Florian Knauß, Die Kunst der Antike.
Meisterwerke der Münchner Antikensammlungen,
C.H. Beck-Verlag, München, 2017,
288 Seiten, ISBN: 978-3-406-71175-6,
Broschur 28,00 €

Beim Kongress in Saarbrücken gab es einen Vortrag mit dem gut klingenden Titel: „Apoll, Laokoon und (k)ein Ende? Welche Meisterwerke antiker Kunst sind im Kontext des modernen altsprachlichen Unterrichts noch zeitgemäß?” Die Antwort hat mich damals wohl nicht ganz befriedigt (vielleicht geht das auch nicht in 45 Minuten), weshalb ich mir am Stand des Verlags C.H. Beck den neuen Band von Florian Knauß, dem Direktor der Staatlichen Antikensammlungen in München (seit 2011), besorgt habe: Die Kunst der Antike. Meisterwerke der Münchner Antikensammlungen. Ich wollte die Antwort eines Museumsleiters auf diese Frage kennenlernen. Bei der Berliner Laokoon-Ausstellung am Winckelmann-Institut der Humboldt-Universität konnte ich mir im Katalog „LAOKOON – Auf der Suche nach einem Meisterwerk“ so viel neues Wissen über Laokoon aneignen, dass ich meine Schülerinnen und Schüler gut und gern für dieses Meisterwerk interessieren könnte, nicht nur zu Literaturgeschichte und Archäologie, sondern auch zur Fundgeschichte, dem merkwürdigen Interesse und Desinteresse an diesem Marmorobjekt, seinen technischen Finessen und der reichen Wirkungsgeschichte in ganz Europa. Dass ich als Lehrer damit auf der Höhe der Zeit wäre und bei meinem Lateinkurs Punkte sammeln würde, steht für mich außer Frage. Soviel zu Laokoon. Ohne Input geht es nicht.
Reichlich Material und Hintergrundwissen bietet auch der hier vorzustellende Band über die Bestände der Münchner Antikensammlungen. Die ältesten Schätze des Museums stammen aus der Kunstkammer Herzog Albrechts V., der von 1550 bis 1579 regierte. Wichtige Ankäufe tätigte vor allem König Ludwig I. in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Seit fünfzig Jahren, seit 1967, hat das Münchner Museum sein Zuhause gegenüber der Glyptothek, also dem Skulpturenmuseum, am Königsplatz. Dieses Museum bietet wirklich Spitzenstücke aus der klassischen Zeit – etwa der Keramikkunst – in einer solchen Dichte und Fülle, wie man sie nicht im Louvre, in Athen oder London findet. Der Direktor beider Häuser, Florian Knauß, spricht von einem der am meisten unterschätzten Museen überhaupt. Was er natürlich ändern will.
Viele der Formen der Gefäße, die heute im privaten und öffentlichen Bereich als Blickfang dienen, gehen auf die Antike zurück. Und das Wort „Keramik“ selbst auch. Es heißt nach dem Kerameikos, dem Stadtteil von Athen, in dem die Töpferkunst um 500 vor Christus zur Perfektion gebracht wurde. Nur eines ist seitdem eher aus der Mode gekommen: die Vasen, Schalen, Töpfe figürlich zu bemalen. Die antiken Vasendekorateure aber waren darin große Virtuosen. Ihre dominante Technik war erst Schwarz auf Rot, dann Rot auf Schwarz. Sie schufen damit den Comic einer ganzen Kultur, die Motive waren Mythos, Krieg, Sport, Alltag, Wein, Sex, Tod und Tanz.
Das sollten doch zeitgemäße Themen antiker Kunst sein, die im Kontext des modernen altsprachlichen Unterrichts Platz finden können, zumal wenn sie mit einer unterhaltsamen Note präsentiert werden: delectare et prodesse! Ganz zufällig schlage ich die Seite 205 auf; am Rand steht in Fettdruck: „Lehrer tot – Schule aus.” Was ist passiert? Es geht um zwei Abbildungen auf einer um 470 v. Chr. von dem Athener Duris bemalten Trinkschale. Auf einem Speisesofa liegt ein mit einer Wollbinde bekränzter bärtiger Mann in tadelloser Haltung; er singt ein bekanntes Lied, dessen Anfangsvers vor seinem Mund geschrieben steht. Sein Gesang wird von einem Jüngling auf einer Doppelflöte begleitet. Das Außenbild hingegen zeigt ein wüstes Handgemenge von sechs Personen. Im Bildzentrum hat ein Jugendlicher einen Stuhl zertrümmert und prügelt mit einem Stuhlbeim auf sein Gegenüber ein. Ein Älterer, der mit einem Barbiton, einem Saiteninstrument, dessen Klangkörper aus dem Panzer einer Schildkröte gefertigt ist, zum Gegenschlag ausholt, liegt schon fast am Boden. Dargestellt ist der jugendliche Herakles,
wie er seinem Musiklehrer Linos den Garaus macht. Die vier umstehenden Jünglinge, Herakles' Mitschüler, fliehen erschrocken und gestikulierend vom Ort des Geschehens. Wie kam es zu dieser Tat? „Herakles' Eltern ließen dem Knaben, wie es sich für einen Sohn aus königlichem Haus gehört, die bestmögliche Erziehung zukommen. Mit der musischen Ausbildung betrauten sie Linos, als Sohn Apolls und einer Muse zweifellos ein geeigneter Lehrmeister. Er hat dem jungen Herakles auch Lesen und Schreiben beigebracht. Einige antike Autoren berichten, Linos habe seinen Zögling wegen dessen geistiger Schwerfälligkeit mit dem Stock gemaßregelt. Das habe diesen so in Rage versetzt, dass er den Lehrer erschlug. Der heranwachsende Held wird vor Gericht freigesprochen. Herakles kann sich auf ein Gesetz berufen, wonach Widerstand gegen eine zu Unrecht erlittene Züchtigung straffrei ist. Sein Stiefvater Amphitryon aber hat keine Geduld mehr mit dem Knaben. Wohl aus der berechtigten Furcht heraus, dass dieser sich nicht mehr in einen strebsamen Pennäler wandeln wird, lässt er den Heißsporn fortan lieber Rinder hüten. ... Möglicherweise gab es politische Gründe für die wiederholte Darstellung der Jugendsünde des Helden. Wie in antiken Schriftquellen anklingt, wurden verfeinerte Lebensformen, zu denen eben auch die musische Ausbildung gehörte, damals von manchen in Athen als anstößig betrachtet. Sie standen dem neuen demokratischen Ideal des politisch aktiven Bürgers geradezu im Wege. So könnte das Vasenbild in der Zeit der Perserkriege als überspitztes, aber doch treffendes Gleichnis aufgefasst worden sein” (204f).
Warum ein anderes Objekt, etwa die Dionysos-Schale des Exekias, weiterhin zum Grundgestand von Antiken im zeitgemäßen modernen altsprachlichen Unterrichts gehört, kann man auf den Seiten 118–122 nachlesen, es geht um eine Trinkschale: „Um die eigentliche Wirkung des Bildes begreifen zu können, muss man sich in einen Zecher versetzen, der aus dieser Schale trank. Der dunkelrote Wein verdeckte das schöne Innenbild zunächst. Während man die Schale langsam leerte und das Gefäß immer schräger hielt, tauchte plötzlich Dionysos selbst aus dem Wein auf. Sein Schiff lag auf dem sich sanft bewegenden Meer aus Wein und fuhr dann scheinbar auf den Trinkenden zu ...” (118). Die Dionysos-Schale ist zudem eines der frühesten Beispiele einer Verzierungsweise, für die Archäologen den Begriff der Augenschale geprägt haben: zwei riesige Augenpaare nehmen den Großteil der Fläche ein (120). Daneben ist die Schale das früheste Beispiel für die Verwendung des korallroten Glanztons: „Die weinfarbene See war seit Homers Odyssee ein feststehender Begriff der griechischen Dichtung. Der Vasenmaler Exekias hat ihn durch eine neuartige Technik im Bild umgesetzt. Er überzog das Innere der Schale mit einem besonderen Glanzton, der beim Brand nicht schwarz, sondern leuchtend orangerot wurde” (118). Außerdem füllte zum ersten Mal ein attischer Vasenmaler das gesamte Innere des Schalenbeckens mit einer großen figürlichen Szene. Alles Elative!
Es sind die griffigen Fakten und die tollen Geschichten, die Florian Knauß über zahllose Ausstellungsobjekte spannend und zeitgemäß erzählt, die das Buch interessant machen. Sie stehen hinter jedem Helm und jeder Fibel, jedem Werkzeug und jedem Vasenmotiv. Der Museumschef hat mit der Neuaufstellung im vergangenen Jahr neue Akzente gesetzt, mehr inszeniert und vor allem weggelassen (bei Lehrern heißt das didaktisch reduziert). Der Stolz auf die Vasenbilder führte in der Vergangenheit dazu, dass in den Museen viel zu viele von ihnen nebeneinander gestellt wurden – was selbst noch für treue Humanisten, die manche der Motive ohne Erläuterung entziffern konnten, einigermaßen ermüdend war. So gibt es künftig einen Saal, in dem Exponate der Sammlung antiker Keramiken nach Themengebieten geordnet wurden. Ausgehend von den Bildern auf den Vasen bekomme man Einblicke in Kult, Alltag und Kulturgeschichte der Antike. Auch die Etrusker haben nun mehr Raum: Eine ganze Empore ist ihren Werken gewidmet.
