Anmerkungen zu Friedrich Maiers Sammlung Puchheimer Kulturvorträge 

Europa – Seine verborgenen Fundamente: Friedrich Maier hat versucht, sie uns sichtbar zu machen. Und es ist ihm glänzend gelungen. Wie ein professioneller Archäologe hat er diese Fundamente ans Tageslicht befördert, indem er Schicht für Schicht freigelegt hat und die Entwicklung der Geschichte des Geistes sowie von Demokratie und Freiheit in mehr als 2000 Jahren aufzeigt. Leider aber bisher nur für ein ausgewähltes Publikum. Mit der Veröffentlichung dieser brillanten – in Puchheim und an vielen Stätten Deutschlands und darüber hinaus gehaltenen – Reden und Vorträgen im vorliegenden Buch hat der Autor der humanistischen Bildung ein bleibendes Geschenk und einen großen Gefallen getan. Eine solchermaßen geschichtsoffene  Lektüre wäre in den klassischen Fächern an den Gymnasien  eine sinnvolle Forderung und eine wertvolle Bereicherung des humanistischen Gedankens. 

Von den 22 Beiträgen in diesem Buch seien zwei genauer betrachtet. Hier sind Grundgedanken und Absichten des Autors besonders klar und richtungsweisend dargestellt. Sie seien in ihrer Kernaussage kurz angedeutet: 

1. Die »Geburt der Vernunft« – Der »Anspruch des Gewissens«

Die Vernunft erblickte das Licht der Welt in Europa; hier geschah  „das Erdbeben des Geistes“. Es begann mit Thales im 6. Jahrhundert v. Chr. Er fragte nach dem Urbaustein der Welt und vermutete diesen im Wasser. Das war etwas Konkretes. Anaximander ging einen Schritt weiter. Er vermutete  etwas Unbestimmtes, das „apeiron“, als den Baustein der Welt. Das „Seiende“ konnte für ihn nicht sichtbar sein, es musste etwas den Sinnen nicht Zugängliches sein. Während Thales das Wasser, Heraklit das Feuer und Empedokles Feuer,
Wasser, Luft und Erde als die Bausteine des Universums vermuteten, kam Anaximander zur  Abstraktion mit der Erkenntnis, dass das „Seiende“ nicht sichtbar sein könnte. Der Erste aber, der nach den kleinsten geheimnisvollen Einheiten der Natur fragte, war Demokrit, der später als erster „Atomlehrer“ bezeichnet wurde. „Alles entsteht aus den Zahlen“, das war die Erkenntnis von   Pythagoras. „Alles ist Mathematik“ ergänzte später Galileo Galilei. 

Eine praktische Umsetzung ihrer „Entdeckungen“ war Pythagoras und Demokrit fremd, auch waren natürlich die technischen Voraussetzungen dazu noch nicht gegeben. Erst Francis Bacon brachte im 17. Jh. die Wende. Das bisherige Dogma, die Wissenschaft habe sich mit sich selbst zu beschäftigen, so Aristoteles, wurde von Bacon in Frage gestellt. Er forderte, dass das Ziel jeder Wissen-schaft die Herrschaft über alles, über Natur und Menschen,  sein muss: „Kein Wissen ohne Praxis“. Eine ethische Komponente wurde nicht diskutiert, diese hatte  aber bereits etwa 2000 Jahre früher Sokrates ins Gespräch gebracht, indem er das moralische Bewusstsein durch seine Philosophie erweckt hat. Er erkannte im Menschen sozusagen das Gewissen. Der Weg für die angewandte Wissenschaft wurde frei, da Bacon gegen das Dogma von Aristoteles, Wissenschaft habe für die  Wahrheit um ihrer selbst willen da zu sein, protestierte und diese Forderung ablehnte. 

Die technische Revolution war die Folge mit all ihren Wirkungen. Am Ende dieser Entwicklung steht auf der negativen Seite die Wasserstoffbombe, auf der positiven die KI. Das Ergebnis sehen wir heute mit Schrecken und müssen uns fragen, welche Chancen die Menschheit für ihr Überleben hat, wenn wir die Folgen des ungebremsten Fortschritts nicht hinterfragen. Die Möglichkeit dazu hat uns Sokrates gezeigt. Er hat mit seiner Philosophie „die Menschen gezwungen über das Gute und das Böse nachzudenken“, wie Cicero es formuliert hat. Auf solche Gedanken sollten wir hören.

2. »Freiheit auf der Flucht« – »Fehlstart der Demokratie« 

Im letzten Jahrhundert und bis heute können wir diese Entwicklungen in verschiedenen Staaten erleben. „Freiheit auf der Flucht“ in diktatorisch regierten Ländern, „Fehlstart der Demokratie“ sehen wir in Staaten nach der Befreiung vom Kommunismus. Wie war es am Beginn der Geschichte? Solon schuf im 6. Jahrhundert die Grundlage für das Entstehen der  demokratischen Idee. Schon bald musste die neue Staatsform ihre erste Bewährungsprobe bestehen. 

