto des 4. Buches von Goethes „Dichtung und Wahrheit“); Introite, nam et hic dii sunt (Lessing, „Nathan der Weise“, geht auf Heraklit zurück); Cuius regio, eius religio (Formel des Augsburger Religionsfriedens von 1555 im Gefolge der Reformation); Habemus Papam (die nach Papstwahlen übliche Formel); „Divide et impera“ als Charakterisierung z.B. der britischen Kolonialpolitik in Indien; hochaktuell das in Deutschland seit 1989 viel diskutierte „Nullum crimen / Nulla poena sine lege“ (Es geht darum, ob ein früherer DDR-Bürger für Handlungen bestraft werden kann, die zwar nach BRD-Gesetzen strafbar waren, nicht aber nach DDR-Gesetzen.)
An sprichwörtlichen Redensarten nennt Helfer z.B. das auf feudale Gebräuche zurückgehende „Ius primae noctis“ (im Mittelalter das „Recht der ersten Nacht“ des Gutsherren); nicht das unter anderem als Titel einer Streitschrift Ulrichs von Hutten und als Motto der 2. Auflage von Schillers „Räubern“ bekannte „In tyrannos“; „Citius altius fortius“ (Motto der Olympischen Spiele der Neuzeit); „LTI“ („Lingua tertii imperii“, Titel von Victor Klemperers Buch über den Jargon des „Dritten Reiches“); Mundus vult decipi, ergo decipiatur; Gaudeamus igitur; Sub omni canone, im Deutschen gewöhnlich in der nur scherzhaft zu nehmenden Form „unter aller Kanone“ zitiert, es gehört zu griech. Kanōn „Maßstab“ und hat nichts mit Artillerie zu tun. Gerhart Hauptmann hat in „Rose Bernd“ noch eins draufgesetzt, indem er die Figur sagen lässt: „So gemein is der Mensch…, so unter aller Kanallje nichtswirdig…“; der Dirigent Hans von Bülow sagte über einen Tenor, über den er sich geärgert hatte: „Früher war er Artillerieoffizier, jetzt singt er unter aller Kanone.“ Helfer gibt einige Verwendungen von bekannten lateinischen Zitaten bzw. Anspielungen auf sie, so zu „Et in Arcadia ego“, das vor allem als Motto von Goethes „Italienischer Reise“ bekannt ist (dort nur in der Erstausgabe). Ergänzt sei aus dem schönen Buch meines leider viel zu früh verstorbenen Latinistik-Kollegen Ekkehard Stärk „Campanien als geistige Landschaft“ (1995) die Kapitelüberschrift „Et in Campania ego“. Zu dem vielzitierten „Ex oriente lux“, das auf die (lateinische) Vulgata-Übersetzung des Propheten Ezechiel zurückgeht, sei hingewiesen auf die Formel, die in der mit der Sowjetunion verbündeten DDR geprägt wurde: „Ex oriente pax“; treffend die Weiterführung bei dem polnischen Aphoristiker Stanisław Łec, der leidvolle Erfahrungen mit der östlichen Mangelgesellschaft wie folgt ausdrückte: „Ex oriente lux, ex occidente luxus“. Auch Varianten von bereits Antikem verzeichnet Helfer, so zu Senecas ironischem „Non vitae, sed scholae discimus“, den wohl von einem neuzeitlichen Schulmeister stammenden ‚aufbauenden‘ Spruch „Non scholae, sed vitae discimus“. Man vermisst den päpstlichen Segen „Urbi et orbi“, in den 80er Jahren beim Besuch des sowjetischen Staatspräsidenten im Vatikan prägte man „Urbi et Gorbi“. Das von Franz Joseph Strauß viel zitierte „Pacta sunt servanda“, das auf eine ähnliche Formulierung Ulpians im Codex iuris civilis zurückgeht: Strauß, obwohl entschiedener Kommunistengegner, wollte diese juristische Maxime unbedingt auch auf Verträge zwischen BRD und DDR angewandt wissen. „Res severa verum gaudium“ ist seit Mendelssohn Bartholdy