Dass schon antike Künstler Humor besaßen, verheimlicht Florian Knauß nicht, im Gegenteil. Unter der Überschrift „Künstlerstolz” präsentiert er die Amphore des Euthymides (510–500 v. Chr.) und erklärt u.a.: „Schon im 7. Jahrhundert v. Chr. hatten griechische Vasenmaler gelegentlich die Namen der dargestellten Figuren oder ihre Künstlersignatur beigegeben. Im späten 6. Jahrhundert lassen sie den Akteuren dann gelegentlich wie in einem Comic Worte aus dem Mund fließen. Auf dieser in Vulci gefundenen Amphora gestattete sich Euthymides sogar einen persönlichen Kommentar. Am linken Bildrand zieht sich eine ganze einmalige Inschrift von oben nach unten: 'Wie niemals Euphronios'. Euthymides vergleicht hier seine Arbeit unmittelbar mit der des Kollegen und Konkurrenten Euphronios” (S. 153f.). – Die Randnotiz 'Das kriegt Euphronios so nie hin' verdeutlicht, dass der Agon wie Friedrich Nietzsche und Jacob Burkhardt betonten, das Grundprinzip der griechischen Kultur darstellt und dass die Werke des Euphronios damals für alle Kollegen die Messlatte bildeten.
Man kann in diesem gewichtigen Buch vorwärts und rückwärts blättern und trifft auf viele bekannte Objekte, die alle eine beziehungsreiche Geschichte haben. So zeigt eine Kanne (S. 225) eine nackten kleinen Jungen, dem gegenüber auf einem Klismos, einem Stuhl mit geschwungener Lehne und gebogenen, nach außen gerichteten Beinen, ein Jüngling sitzt. Er trägt einen Mantel um die Hüfte geschwungen und bietet dem Knirps einen Vogel zum Tausch an, den er in seiner linken Hand hält, während er seine Rechte begehrlich nach der Kanne des Kleinen ausstreckt, doch der signalisiert mit der Geste seiner rechten Hand, dass er den Handel Kanne gegen Vogel ablehnt. Das Gefäß in der Hand weist auf ein wichtiges Fest im attischen Kalender – wie Florian Knauß erzählt: Solche bauchige Kannen, Choenkannen genannt, „waren Teil eines wichtigen Initiationsritus für die Jüngsten in der Stadt. Man gab sie an diesem Tag zusammen mit anderen Geschenken den Kindern. Die Dreijährigen wurden damit zu Mitgliedern der Stadtbevölkerung, im Herbst desselben Jahres trug man sie in die Phratrienliste ein, vergleichbar unserem Standesamtsregister. Die Kleinen wurden bekränzt, möglicherweise gab es auch für sie Wettbewerbe. Viele Choenkannen zeigen Kinder beim Spiel, andere tragen aber Darstellungen von Säuglingen, die sich noch krabbelnd fortbewegen. Wahrscheinlich bekamen die Kleinen beim Choenfest auch erstmalig Wein zu trinken - wenn auch wohl mit Wasser vermischt - und wurden so mit diesem festlichen Getränk vertraut gemacht“ (223f.).
Der Autor stellt die lange Geschichte der Münchner Antikensammlungen dar, er gibt einen lebendigen Überblick über die Entwicklung der antiken Kunst im Laufe von mehr als 3000 Jahren – von den Kykladenidolen bis zu spätantiken Schöpfungen. Er bietet eine zusammenhängende Darstellung der antiken Kunstgeschichte anhand von faszinierenden Objekten und erzählt die Geschichten, die diese einschließen – von Göttern und Helden, von Herrschern und Handwerkern. Wer das Buch in Schreibtischnähe ins Regal stellt und sich davon immer wieder für einen modernen altsprachlichen Unterrichts inspirieren lässt, hat –
selbst in beträchtlicher geographischer Entfernung zu München – eine sehr gute Entscheidung getroffen. Und wenn sich seine Schüler mit der Fragestellung des eben ausgeschriebenen Schülerwettbewerbs Lebendige Antike2019 befassen und mittels eines Posters dokumentieren sollen, warum Latein oder Griechisch zu lernen eine tolle Sache ist, dann wird er evtl. lesen können: „Weil wir uns in Gemäldegalerien und Antikenmuseen ganz viele Bekannte und Freunde erworben haben!”
Xenophon: Ross und Reiter / Hipparchikos und Peri Hippikes.
Griechisch und deutsch. Sammlung Tusculum.
Berlin: De Gruyter 2018. 176 S. ISBN-10: 3110595621
ISBN-13: 978-3110595628 29,95 €

Xenophon war mein erster Autor, den ich als Gymnasiast – noch vor der traditionellen Caesar- und Phaedruslektüre – gelesen habe. Anfang der 60-er Jahre erschien eine deutsche Ausgabe der Schrift peri hippikes – Über die Reitkunst. Das Buch interessierte mich und so verschlang ich es, fasziniert von der knappen Sprache und den beeindruckenden Pferdekenntnissen dieses griechischen Autors. Beispiel: „Wenn man aber einmal ein kriegstüchtiges Pferd besitzt und bestrebt ist, es so herauszustellen, dass es unter dem Reiter durch prachtvolle Erscheinung auffällt, muss man sich gänzlich davon frei machen, mit der Trense an seinem Mund herumzuzerren, es mit dem Sporn zu traktieren und die Peitsche zu gebrauchen. Die meisten nämlich glauben, sie wären, wenn sie so verfahren, in der Lage, das Pferd besonders eindrucksvoll zu präsentieren, bewirken aber genau das Gegenteil davon” (peri hippikes 10,1, s. 131).
Offensichtlich war ich damals nicht der Einzige, auf den die Ratschläge Xenophons Eindruck machten, denn Klaus Widdra, der sich als Klassischer Philologe in seiner 1959 erschienenen Dissertation intensiv mit Xenophons Reitkunst und ihrer handschriftlichen Überlieferung beschäftigte, erzählt Ähnliches. Die „Reitkunst”hatte ihn schon als sechzehnjährigen reit- und pferdebegeisterten Schüler in ihren Bann gezogen. Zusammen mit einem Klassenkameraden (dem später bedeutenden Hippologen Jasper Nissen) unternahm er „den kläglich gescheiterten Versuch”, den griechischen Text zu verstehen. Xenophon ließ ihn dennoch nicht los und war mitbestimmend für die Entscheidung, Klassische Philologie zu studieren” und sich immer wieder mit dem Thema (zuletzt 2007 und 2016) zu befassen.
An ein- und zweisprachigen Ausgaben dieser Schrift peri hippikes fehlt es interessanterweise gar nicht, auch gestandene Pferdefachleute der Gegenwart beteiligen sich daran. So gibt es etwa eine Ausgabe von Richard Keller, zu der die Österreichische Olympiasiegerin im Dressurreiten, Christine Stückelberger, ein Vorwort beisteuerte. An einer 2007 erschienenen Ausgabe des bereits erwähnten Klaus Widdra beteiligte sich der namhafte Sportmoderator, Journalist und hoch geschätzte Pferdefachmann Hans-Heinrich Isenbart (1923–2011) mit einem Vorwort und zeigt damit, dass Xenophons hippologische Positionen seit über 2300 Jahren nichts an Aktualität und Bedeutung verloren haben: Lobe Dein Pferd und strafe es nie im Zorn. Dein Pferd soll Freude an der Arbeit haben, dann kommen seine natürliche Anmut und Leichtigkeit, seine Kraft und sein Stolz zum Strahlen und übertragen sich auf den Reiter.
Xenophon / Arrianos: Jagd und Jagdhunde / Kynegetikos.
Griechisch und deutsch. Sammlung Tusculum.
Berlin: De Gruyter 2018. 208 S. ISBN 10: 311059563X
ISBN 13: 9783110595635
39,95 €

Zeitgleich mit dem Bändchen „Ross und Reiter” brachte Kai Brodersen auch das Buch „Jagd und Jagdhunde” heraus, das zweisprachig Griechisch und Deutsch drei thematisch einschlägige antike Titel umfasst, Das Buch von der Jagd / Kynegetikos von Xenophon, den gleichnamigen Titel von Arrianos (einem griechischsprachigen römischen Politiker, Philosophen und Geschichtsschreiber – geb. um 85, gest. nach 145/6 n.Chr. – aus Niko-medeia in der römischen Provinz Bitynien) und einschlägige Partien aus einem unter dem Titel Onomastikon überlieferten Werk des Polydeukes von Naukratis, der unter dem römischen Kaiser Commodus den Lehrstuhl für Rhetorik in Athen innehatte, die Werke von Autoren der klassischen Zeit Athens auswertete und umfangreiche Sachinformationen über das Athen der klassischen Zeit und nicht zuletzt auch über die Jagd in der Antike gibt.
In beiden Tusculum-Bändchen stellt Kai Broder-sen in seiner Einführung jeweils einiges an Basiswissen zum Verständnis der Texte voran, hier über „Jagd und Jagdhunde in der Antike”, zentrale Daten zu den drei Autoren und einen Abschnitt „Mythen, Fachbegriffe und Maßangaben”. Die primär von Hündinnen (Begründungen liefert Arrianos in Kap. 26,1 und 32,1) begleiteten Jäger laufen bei Xenophon fast immer zu Fuß, während Arrianos sie als Reiter vorstellt. Am ausführlichsten schildern beide Autoren die Jagd auf Feldhasen. Mit dem Interesse römischer Kaiser an der Jagd, durch die sie hellenistische Könige imitieren, ändert sich die Form von der Treib- zur Hetzjagd, die Arrianos voraussetzt. Als gefährlich gilt die Jagd auf Wildschweine, da deren Kraft den Jägern großen Schaden zufügen kann. Während Hase, Hirsch und Wildschwein gleichsam als sportliche Gegner beschrieben werden, gilt die besondere Fürsorge, ja Liebe, den Hunden. „Dass den Hündinnen auch kurze und gut rufbare Namen zu geben seien, muss man sich gleichfalls von ihm (sc. Xenophon) gesagt sein lassen: alle, die Namen die er (Xenophon. Kynegetikos 7,5) verzeichnet hat, teils vorgefundene, teils selbst gemachte, sind geschickt gewählt” (Arrianos 31,2; S. 157). – Hundenamen sind auch heutzutage ein großes Thema: Googeln Sie einfach mal!