Die Perserkönige versuchten, diese Entwicklung durch den Überfall auf Griechenland hinwegzufegen. Durch Miltiades 490 und 10 Jahre später durch Themistokles – Schlacht bei Salamis – wurde die Verwirklichung der Demokratie  spektakulär gerettet und nebenbei das Abendland vor der  Invasion aus dem Osten. Wie hätte sich wohl Europa entwickelt, wenn Persien damals nicht besiegt worden wäre. 

Es war Perikles, der die Voraussetzung für eine echte demokratische Staatsform schuf, für die sog. Attische Demokratie. Politische Extremisten benutzten ihren damals bereits großen Einfluss auf die Massen, wiegelten sie auf und zwangen Athen in den Krieg mit Sparta. Ein Fiasko für die aufblühende Demokratie. Der Krieg ging verloren, Athen wurde besetzt, 30 Tyrannen übernahmen die Macht und etablierten eine Schreckensherrschaft, die einen Mann so sehr empörte, dass er mit 30 Gleichgesinnten sich dieser brutalen Fremdherrschaft  entgegenstellte und sie bereits ein Jahr später verjagen konnte. Thrasybulos schenkte Athen wieder  Freiheit und Demokratie. 

Jetzt kam es zu einem für den neu startenden demokratischen Staat einzigartigen Beschluss. Der mit dem Spartanerkönig Pausanias geschlossene Frieden beinhaltete auch ein „Gesetz des Vergessens“, durch das die früher begangenen Unrechts-
taten vergeben wurden. Die Bürger konnten ohne gegenseitigen Hass neu beginnen – das erste Amnestiegesetz in Europa. 

In Athen jedoch war das geistige Klima schon von den Anfängen der jungen Demokratie durch sogenannte Volksverführer, den Demagogen, stark vergiftet. Sie lehnten moralische Verantwortung ab, sahen nur den Vorteil und Gewinn des Einzelnen. Ein Mann wie Sokrates konnte diese „Philosophie“ mit seinen Prinzipien nicht teilen, er widersetzte sich publikumswirksam den Verführern, bezahlte aber seinen Mut mit dem Tod. 

Sein Schüler Platon sah deshalb in der wieder etablierten Demokratie, die den Bürgern alle Freiheiten zu geben schien, eine Staatsform, die nicht 

geeignet war, ein Staatswesen zu formen. Er rückte dieses mögliche Staatsmodell in die Nähe der Tyrannei und lehnte es deshalb rigoros ab. In seiner „Politeia“ formuliert er: „Freiheit höhlt die staatliche Autorität aus und verunsichert Gemeinschaft, Familie und Schule“. Dieses Urteil sollte Folgen haben. Die neu gewonnene Freiheit und die Demokratie gingen unter, und Rom konnte zur Weltmacht aufsteigen. 

Über 2000 Jahre dauerte es, bis man sich wieder an die demokratischen Errungenschaften erinnerte. Die französische Revolution, forderte „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“. Die moderne Form der demokratischen Idee  wurde in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 Wirklichkeit. Auf ihr gründete die erste Demokratie Amerikas. Sie wurde letztlich zum Vorbild für Europa, und nicht nur für diesen Kontinent. 

Trotz vieler Umsturzversuche von Diktatoren und Gewaltherrschern ist die Demokratie heute mehr oder weniger stabil in vielen Staaten verankert, als „ziemlich schlechte Regierungsform“ (Wins-ton Churchill), aber immer noch als beste von allen möglichen beurteilt, da die Freiheit der Bürger in  dieser Staatsform doch am gesichertsten erscheint. 

Ob Freiheit auch Frieden bedeutet, das versucht der Autor in einem Gastvortrag an der Universität Wien zu beantworten. In allen Epochen der europäischen Geschichte zeigt er die Problematik auf, die mit Freiheit und Frieden einhergehen. Blickt man auf die griechische und römische Geschichte, so zeigt sich, wie unvereinbar oft Frieden und Freiheit gewesen sind. 

Solche grundlegenden Erfahrungen an antiken Texten seinen Zuhörern, jetzt Lesern zu vermitteln und in ihnen ein Verständnis dafür zu wecken, gelingt Friedrich Maier in faszinierender Weise. Als Kenner und Bewunderer der Antike und als Freund von humanistischer Bildung versteht er es, auch in den weiteren Vorträgen und Reden die Zuhörer/Leser in seinen Bann zu ziehen, welches Thema er auch immer zur Diskussion stellt. Ein Buch, das man nicht in den Schrank stellt, sondern mit Genuss liest. 

Dr. med. Peter und Ingrid Suchan, Coburg

Facharzt für Innere Medizin  – Abitur an einem humanistischen Gymnasium