Motto des Leipziger Gewandhauses. Diese auf Seneca zurückgehende Sentenz findet sich heute als Inschrift an der Orgel. – Inschriften werden parodistisch umgeformt: so die an der Uhr des neuen Rathauses in Leipzig. „Mors certa, hora incerta“ wird interpretiert als „Todsicher geht die Uhr falsch“. Die Inschrift an der ehemaligen königlichen Bibliothek in Berlin „Nutrimentum spiritūs“ führt bei Vernachlässigung der Länge des letzten u zu der Übersetzung „Schnaps ist ein Nahrungsmittel“. Ein Beispiel aus dem Deutschen für Verballhornungen von geläufigem Spruchgut, in satirischer Absicht noch zur DDR-Zeit auf Politbüro-Bürokraten gemünzt: Der Axen im Haus erspart den Sindermann, Erich währt am längsten, W/alter schützt vor Torheit nicht, Stoph bleibt Sch/dōf. – Zu ergänzen wäre: „In vino veritas“ wird zu „In vino feritas“ oder in Bezug auf die Darstellung eines Trinkers durch Harald Juhnke zu „In vino vanitas“. Begrüßten die Gladiatoren beim Einzug in die Arena den Kaiser „Ave, Caesar, morituri te salutant“, so schrieben Gymnasiasten einem langweiligen Lehrer an die Tafel „Ave, magister, dormituri te salutant“. Zu „Quod licet Iovi …“ wurde in einer Sendung des Kabaretts „Scheibenwischer“ 1995, als es um Machos ging, gebildet: „Quod licet Iovi, non licet Chovi“.
Einst waren bei dem polnischen Gräzisten Jerży Łanowski Gräzistinnen zu Gast, die sich mit Aristophanes beschäftigten. Łanowski begrüßte seine Kollegin Komornicka unter Umbiegung des dem Aristoteles zugeschriebenen Diktums „Amicus Plato, sed magis amica veritas“ wie folgt: „Amicus Aristophanes, sed magis amica Komornicka“. – Vor einer Bundespräsidentenwahl in Deutschland gab es eine Wählerinitiative zugunsten jenes multimedialen Künstlers mit dem Pseudonym „Loriot“ („Loriot for president“), der zumindest einige gebildete Persönlichkeiten angehört haben müssen; sie spielte auf den bürgerlichen Namen des Künstlers – Victor bzw. Vicco von Bülow an: „Veni vidi Vicco“. – Zu „Cogito, ergo sum“5 – nachantik, von Descartes (Vergleichbares bei Cicero und Augustinus) gibt es verschiedene Umformungen, so den Spontispruch aus der Zeit der Studentenbewegung Ende der 60-er Jahre mit der zunehmenden sexuellen Freiheit: „Coito, ergo sum“. Veränderung des Wortlautes und eine kleine prosodische Lizenz führen von Ovids „Ut desint vires tamen est laudanda voluntas“ zu „Ut desint viri [erstes i kurz], tamen est laudanda voluptas“. Als ich das erste Mal, von Moskau und Leningrad (heute St. Petersburg) kommend, zu Gastvorlesungen in Georgien war und der Dekan Akaki Urušadze mir Tbilisi zeigte, kamen wir an einem der Denkmäler des UdSSR-Gründers vorbei, wie es sie damals in jeder sowjetischen Stadt (und in jeder größeren Stadt im Ostblock) gab. Da hat es den Dekan sehr amüsiert, als ich, das Apophthegma des hellenistischen Malers Apelles „Nulla dies sine linea“, „Kein Tag (vergehe) ohne Linie/Pinselstrich“ variierend, feststellte: „Nulla dies sine Lenin“.
Auch für ein charmantes Bekenntnis zu frühen ‚Jugendsünden‘ taugt der spielerische Bezug auf Antikes: Brecht sagte über ein hurrapatriotisches Gedicht, das er als Gymnasiast auf den Ersten Weltkrieg verfasst hatte „Auch ich habe meine Achilles-Verse.“
„Latein ist tot – Es lebe Latein!“ titelt Wilfried Stroh sein Buch von 2007.