Umberto Pappalardo / Rosaria Ciardiello,
Die Pracht römischer Mosaiken. Die Villa Casale in Sizilien,
Aus dem Ital. v. Andrea Graziano di Benedetto,
Wissenschaftliche Buchgesellschaft / Philipp von Zabern Verlag,
Darmstadt 2018, 208 Seiten, 162 farbige Abbildungen,
ISBN 978-3-8053-4880-5, 49,95 €
(ab 01.02.2019 69,95 €), 39,95 € Mitglieder (ab 01.02.19 49,95 €)

Wer kennt sie nicht, die Bikinimädchen, die große Jagd oder die fischenden Eroten? Doch als Archäologen im 19. Jahrhundert die Reste einer römischen Villa bei Piazza Armerina fanden, ahnten sie noch nicht, welch einzigartigen Schatz sie entdeckt hatten. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde klar: Vor ihnen lag das reichhaltigstes und besterhaltene Ensemble römischer Mosaikkunst. Heute ist die Villa Casale UNESCO-Weltkulturerbe – und der Höhepunkt jeder Sizilienreise.
„Der heutige Besucher der Villa Romana del Casale bei Piazza Armerina wird von drei Dingen überrascht werden: von den imposanten archäologischen Strukturen, die durch die neuen Dächer noch beeindruckender aussehen, von der umliegenden Landschaft, die sich erstreckt so weit das Auge reicht und schließlich von dem hervorragenden Erhaltungszustand der Bodenmosaiken. Wenn man nach dem Besuch die Villa verlässt, bleiben die lebendigen Farben der Mosaiksteine, die außergewöhnlichen figürlichen Darstellungen und die ganze Pracht dieser weltweit einzigartigen Anlage im Gedächtnis. Das ikonographische Repertoire der Mosaiken ist sehr breit gefächert und erlaubt mehrere Lesarten. Es weist auf die Verherrlichung des dominus durch die Darstellung seiner ehrenhaften Taten hin, wie etwa die Veranstaltung prunkvoller Spiele oder außerordentlicher Jagdausflüge sogar mit dem Fang mythischer Tiere wie dem Phönix oder Greifen; durch die Darstellung alltäglicher Szenen, die auf das aristokratische Leben in einer Villa und auf die vornehme Art der Kindererziehung hinweisen; und auch durch mythische Themen, die symbolisch die virtutes des Eigentümers, den Sieg der Intelligenz über die bloße Macht sowie den Sieg der heiligen Liebe über die zügellosen Leidenschaften einschließen” (S. 50). – Ein großes und großartiges Programm, das der Leser und Betrachter dieses opulenten Bandes Seite für Seite auf seinem Gang durch die riesengroßen Räume der Villa erleben kann und detailliert erklärt bekommt. Die Villenanlage ist das größte erhaltene römische Bauwerk Siziliens und gehört zu den bedeutendsten Monumenten der Antike (S. 14). Der Bau dieser Villa wird traditionell in die Regierungszeit von Kaiser Konstantin I. (306-337 n. Chr.) datiert, auch wenn sich darunter ältere Reste von einem Gutshof befinden. Für die Villa gibt es noch eine zweite Bauphase; 365 n. Chr. erschütterte ein Erdbeben ganz Sizilien. Danach wurde das Gebäude um einige Räume erweitert, andere Räume wurden verstärkt und restauriert. Der Gebäudekomplex nutzt die natürliche Beschaffenheit des Terrains mit seinen Höhenunterschieden geschickt aus. Die verschiedenen, um das große rechteckige Peristyl herum angebauten Räume sind dementsprechend terrassenartig angelegt. Der Grundriss zeigt eine zu polygonalen und runden Formen neigende Architektur, in der die verschiedenen Räume trotz ihrer jeweiligen Funktionen dem Gebäude eine einheitliche Form geben. Die Mauern der Villa sind durchschnittlich in einer Höhe von etwa 1 m erhalten. Die Wände weisen manchmal Spuren von Wandmalerei oder auch gelegentlich Imitationen von Marmor-intarsien auf. Die Gewölbe und Apsiden, die mit Mosaiken aus Glaspaste dekoriert waren, sind eingestürzt. Manche Fußböden bestehen aus Marmorplatten (opus sectile). Der größte Teil der Böden - auf einer Gesamtfläche von 3500 qm - besteht aber aus nahezu vollständig erhaltenen, teils geometrischen, aber meist polychromen figürlichen Mosaiken.
Die Mosaikböden behandeln verschiedene Themen. Im großen Korridor sind auf einer Länge von 60 m Jagdszenen dargestellt, in denen die mit Speeren und Schilden bewaffneten Männer versuchen, Tiere einzufangen und auf ein Boot zu verladen. Das Mosaik in einem der südlich des großen Peristyls gelegenen Raum stellt zehn Mädchen in leichter Kleidung dar, ähnlich einem modernen Bikini. Auch die Lehrerin ist zu sehen, die die Mädchen bei den verschiedenen Wettbewerben auszeichnet. Der Fußboden muss später entstanden sein, da er über einem älteren geometrischen liegt. Im Vorraum eines der privaten Wohnbereiche befindet sich ein von Homer inspiriertes Mosaik, auf dem der Riese Polyphem in seiner Höhle sitzt. Odysseus bietet ihm eine Schale mit Wein dar, während seine Gefährten eine weitere füllen, um den Riesen betrunken zu machen. Die Mosaiken der Villa sind eines der größten Zeugnisse römischer Kunst auf diesem Gebiet. An ihrer Herstellung arbeiteten zahlreiche Künstler, die mythologische wie auch Szenen des Alltagslebens sehr realistisch zu reproduzieren vermochten. Die Großartigkeit und der Glanz des gesamten Gebäudes haben sogar zu der Annahme geführt, dass es sich hierbei um den Rückzugsort des Kaisers Maximianus Herculius gehandelt habe. Gewiss ist jedenfalls, dass es von einer äußerst vermögenden Person errichtet wurde. (S. 20f). Insgesamt handelt es sich bei der Villa um eine Einheit von Wohn-, Verwaltungs- und Produktionsgebäuden. Weitere Teile gibt es wohl noch zu entdecken, etwa Küchen, die bislang noch nicht gefunden worden sind. In der Antike wurde die Villa wahrscheinlich über eine Nebenstraße erreicht, die auf Höhe der Station Philosophiana von der römischen Straße Catania – Agrigentum (die von den Bewohnern der nordafrikanischen Provinzen genutzt wurde, um das Festland zu erreichen) abging. Diese Station Philosophiana (so im Itinerarium Antonini) heißt heute „La Soffiana”. Im frühen 4. Jh. n. Chr. nahm die im Gebiet von Philosophiana liegende Villa diesen Namen an; aus dieser Phase müssen die in der Contrada Sofiana gefundenen Ziegelstempel mit den Buchstaben FIL.SOF stammen (S. 23).
Die Villa ist seit 1997 von der UNESCO geschützt. Nach der Restaurierung und der Neugestaltung ist der Parco Archeologico della Villa Romana del Casale di Piazza Armerina am 4. Juli 2012 eingeweiht worden. Die Restaurierung dauerte fünf Jahre und kostete 8 Mio. Euro; sie erforderte die Arbeit von 50 Experten. Vor allem die Mosaiken haben ihren Glanz zurückbekommen: 120.000.000 Mosaiksteine auf über 3500 qm Fußboden zeigen heute nach einer modernen Behandlung wieder ihre ursprünglichen Farben und die ungewöhnliche Schönheit der Darstellungen. Übrigens hat man 2012 nur 400 m südlich der Villa zwei neue archäologische Areale entdeckt. Im ersten wurden in etwa 2 m Tiefe einige Säulen und Teile eines Fundamentes gefunden, während man im zweiten Areal ein mit Mosaiken ausgestattetes Becken mit Apsis gefunden hat, das zu einer größeren Thermenanlage gehört, die noch nicht völlig erschlossen ist. Es könnte sich um einen etwa 80 qm großen Raum mit zahlreichen gut erhaltenen Fresken und Mosaikboden handeln. Die Villa Romana del Casale zieht nach ihrer Renovierung und gelungenen bauliche Präsentation über 500.000 Besucher pro Jahr an.
Der neue Glanz der Mosaike gab sicherlich den Anstoß zu diesem Buch. Zwei hochspezialisierte Autoren haben es verfasst: Rosaria Ciardiello lehrt „Archeologia Pompeiana” an der Università degli Studi Suor Orsola Benincasa in Neapel und arbeitet für die Soprintendenze per i Beni Archeologici di Napoli e di Pompei; Umberto Pappalardo ist Professor für Klassische und Pompejianische Archäologie an der Universität Suor Orsola Benincasa in Neapel. Er leitete die Ausgrabungen von Herculaneum, ist maßgeblich an den Forschungen in Pompeji beteiligt. Von den beiden Autoren stammt übrigens auch ein im Hirmer-Verlag erschienener Prachtband „Griechische und Römische Mosaiken” (320 Seiten, 202 Abbildungen in Farbe, ISBN: 978-3-7774-3791-0, 118,00 €). Umberto Pappalardo führt ein in Technik, Stil und die literarischen Vorlagen der Motive, erklärt die Lage der Villa, die Ziele der jüngsten aufwendigen Restaurierungen und skizziert die Grabungsgeschichte seit der Frühen Neuzeit; die bisherigen Antworten auf die Frage nach dem Besitzer der Villenanlage werden diskutiert und die Angaben von Plinius und Vitruv zur Technik der Mosaikkunst vorgestellt, Rosaria Ciardiello erläutert dann in einem umfangreicheren zweiten Teil (S. 50–201) sämtliche Mosaiken mit großer Kennerschaft, eindrucksvolle Bilder – darunter Panorama-Ansichten der einzelnen Bodenmosaiken ebenso wie Detailausschnitte – zeigen die künstlerische Vielfalt der Mosaiken und belegen die überragende Bedeutung der Villa Casale; Luciano und Marco Pedicini haben die Bilder angefertigt.
Das ikonographische Thema des Raumes (5,60 x 6,75 m) der zehn Bikinimädchen bewertet Rosaria Ciardiello als Unikat, das nicht zum traditionellen Repertoire gezählt werden könne, da es keine genauen Vergleichsobjekte gebe (S. 177). Die bis heute vorgeschlagenen Interpretationen reichten von einem Tanzwettbewerb, einem weiblichen athletischen Wettkampf in fünf Disziplinen bis hin zu einer praktischen Anleitung zu gymnastischen Übungen (S. 177). Ciardiello tendiert zur Deutung als weiblicher Agon, denn bis zum 3. Jh. n. Chr. (und dann erst wieder im 6. Jh.) gebe es zahlreiche literarische Quellen, die öffentliche Spiele von Frauen in sakralen und internationalen Wettkämpfen erwähnten. „Hier sind also vornehme weibliche Agone erkennbar sowie wiederum eine Anspielung auf den hohen sozialen Stand der Eigentümer. Die Frauen werden bei Aktivitäten dargestellt, die denen der Männer entsprechen – wie man z.B. in den Thermen sieht, wo der dominus ebenfalls beim Sport dargestellt wird” (S. 177).
Ein spannend geschriebenes Buch, dessen Bilder von faszinierenden Mosaiken (etwa aus dem Korridor der „Großen Jagd” – 65,93 x 5,00 m) vermehrt in Schulbüchern auftauchen werden. In diesem Buch gibt es die erforderlichen Erläuterungen dazu. Am liebsten möchte man die Villa Romana del Casale auf Sizilien gleich direkt besuchen!
Onasandros, Gute Führung / Strategikos.
Griechisch und deutsch. Zweisprachige Ausgabe von Kai Brodersen,
Verlagshaus Römerweg/Matrix-Verlag,
Wiesbaden 2018. 160 S., 15,00 €

Zweisprachige Textausgaben publizieren bekanntermaßen die Verlage Reclam und De Gruyter (Reihe Tusculum), der Verlag Artemis & Winkler, die Wissenschaftliche Buchgesellschaft, der Felix Meiner Verlag – um nur die produktivsten zu nennen. Seit 2003 präsentiert sich der Wiesbadener Matrix-Verlag (seit 2014 Teil des Verlagshauses Römerweg) als „Haus der schönen Bücher: ... Weil wir glauben, dass Bücher, im Besonderen schöne Bücher, die schönste und interessanteste Ware der Welt sind, von der Wissen, Aufklärung und Weltverständnis ebenso ausgehen wie Verzauberung und Verführung” (vgl. https://www.verlagshaus-roemerweg.de/ – aufgerufen am 22.8.2018).
Im Verlagshaus Römerweg hat die Liste von Übersetzungen antiker Literatur und zweisprachiger Ausgaben schon einen beträchtlichen Umfang erreicht: Herodot, Diodoros, Lukian von Samosata, Thukydides, Thomas Morus, Gregor von Tours, Flavius Josephus, Erasmus von Rotterdam, Marc Aurel, Strabo, Xenophon, Julian Apostata, Philogelos, Cassius Dio, Plutarch, Polybios, Boethius, Cicero und andere sind mit ausgewählten Werken vertreten, Kai Brodersen etwa hat zweisprachige Ausgaben von Ailianos, Apuleius, Cetius Faventinus, Damigeron, Galenos, Onasandros, Philostratos und Scribonius Largus beigesteuert (vgl. https://www.uni-erfurt.de/geschichte/antike/forschung/bilinguen/) – teilweise mit Titeln, die mir noch nie untergekommen sind – oder kennen Sie das Heilkräuterbuch von Apuleius, Die verbrannte Bibliothek von Galenos, den Titel Peri Gymnastikes / Über das Trainung von Philostratos, das Buch Heilende Steine / De lapidibus von Damigeron (D. ist der Name eines antiken Magiers des 2. Jahrhundert n. Chr.) oder den Band Gute Führung / Strategikos von Onasandros?
Das in mittelalterlichen Abschriften unter dem Titel „Onasandrou Strategikos” überliefert Werk stammt aus dem 1. Jh. n. Chr., über den Autor weiß man nicht viel; von einem bei Flavius Josephus und Tacitus erwähnten Quintus Verianus – dem das Werk wohl zugeeignet ist – erfährt man, dass Onosandros zu „denen von den Römern (gehört), die in die Senatsaristokratie aufgenommen und durch die Voraussicht des Augustus Caesar mit Stellungen als Konsul und Strategos ausgezeichnet worden sind” (S. 9). ,Besonnen, selbstbeherrscht, wachsam, sparsam, ausdauernd, verständig, frei von Habgier’: Das macht eine erfolgreiche Führungskraft im Römischen Reich aus, solche Qualitäten und solches Verhalten erwartete Onasandros von einer Führungskraft. Sein Buch über gute Führung wurde in der Neuzeit viel gelesen, wie zahlreiche Abschriften bezeugen, dann wurde es vergessen: die letzte deutsche Übersetzung stammt aus dem 18. Jahrhundert.
Philostratos, Bilder einer Ausstellung / Eikones.
Griechisch und deutsch.
Zweisprachige Ausgabe von Cordula Bachmann,
Verlagshaus Römerweg/Matrix-Verlag,
Wiesbaden 2018. 272 S., 20,00 €

Von einer Mitarbeiterin an Kai Brodersens Lehrstuhl für Antike Kultur an der Universität Erfurt, von Cordula Bachmann (Abitur am Canisius Kolleg Berlin, Studium in Oxford und München), ist kürzlich ein weiterer Band in der zweisprachigen Reihe des Matrix Verlags erschienen: Bilder einer Ausstellung / Eikones von Philostratos. Der griechische Konzertredner und Kunstkritiker Philostrat gibt in der ersten Hälfte des 3. Jh. n.Chr. in seinen Eikones („Bildern”) eine Antwort auf die Fragen „Wie nähere ich mich einem Kunstwerk? Worauf muss ich achten, wenn ich ein Bild betrachte? Was muss ich wissen, um ein Gemälde verstehen und genießen zu können?”, indem er eine Reihe von Tafelgemälden vor einem Kreis wissensdurstiger junger Leute exemplarisch interpretiert.
„Eine Luxusvilla am Golf von Neapel – kann es für einen Gebildeten wie den antiken Rhetorikprofessor und Kunstkenner Philostratos eine angenehmere Sommerfrische geben? Die Villa beherbergt zudem erlesenste Gemälde, die der Gast in Ruhe genießen kann, allerdings nur, bis der zehnjährige Sohn des Gastgebers ihn aufspürt und die Bilder erklärt haben möchte. Für ihn und für dazukommende Studenten, aber auch für alle, die das Buch heute lesen, entstehen 65 faszinierende Bildinterpretationen. In ihnen wechselt Pathos mit nüchterner Detailgenauigkeit, reiche Metaphorik mit präziser Analyse, Panoramaperspektive mit Engführung des Blicks” (Klappentext). Cordula Bachmann hat sich mit sechs seiner Bildinterpretationen in ihrer Dissertation beschäftigt: Wenn man die Welt als Gemälde betrachtet: Studien zu den Eikones Philostrats des Älteren. Heidelberg: Verlag Antike 2015. 269 Seiten.
Sehr informativ sind als Teil der Einführung die Erläuterungen zur Rezeption der eikones in der Darstellenden Kunst der Neuzeit. Tizian, Lucas Cranach, Jacopo Tintoretto, Moritz von Schwind und andere haben sich von Philostrats Bildinterpretationen für die Arrangements dieser Themen auf der Leinwand inspirieren lassen. Schließlich hat auch Johann Wolfgang von Goethe in seinem Text Philostratos’ Gemälde (1818–1820) die Eikones übersetzt, bearbeitet und mit Kommentaren versehen. Er wollte damit den Malern seiner Zeit, die am Übergang von der Klassik zur Romantik standen, von ihm als ,klassisch’ empfundene Bildthemen nahebringen. Die Neuübersetzung ermöglicht einen Einblick in die Ästhetik der Antike und erschließt zugleich die zeitlose Kulturtechnik der Bildbetrachtung.
Polly Lohmann, Graffiti als Interaktionsform.
Geritzte Inschriften in den Wohnhäusern Pompejis
(Materiale Textkulturen Bd. 16, Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 933),
De Gruyter Berlin/Boston 2018 (Diss. München 2016), 486 Seiten,
119,95 €, ISBN 978-3-11-057036-6

„Das, was Menschen an Wände schreiben, hat sich in mehr als 2000 Jahren kaum verändert“, sagt die Heidelberger Archäologin Polly Lohmann. Die typische Botschaft lautete schon immer: „Ich war hier.“
Ganz Berlin ist voller solcher Signale: „Ich war hier.” Heute braucht man nicht einmal mehr zu ritzen, sprayen ist einfacher. Graffiti-Writings allüberall. Lateinschüler wissen, dass Graffiti (ein Neologismus aus dem italienischen sgraffiare oder graffiare, was sowohl (zer)kratzen als auch (ein)ritzen bedeuten kann) keine Erfindung des 20. Jahrhunderts sind. Der Terminus ist freilich so alt nicht, im 18. Jahrhundert prägte man ihn als Bezeichnung für eine bei den Ausgrabungen in Pompeji und Herkulaneum neu entdeckte Inschriftenform: Für geritzte Texte, Zahlen und Bilder an den Innen- und Außenwänden von Wohnhäusern, Läden und öffentlichen Gebäuden, an Gräbern, Stadtmauern und Stadttoren. Der erste dokumentierte Fund eines Graffitos aus Pompeji stammt wohl aus dem Jahr 1765 (S. 4).
Als Zeichen von Vandalismus und als stupides Gekritzel wurden sie von der akademischen Forschung zunächst lange vernachlässigt; so schrieb etwa der Pompejiforscher August Mau im Jahre 1908: „Gerade diejenigen Klassen der Bevölkerung, mit denen wir am liebsten in einen solchen unmittelbaren Verkehr treten möchten, enthielten sich des Bekritzelns der Wände; schon damals waren es vorzugsweise Narrenhände, die sich dieser Beschäftigung hingaben.“
Erst in den letzten Jahren haben sich die Klassischen Altertumswissenschaften verstärkt den Graffiti zugewandt, ein radikaler Imagewechsel der Inschriftengattung wurde eingeleitet und hat sich zu einem regelrechten Forschungstrend ausgewachsen, aus illegalem Gekritzel wurden tolerierte Texte. Graffiti sind sowohl in der Archäologie als auch in den Geschichtswissenschaften – seit den 1970er Jahren (S. 21) – zum Gegenstand der Forschung geworden, sie dienen als Quellen, die Einblicke in das Alltagsleben in verschiedenen historischen Kontexten ermöglichen.
Aus Pompeji stammen bekanntlich mehrere tausend informeller Wandinschriften (bislang über 5600; S. 19), die bei den Ausgrabungen zwar dokumentiert, aber nur sehr selektiv untersucht wurden. Gegenüber anderen, kontrollierten Text- und Bildformen stellen sie als direktes, ungefiltertes Medium eine wertvolle Quelle zu den konkreten Lebensumständen in verschiedenen historischen und geografischen Kontexten dar. Für die Wohnforschung stellen Graffiti – so die Autorin – „unter zweierlei Gesichtspunkten einen gewinnbringenden Gegenstand dar: Anders als Architektur, Wand- und Fußbodendekoration,
die lediglich den physischen Rahmen häuslichen Lebens bildeten, sind Graffiti erstens das Ergebnis sozialer Dynamiken im Haus. Während der umbaute Raum nur die von dem Besitzer oder Erbauer intendierten Nutzungsformen des Hauses und seiner Räume widerspiegelt, sind die geritzten Inschriften Produkte der Menschen, die sich in dem gebauten Raum bewegten, in und mit ihm interagierten. Zweitens sind Anbringungsort, Inhalt und Form der Graffiti Indikatoren für die Rezeption der Wände und ihrer Malereien. Insofern sind die Inschriften als Form der Interaktion an und mit dem Medium Wand eine für die Forschung einzigartige direkte Quelle der Wahrnehmung und Nutzung des römischen Wohnhauses” (S. 1f.).
„Bei den Graffiti handelt es sich, zumindest in Pompeji, nicht um nachweislich politische Botschaften, wie man sie aus den Beschreibungen antiker Autoren aus Rom und von moderner Street Art kennt, sondern um private Angelegenheiten und Alltagsthemen der Stadtbewohner und -besucher, die aber für eine Öffentlichkeit lesbar waren: Namen, Grüße, Glückwünsche, Verkündigungen, persönliche Nachrichten, Liebesbotschaften und Beleidigungen, Erotisches und Witziges, Zahlen, Daten, Preise, Strichreihen und Alphabete wurden an die Wände geschrieben und ihren farbenprächtigen Malereien Zeichnungen von Gladiatoren, Tieren und Menschen hinzugefügt” (S. 5).
„Rein technisch versteht die altertumswissenschaftliche Forschung unter antiken Graffiti in eine Oberfläche geritzte oder seltener mit Kohle oder Kreide (ca. 3%; vgl. S. 128) aufgetragene Buchstaben/Wörter, Zahlen, Symbole und Zeichnungen, die das Corpus Inscriptionum Latinarum trotz der Diversität ihrer technischen Ausführung unter dem Begriff graphio (in)scripta zusammenfasst. Diese Oberbezeichnung trägt der Mehrheit der Inschriften Rechnung: Sie wurden mit einem Stilus angefertigt, mit dem man auch auf Wachs oder Bleitafeln schrieb. Denn obwohl für Ritzungen prinzipiell verschiedene Gegenstände genutzt werden konnten, belegen die Buchstabenfolgen und die Grazilität der in den Wandputz geritzten Graffiti, dass man sich i.d.R. metallener Schreibgeräte bediente” (S. 5).
Im ersten Kapitel (S. 3–38) beschäftigt sich Polly Lohmann mit Graffiti und anderen Inschriftenformen, sucht nach den Unterschieden von antiken und modernen Graffiti, erarbeitet in Abgrenzung von vielen anderen Inschriftentypen eine Definition des Begriffs und sammelt die Äußerungen antiker Autoren (Plautus, Vergil, Ovid, Properz, Martial, Catull, Plinius, Sueton, Plutarch, S. 8ff.) zu diesem Phänomen. Kapitel zwei (S. 39–62) bringt einen Überblick über die Forschungsgeschichte und die wichtigsten Werke der Pompeji- und Graffitiforschung, ferner bestimmt Lohmann die Fragestellung der Arbeit und ihre grundlegenden Annahmen. Das dritte Kapitel (S. 63–102) skizziert das soziale, räumliche und kulturelle Umfeld, in dem das Graffitischreiben als Kulturphänomen angesiedelt ist. Es gibt Einblicke in die Sozialstrukturen, Architekturen und kulturellen Praktiken, in deren Kontext die Graffiti entstanden sind. Es geht um die Funktion des Schreibens und die Wirkung des Geschriebenen, die Formen und Verbreitung von Literalität; dabei stützt sie sich im Wesentlichen auf schon bestehende Forschungsergebnisse. Der interaktive Charakter von Graffiti steht im Mittelpunkt des vierten Kapitels (S. 103–116): römische (und auch griechische) Inschriften haben die Eigenart, sich zuweilen in der zweiten Person direkt an Passanten und Leser zu wenden (S. 104).
Im fünften Kapitel (S. 117–144) wertet Lohmann die im CIL IV edierten Graffiti und alle dort enthaltenen Daten aus und bestätigt durch ihre Arbeit quasi beiläufig auch die Glaubwürdigkeit des CIL, „das aufgrund des großen Schwundes an Graffiti gezwungenermaßen unsere wichtigste Quelle darstellt” (S. 363). Der von K. Zangemeister erstellte Hauptband CIL IV erschien 1871; in den Folgejahren wurden weitere Sammlungen in drei Supplementbänden zu CIL IV publiziert, die Veröffentlichung eines vierten CIL-Supplements ist offenkundig in Vorbereitung (vgl. S. 207), denn „alle nach 1956 durchgeführten Grabungen haben sich noch gar nicht im CIL niedergeschlagen und harren bis heute der Edition” (S. 125). Das CIL überliefert Graffiti aus 23% der Gebäude (das sind 292 Häuser) – aus den restlichen 77% sind keine geritzten Inschriften bekannt (S. 125). Lohmanns statistische Auswertungen bringen eine Fülle von Ergebnissen, etwa: „19% der Graffiti (inklusive der Zeichnungen) stammen von und aus öffentlichen Gebäuden, 27% von Fassaden und der größte Teil aus den Innenräumen nicht-öffentlicher Gebäude: 5% aus Läden (Typ 1), 4% aus kleinen Werkstätten und/oder Wohneinheiten (Typ 2), 11% aus großen (Typ 3) und 34% aus sehr großen domus (Typ 4)” (S. 128f). – „Graffiti aus Innenräumen scheinen auf den ersten Blick in verschiedenen Gebäudetypen gleichermaßen vorzukommen; die zahlenmäßige Verteilung offenbart allerdings Differenzen: Besonders große Konzentrationen sind in der Grande Palaestra mit über 300, in der Basilika, dem Lupanare, der Casa dei Gladiatori und Casa del Menandro mit jeweils über 100, in der Casa di Trittolemo, der Casa delle Nozze d’argento, Casa di Paquius Proculus und in dem Haus IX 2,26 mit über 50 Graffiti zu finden; aus dem Inneren vieler anderer Gebäude kennen wir dagegen nur ein bis fünf Graffiti” (S. 132). – Die geritzten Inschriften zeigen – so die Beobachtung von Polly Lohmann – „funktionale Bezüge zu ihren Anbringungsorten: Hielt man in kommerziell genutzten Räumlichkeiten hauptsächlich praktische Notizen – Zählungen, Zahlungen, Rechnungen, Termine – fest, spiegeln die Graffiti mit zunehmender Häusergröße mehr und mehr den Aspekt des otium wider, wenn man, wohl zum Zeitvertreib, aus Spaß oder Langeweile, geritzte Namen, Grußworte und Bilder hinterließ. Der Zusammenhang zwischen dem Inhalt der Graffiti und der Funktion ihrer Anbringungsorte zeigt sich nicht zuletzt im Lupanar, das mit einem Anteil von 16% der erotischen Graffiti die größte Ballung an Obszönem in Pompeji beherbergt, und in einigen der seltenen Toilettengraffiti, die Fäkales beinhalten” (S. 138f), so auch aus der Latrine der Casa dell Gemma in Herculaneum (CIL IV 10619): „Apollinaris medicus Titi Imp(eratoris) hic cacavit bene” (S. 139, Fußnote 541).
Mit heutigen Gepflogenheiten korreliert eine Beobachtung im Zusammenhang mit dem Hinweis, dass man nicht annehmen dürfte, „dass ständig jeder Besucher seine Schreibereien irgendwo hinterließ. Man schrieb, zumindest in den Wohnhäusern, nicht inflationär und überall, sondern nahm offenbar doch zu einem gewissen Grad Rücksicht bzw. verhielt sich anders als im öffentlichen Raum, wo Fassaden wie die der Casa dei Ceii mit Dutzenden Graffiti beschrieben wurden” (S. 140). Die „durchschnittliche Anbringungshöhe der Graffiti” lag bei etwa 1,40 m, „von der es kaum größere Abweichungen gibt” (S. 141; vgl. S. 365). Aus der Fülle von interessanten Erkenntnissen noch die Beobachtung, „dass man Graffiti keinesfalls, wie von K.-W. Weeber und Anderen behauptet, beliebig überall ,hinschmierte’, sondern dass sie innerhalb der Stadt, der Wohnhäuser und sogar der Peristyle auf bestimmte Areale konzentriert sind und zudem inhaltliche Bezüge zur Raumfunktion zeigen” (S. 142). Übrigens: „Auch für Latrinen sind die Zahlen von Graffiti sehr klein, wohingegen die (öffentlichen) Toiletten heute eine Privatsphäre im öffentlichen Raum bieten, die viele Menschen zum Schreiben animiert” (S. 135).
Kapitel sechs (145–241) bietet eine Reihe von Fallbeispielen: Graffiti in pompejanischen Wohnhäusern. Im Blickpunkt stehen die Casa dei Ceii, die Casa di M. Lucretius Fronto, die Casa di Paquius Proculus (788 qm Grundfläche!), die Casa degli Amorini dorati, die Casa di Menandro (ca. 1830 qm) und die Casa delle Nozze d'argento. Sämtliche Graffiti eines jeden Hauses, z.T. mit Detailfotos und/oder Umzeichnungen, findet der Leser in einer umfangreichen Appendix (367-439). Die Deutung der Befunde je Wohnhaus bringen vielfältige Ergebnisse: mehrfach ist auch vom Zahn der Zeit die Rede, wie er den Ausgrabungen zusetzt: "Aus dem Bestand der 26 geritzten Inschriften an den Säulen des Peristyls war sage und schreibe nur noch ein einziger Graffito bei der Autopsie vor Ort zu finden. Die fehlende Überdachung der südlichen Peristylhälfte hat merklich zu dem heutigen Zustand des Säulenputzes in diesem Bereich beigetragen" (S. 191).
Kapitel sieben lautet: Technik, Form, Inhalt: Merkmale des graffiti habit. "Es behandelt die praktischen Aspekte des Graffitischreibens, andererseits die Wahrnehmung der Inschriften durch ihre Macher anhand selbstreflektiver Texte und durch Zweite und Dritte anhand von schriftlichen Reaktionen sowie die bewusste Ästhetik, die sich sowohl in der Wahl des Anbringungsortes als auch der formalen Gestaltung von Text und Schrift vieler Graffiti widerspiegelt" (S. 243). Spannend zu lesen ist ein archäologisches Experiment, das Polly Lohmann recht aufwendig durchgeführt hat: "... die technische Akkuratesse etlicher für diese Arbeit autopsierter Graffiti ließ Zweifel an der Beliebigkeit des Schreibwerkzeugs aufkommen” (S. 246). Auf einer an der TU München unter Berücksichtigung von technischen und Material-Angaben im zweiten und siebten Buch von Vitruvs De architectura rekonstruierten Wandputzplatte testete Lohmann zwölf verschiedene Objekte: „Rekonstruktionen eines Calamus aus Schilfrohr (1), eines buchenhölzernen Stilus (2), eines Messing-Stilus (3), eines eisernen Stilus (4), zweier bronzener Stili (5, 6), eines beinernen Stilus (7), eines Eisennagels (8) sowie ein modernes Taschenmesser (9), einen modernen Schlüssel (10), einen Schlitz-Schraubenzieher (11) und eine Gabel (12). Letztere vier Objekte wurden in Ermangelung von Rekonstruktionen anderer antiker Gegenstände zu Hilfe genommen, um die Tauglichkeit von Objekten unterschiedlicher Länge, Stärke und Schärfe zu testen” (S. 247). Lohmann kommt zu dem Resultat, „dass von den erprobten (antiken) Gegenständen einzig der Stilus gut genug handhabbar ist, um für den überwiegenden Teil der pompejanischen Graffiti, die autopsiert wurden, als Schreibutensil in Frage zu kommen. Dieses Ergebnis wirft wiederum die Frage auf, wie spontan – und wie schnell – man bei der Anbringung eines Graffitos sein konnte” (S. 251).
Vollends interessant wird es in dem Kapitel 7.1.2., in dem es „um diejenigen Graffiti geht, die etwas über das Können und (ästhetische) Wollen ihrer Autoren und über deren Beeinflussung durch die Schriftform und das Textlayout anderer Inschriften im Stadtraum verraten” (S. 260). Hier geht es um tabulae ansatae, um die Imitation der Buchstabenform der dipinti, um eine Anlehnung an die Buchstabenform der Lapidarinschriften; Vielfach „deutet die Schriftart bzw. -form der Graffiti über das persönliche Können hinaus auf den ästhetischen Anspruch der Schreiber hin: und gerade metrische Texte und Dichterzitate scheinen nach einer adäquaten Form verlangt zu haben” (S. 265). In Sachen „Selbstwahrnehmung der Schreiber” stellt Lohmann als auffälliges Merkmal jedenfalls pompejanischer Graffiti fest, dass „sämtliche Grüße und viele persönliche Nachrichten in der dritten Person formuliert sind” (S.272) und nicht in der Ich-Perspektive. Das ist auch der Grund dafür, dass wir fast 4000 Personennamen aus pompejanischen Graffiti kennen, offensichtlich ging es nicht um eine Verschleierung der Identität und nur in wenigen Fällen scheint es sich um Spitznamen oder Codenamen zu handeln. „Ein gewisser Aemilius schrieb seinen Namen bevorzugt rückwärts und verewigte sich neunmal in Pompeji als ,Suilimea’” (S. 273; mehr darüber auf S. 355, wo Lohmann den 'Suilimea' neben einem gewissen Curvius als 'einzigartigen Scherzkeks' bezeichnet). Schreiber sind vielfach zu Selbstironie fähig; so sind aus Pompeji „mehrere selbstreflektive, oder metatextuelle, Graffiti ediert, darunter die mehrfach an den Wänden des urbanen Raums angebrachte Inschrift ,Ich bewundere dich, Wand, dass du noch nicht zu Schutt zerfallen bist, die du die Kritzeleien so Vieler ertragen musst’” (S. 276), aus Rom kennen wir allerdings auf Griechisch die Notiz: „Viele haben Vieles (an die Wand) geschrieben, nur ich habe nichts geschrieben” (S. 277).
Ebenso interessant und kurzweilig zu lesen ist das folgende Kapitel über die „Interaktion von Graffiti und Graffiti” (S. 279ff); so kommt es vor, dass jeweils dieselben und verwandte Motive von mehreren verschiedenen Zeichnern auf einer Wand begegnen. Hatte ein Schreiber die Wand 'geöffnet', motivierte das auch andere Personen dazu, Graffiti-Texte oder -bilder hinzuzusetzen. In der Casa di Menandro gibt es etwa die größte Ansammlung von Alphabeten innerhalb Pompejis: 12 Graffiti zeigen quasi einen Wettbewerb um die schönste Schrift; die Alphabete wurden als Schulübungen interpretiert, die in dieser Ecke des Hauses exerziert wurden. Unter den Schreibern und Zeichnern gab es wohl auch Spaßvögel: In der Porticus der Casa del Triclinio (V 2,4) grüßt der Walker Crescens mehrfach seine Kollegen, die fullones. „In einem Gruß an seine Berufsgenossen grüßte Crescens auch deren Eule, das Tier der Minerva und Symbol des Berufsstandes der fullones; passend dazu war daneben die Zeichnung einer Eule in den Wandputz geritzt worden. Über die Zeichnung setzte jemand die Beischrift: ,Dies ist eine Eule’. Entweder sorgte sich der Schreiber tatsächlich um die Verständlichkeit der Inschriften und die Identifizierbarkeit des Tieres oder er erlaubte sich schlicht einen Spaß und erläuterte, vielleicht um den Zeichner der Eule lächerlich zu machen, das bereits Offensichtliche noch zusätzlich” (S. 286; vgl. auch S. 354).
Graffiti interagieren also inhaltlich und formal mit anderen Graffiti und nutzen diese als Vorbilder. Zeichner nehmen aber auch Bezug zu Wandmalereien oder auf in der Nähe aufgestellte Bildwerke, etwa auf Tiermotive aus Wandvignetten. Im Peristyl der Casa del Sacerdos Amandus (I 7,7) versuchen drei Graffitibilder ... ein Motiv eines figürlichen Wanddekors, einen Eroten mit Kithara, zu kopieren. Das Phänomen des Abzeichnens nach gemalten Vorlagen lässt sich auch andernorts greifen. Neben den Wandmalereien und ihren Dipinti dienten auch Skulpturen als Vorbilder für Graffitizeichnungen. Die Beispiele, die Polly Lohmann hier aufführt, sind mit schwarz-weiß oder Farbfotos und farbigen Umzeichnungen (S. 302–323) eindrucksvoll belegt.
Im achten Kapitel „Schreiber, Adressaten und Drit-te: Die Individuen hinter den Texten” (329–358) räumt Polly Lohmann ein, „dass die anfängliche Hoffnung, aus den Texten auf den sozialen Status der Genannten schließen zu können, schnell der Erkenntnis gewichen (ist), dass i.d.R. der Rufname das einzige ist, was wir aus den Graffiti über eine Person erfahren; nur selten liefern Attribute zusätzliche Informationen” (S. 329). Zunächst erstellt sie eine quantitative Auswertung sämtlicher identifizierbarer Namen aus den im CIL IV edierten graphio (in)scripta aus dem Stadtgebiet Pompejis und wendet sich anschließend den durch Attribute näher bezeichneten und speziell denjenigen Personen zu, die innerhalb eines kleinen Radius eine prominente Rolle einnehmen. „Die pompejanischen Graffiti enthalten insgesamt rund 400 praenomina, 800 gentilicia und 3300 cognomina. Der Großteil der geritzten Inschriften nennt nur einzelne Namen (87%); lediglich 4% aller genannten Namen sind tria nomina, 9% duo nomina: Kombinationen aus praenomina + Gentilnamen, Gentilnamen + cognomina, oder – in der Kaiserzeit unüblicher – praenomina + cognomina. Es handelt sich also überwiegend um alleinstehende Namen, die als Personenangaben insofern unspezifisch sind, als sich im Einzelfall nicht differenzieren lässt, ob es sich um den Beinamen eines freigeborenen römischen Bürgers, eines Freigelassenen oder um einen Sklavennamen bzw. den Namen eines Peregrinen oder einer Person ohne römischen Bürgerstatus handelt” (S. 332). Besonders beliebte Namen sind bis zu 69 mal belegt (S. 333), Sklaven und Freigelassene lassen sich in den pompejanischen Graffiti nur in 35 Fällen, und anhand von Namenszusätzen, mit absoluter Sicherheit greifen (S. 340). Auf das Alter der Protagonisten liefern die Graffiti keine Hinweise. Frauennamen machen gerade einmal 16% der genannten Namen aus: Von rund 1930 Einzelnamen, mit denen sich Personen wohl meist selbst verewigt haben, sind nur 187 (knapp 10%) Frauennamen; dafür beträgt der Anteil von Frauen in Grüßen und in erotischen Texten mehr als ein Viertel. In den meisten Grüßen (79%), in denen Frauen überhaupt vorkommen, sind sie als Adressatinnen genannt; die Grüße stellen also vielleicht Flirtversuche, hauptsächlich von Seiten der Männer, dar. Es sind nicht mehr als elf Fälle bekannt, in denen sich Frauen als Schreiberinnen identifizieren lassen und Männer grüßten (S. 344). Natürlich spielen geschlechtsspezifische Rollenbilder und Moralvorstellungen bei diesen Unterschieden eine maßgebliche Rolle. Polly Lohmann versucht den Namenszusätzen, Statusbezeichnungen, Amts- und Berufsbezeichnungen weitere Informationen abzugewinnen. Außerdem geht sie solche Personen nach, die wiederholt an den Wänden Pompejis auftauchen und sich anhand von Attributen, Schreibweisen oder in Dialogen mehrfach wiederfinden lassen (S. 351ff), etwa die Gladiatoren Crescens und Celadus. „Wenige Protagonisten der pompejanischen Graffiti aber haben wohl die Nachwelt so zum Schmunzeln gebracht wie der Thraker Celadus. Er wird an den Peristylsäulen zehnmal u.a. als Zierde (decus) und Sehnsucht (suspirium) der Mädchen gerühmt” (S. 352).
„An ,echter’, stadtrömischer Prominenz kommen Kaiser und Konsuln in einigen geritzten Inschriften vor, obwohl Politik in den pompejanischen Graffiti so gut wie gar keine (erkennbare) Rolle spielte. Bei den Kaisergraffiti handelt es sich dementsprechend in den meisten Fällen um bloße Namensnennungen oder Glückwünsche an den Kaiser, und die Inschrift ,Aug(usto) feliciter!’ im Theaterkorridor wurde sogar in tabula ansata gesetzt, um dem Geschriebenen einen offiziellen Anstrich zu geben. Überwiegend wird Nero als Kaiser genannt, wohingegen Titus und Vespasian in den geritzten Inschriften gar nicht erscheinen, darüber hinaus ist Tiberius dreimal, Otho einmal inschriftlich belegt. ... An bekannten Persönlichkeiten von außerhalb Pompejis sind auch manchmal Konsuln in den Graffiti genannt, allerdings nur zur Datierung des Geschriebenen” (S. 357).
Kapitel neun bildet ein sehr gehaltvolles Fazit „Die Praxis des Graffitischreibens im pompejanischen Wohnhaus” (S. 359-366). Einige Ergebnisse: Moderne Graffiti unterscheiden sich ganz gravierend von antiken Graffiti: „Das wohl augenscheinlichste Unterscheidungsmerkmal ... ist dabei wohl die auf der einen Seite freimütige – sogar gezielte! – Herausstellung der eigenen Identität durch die Autoren antiker Graffiti gegenüber der Benutzung von Nicknames und Codes moderner Graffitikünstler zur Verschleierung der eigenen Persönlichkeit” (S. 359). – Die Autorin rückte in ihrer Arbeit Technik und Form des Graffitischreibens – bislang weniger untersuchte Charakteristika – in den Mittelpunkt und kam dabei zu Ergebnissen bei „Fragen nach der Wahrnehmung der Inschriften und der Selbstwahrnehmung ihrer Urheber, nach Machart und Gestaltungswillen, Motivation und Entstehungsbedingungen” (a.a.O.). – Sie unterscheidet kulturelle Voraussetzungen des pompejanischen graffiti habit („inoffizielle, unautorisierte Inschriften” gespeist aus einem „Ideenpool, der geprägt war von dem, was man im Alltag sah und las”) von individuellen Voraussetzungen (das dafür notwendige Maß an Literalität ist gering einzuschätzen; Bewohner und Besucher jeden Geschlechts, Status’ und Alters kommen dafür in Frage, Frauen sind selten als schreibende Subjekte aktiv; ein großer Anteil griechischer Namen macht die stark servile oder libertine Prägung der pompejanischen ,Graffitiszene’ deutlich) und situativen Voraussetzungen (Graffiti sind keine gängige Form der Kommunikation zwischen einem Sender und einem Empfänger; oft waren es Dritte, die kommentierten, erweiterten, umdeuteten, imitierten oder Texte und Bilder schlicht zum Anlass für Neues nahmen. Dabei entstanden eigene Schreibmethoden wie die sog. Buchstabenschiffe, dekorative Ausgestaltungen von Namen in der Form von Schiffen). – Humoristische Sprüche und selbstironische Texte lassen erkennen, dass Graffiti mehr sein konnten als bloße Reaktionen und Imitate. Schlangenreime etwa belegen einen spielerischen Umgang mit Form, Inschriftenträger und/oder Rezipienten. – Inhalte und Anzahl der Graffiti in Läden und kleinen Werkstätten unterscheiden sich stark von denen großer und sehr großer Wohnhäuser; sowohl im Stadtgebiet als auch innerhalb der Wohnhäuser gibt es Hotspots, an denen besonders viele Graffiti kumuliert sind. Am dichtesten beschrieben ist die Casa di Paquius Proculus mit 0,09 Graffiti pro qm; in der Casa delle Nozze d'argento ist der vergleichsweise große Anteil erotischer Texte bemerkenswert, der dort mit einem verhältnismäßig hohen Anteil von weiblichen Namen korreliert. – Die Verteilung der Inschriften deckt sich mit den Hauptverkehrsachsen im Haus, d.h. den Eingangsbereich und den großen Verteilerräumen. Die Überzahl von Graffiti in den Peristylen demonstriert bei den vier größten Häusern die Dynamik dieser Räume als gleichsam Verkehrsdrehscheiben. – Schwierig zu beantworten ist anhand der Inschriftenverteilung die Frage, ob es sich bei den Schreibern um Hausbewohner oder Besucher handelte, auch wenn die Anzahl von Graffiti proportional zur Größe des Hauses steigt. – „Was den graffiti habit angeht, so lässt sich konstatieren, dass er einerseits auf das menschliche Bedürfnis zurückgeht, ein Zeichen der eigenen Existenz zu hinterlassen, andererseits auf einen spielerischen Umgang mit dem Medium Wand, dessen Malereien und Inschriften. ... Zentral für die römische Graffitikultur ist also, dass man sich nicht von Bestehendem abgrenzte, sondern die geritzten Inschriften einen Teil der im Stadtbild und im Wohnraum präsenten Texte und Bilder darstellten. ... und obwohl diese Inschriftenform in den Wohnhäusern offenbar toleriert wurde, schrieb man nicht wahllos an sämtliche verfügbaren Flächen. Das Graffitischreiben scheint beliebt, aber keinesfalls ein Massenphänomen oder gar eine gängige, überall praktizierte Kommunikationsform gewesen zu sein” (S. 365).
Das Buch beschließen neben dem schon erwähnten Inschriftenkatalog mit den Rubriken Lesung, Lokalisierung und Referenzen (367–400) und Abbildungen (401–439) eine sehr umfangreiche Bibliographie (441–467) sowie ein Verzeichnis der Inschriften und Gebäude (471–486).
Das großartige, material- und ergebnisreiche Buch steht dankenswerterweise vollständig in 18 Partien als pdf zum Download zur Verfügung: https://www.degruyter.com/viewbooktoc/product/488442
Thomas Bauer, Warum es kein islamisches Mittelalter gab.
Das Erbe der Antike und der Orient,
München 2018,
Verlag C. H. Beck,
175 S., 22,95 €,
978-3-406-72730-6

Nach seinem bereits als Klassiker der Kulturwissenschaft gehandelten Werk „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ (2011) und seinem mit dem Tractatus-Preis ausgezeichneten Essay „Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“ (2018) liegt mit „Warum es kein islamisches Mittelalter gab“ nun der neueste Wurf des vieldiskutierten deutschen Islamwissenschaftlers und Leibnizpreisträgers Thomas Bauer vor.
Wie bereits bei seinem vielfach rezipierten Konzept der ‚Ambiguität‘ geht es Bauer auch in diesem Werk um weit mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Auf dem Prüfstand steht nämlich nicht nur der Begriff des ‚islamischen Mittelalters‘, sondern unser Verständnis von Geschichte an sich.
„Je, c’est un autre“, lautet der bekannte Satz des Sprachwissenschaftlers Émile Benveniste und so ist es kein Zufall, dass es ein Islamwissenschaftler ist, der mit seinen Thesen nicht allein das – vor allem in der nationalen wie auch internationalen Medienlandschaft gängige – Bild eines ‚mittelalterlichen Islams‘ ins Wanken bringt, sondern gleich das gesamte Selbstverständnis unserer abendländischen Kultur und die aus ihr resultierende Geschichtsschreibung einer grundsätzlichen Kritik unterzieht.
Jenseits der Fragen, ob denn ‚der Islam‘ nun zu Europa gehöre oder nicht und wie fortschrittlich oder demokratisch er eigentlich sein kann, unternimmt Bauer den Versuch, die gängige Trias von „Antike – Mittelalter – Neuzeit“ zu dekonstruieren und damit die Schwierigkeiten unseres gegenwärtigen Geschichtsbildes offenzulegen. Dabei begnügt sich Bauer nicht damit, unser Verständnis von ‚Islam‘ als eine in großen Teilen europäische Imagination zu entlarven – dafür würde es reichen, einen Blick in Edward Saids Orientalismus (1988) zu werfen – sondern zeigt Wege auf, wie sich ein adäquateres und damit für die Forschung zugleich produktiveres Verständnis von Geschichte entwickeln lässt.
Redet man von einem ‚islamischen Mittelalter‘, begegnet einem das erste Problem freilich bereits mit dem Ausdruck ‚islamisch‘, sofern dieser Begriff „eine Kultur und nicht eine Religion bezeichnen soll“ (18). Mehrheitlich ‚islamisch‘ wurden die Länder des nahen und mittleren Ostens nämlich weniger durch die sogenannten ‚islamischen Eroberungen‘ im siebten und achten Jahrhundert, sondern vielmehr durch die – wie Bauer an anderer Stelle feststellt – „westliche Ideologie des Nationalismus“ (50).
Tatsächlich waren die Errungenschaften der Epoche auch kaum denkbar ohne die vielerorts mehrheitlich christliche Bevölkerung, deren Priester, Mönche und Ärzte die Werke der griechischen Antike nicht allein durch Übersetzungen in das Syrische und Arabische verbreiteten, sondern selbst tatkräftig an deren Kommentierung und Entwicklung mitwirkten.
Wie problematisch der Ausdruck ‚islamisch‘ für eine so multireligiöse und polyethnische Zeit wie das sogenannte ‚islamische Mittelalter‘ sein kann, zeigt nicht zuletzt die Debatte um Sylvain Gougenheims Aristote au Mont Saint-Michel (2008), in dem der Autor versucht, die genuine Kulturleistung ‚des Islams‘ mit Verweis auf die vielen nicht-muslimischen Wissenschaftler in Abrede zu stellen. Der wissenschaftliche Fortschritt fand – so Gougenheims Konklusion – nicht wegen, sondern trotz des Islams statt. Eine gleichermaßen sachlich falsche wie auch politisch verantwortungslose These, die auf das von Bauer angesprochene Problem der irreführenden Bezeichnung ‚islamisches Mittelalter‘ zurückgeführt werden kann.
Doch Bauers primäres Anliegen betrifft die Verwendung des Begriffs ‚Mittelalter‘, dessen Paradoxie sich bereits aus seiner Benennung durch die beiden benachbarten Epochen der Antike und der Renaissance einsehen lässt. „Von Anfang an“ – so Bauer – „schwang die diffamierende Absicht mit, die lichte Welt der Antike und die wiedererleuchtete der Renaissance einem Zeitalter der Finsternis entgegenzusetzen“ (19). Anhand vieler Beispiele aus dem medialen (darunter ein Spiegel-Cover aus dem Jahr 1979), politischen und wissenschaftlichen Diskurs zeigt Bauer, dass der Begriff ‚Mittelalter‘ überall dort verwendet wird, wo wir epochenunabhängig „Rückständigkeit und religösen Fanatismus“ (19) vermuten.
Mustergültig deckt Bauer die Argumentation eines solchen ‚historischen Substantialismus‘ an Helmut Schmidts Kommentar zum EU-Beitritt der Türkei aus dem Jahre 2004 auf, in dem es heißt, im Islam fehle „die für die europäische Kultur entscheidenden Entwicklungen der Renaissance, der Aufklärung und der Trennung zwischen geistlicher und politischer Autorität“ (25). Kurz gesagt: Mittelalter, das sind immer die anderen! Obwohl wir mit diesem Begriff eine genuin europäische Epoche bezeichnen, definieren wir uns lediglich durch die Werte der Antike, der Renaissance, der Reformation und der Aufklärung. Als Ergebnis wird paradoxerweise – so Bauers Fazit – „das Mittelalter gewissermaßen ausgelagert, nämlich in die islamische Welt“ (26). Wie daraus ein hegemonialer Anspruch entsteht, eben diese Länder ‚der Moderne‘ entgegenzuführen, erschließt sich dabei bereits von selbst.
Warum wir auf den Begriff ‚Mittelalter‘, und erst recht auf den eines vermeintlich ‚islamischen Mittelalters‘ verzichten sollten, ist dem Leser spätestens mit Bauers kursorischer Gegenüberstellung der unterschiedlichen Entwicklungen von Ost und West zwischen dem 7. und dem 12. Jahrhundert hinreichend klar geworden. Doch wie lässt sich ein adäquateres und – was den Islam betrifft – integrativeres Geschichtsbild entwickeln?
Zunächst einmal liege eine Epochengrenze nach Bauer erst dann vor, wenn die Lebenswirklichkeit eines sinnvoll gewählten geographischen Raumes sich in hinreichend vielen Bereichen grundlegend geändert habe. So schreibt Jacques Le Goff in seinem Essay Geschichte ohne Epoche (2016), dass Kolumbus Amerika zwar bereits im 16. Jahrhundert entdeckt habe, dieses Ereignis jedoch erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts – also dreihundert Jahre später – mit der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika die Lebenswirklichkeit der Europäer nachhaltig veränderte. Daher scheint es sinnvoll, die entsprechende Epochengrenze in diesem Fall in die Mitte des 19. Jahrhunderts zu verlegen, an einen Zeitpunkt also, an dem sich die Entdeckung Amerikas als ein wirkmächtiges Ereignis erwiesen hat.
Übertragen auf die problematisierte Epoche des ‚Mittelalters‘ – also grob die Zeit zwischen 500 und 1500 – ist es nach Bauer ebenso kaum sinnvoll, mit der Entstehung des Islams im 7. Jahrhundert und den daran anschließenden islamischen Eroberungen eine Epochengrenze zu ziehen, da diese nachweislich keinen unmittelbaren Bruch in der Lebenswirklichkeit der Menschen dargestellt hat, sondern im Gegenteil die spätantike Tradition – so etwa die Herrschaftsform des imperialen Monotheismus oder die Tradition des Aristotelismus als vorherrschende philosophische Strömung – fortführte und gemäß ihrer Eigengesetzlichkeit fortentwickelte. Auch die geographischen Räume ‚Europa‘ oder ‚vorderer Orient‘ eigneten sich kaum, um die relevanten historischen Prozesse in den Griff zu bekommen. Vielmehr müsse man – so Bauers Vorschlag – einen Kulturraum veranschlagen, der „vom Mittelmeer bis zum Hindukusch“ (84) reicht.
Bauer wirft beim Entwurf seiner Epochenkonzeption auch einen vielversprechenden Seitenblick auf die Methodik der Sprachwissenschaft und unternimmt den Versuch, den kontinuierlichen Verlauf der Geschichte mithilfe von sich vielfach überlappenden Übergangslinien (in der Linguistik Isoglossen genannt) zu gliedern, die er auf den Namen Isoschemen getauft hat. „Solche Isoschemen wären etwa die Einführung des Papiers als Schreibmaterial, der Übergang von einer Verwaltungssprache in eine andere oder das Ende der Vorstellung, dass die Obrigkeit von Gott eingesetzt ist“ (88). Wie bei Sprach- und Dialektgrenzen werde es so auch für die Geschichte möglich, mancherorts bereits einige wirkmächtige Epochenmerkmale festzustellen, während andernorts noch andere ‚Merkmalsbündel‘ vorherrschen, ohne dass die Menschen gleich in jeweils verschiedenen Epochen gelebt haben müssen.
Bauers Kritik betrifft somit zum einen die historische Fixierung auf Einzelereignisse wie Dynastienwechsel, die Entstehung von Religionen oder den Verlauf militärischer Aktionen sowie zum anderen ein Hegelianisches Geschichtsverständnis, wonach sich Geschichte stets im Wechsel von Aufstieg, Blüte und Niedergang vollziehen muss.
Alternativ schlägt Bauer im Anschluss an Gerth Fowdens Before and After Muhammad (2014) vor, ein stärkeres Gewicht auf Kontinuitäten und Transformationen zu legen und geschichtiche Prozesse als einen Wechsel von ‚formativen Phasen‘ wie es die islamische Spätantike ist, und ‚Perioden der Reife und Ausdifferenzierung eines bestehenden Paradigmas‘ zu begreifen, die beispielsweise vorliegen, wenn der Gegenstand einer Disziplin „in einem Handbuch auf eine auch später noch weitgehend gültige Weise zusammengefasst wird“ (125).
Davon unberührt bleibt das durch politische, ökonomische und klimatische Veränderungen bewirkte stete Auf und Ab der Geschichte freilich bestehen, büßt jedoch seine Rolle als hermeneutischer Rahmen zur Epochenbildung ein. Als weiteres Werkzeug bemüht Bauer auch die von Fowden eingeführte Trias von ‚prophetischen‘, ‚skripturalen‘ und ‚exegetischen‘ Phasen, die es ermöglichen sollen, verschiedene Zeitabschnitte einer Epoche – nicht nur in Bezug auf Religionen – ohne das Konzept von ‚Aufstieg‘ und ‚Verfall‘ zu gliedern.
So ist die Ausarbeitung von oftmals freilich wenig innovativen Kommentaren und Kompendien kein Zeichen einer erloschenen Geisteskraft, sondern spiegelt im Rahmen der ‚exegetischen Phase‘ das Bedürfnis, einen Wissensbestand zu fixieren und institutionell zu verankern, sei es im Bereich der Religion, des Rechts oder der Philosophie.
Bauers Gegenvorschlag zur Auflösung des Mittelalters sieht folglich ein sich in die genannten Phasen gliederndes Zwei-Epochen-Schema vor mit einer etwa tausendjährigen ‚romano-graeco-iranischen Antike und Spätantike‘, die irgendwo zwischen Christi Geburt und dem 3. Jahrhundert beginnt und bis etwa 1050 reicht und einer daran anschließenden etwa 800-jährigen Epoche der ‚Neuzeit‘, die sich wiederum um 1500 in eine ‚erste‘ und ‚zweite‘ Neuzeit unterteilten lässt.
Diese Vorschläge haben freilich eine lange Tradition und werden bereits seit einigen Jahrzehnten auf breiter Basis in der Fachwelt diskutiert. Bauers Verdienst liegt folglich mehr darin, sie einer breiten Öffentlichkeit anschaulich darzulegen und zugleich mit einer grundsätzlichen ‚Ideologiekritik‘ unseres Epochenverständnisses zu verbinden, wodurch sich auch für die zahllosen Islamdebatten neue Wege bestreiten lassen. Können wir den Begriff des Mittelalters also mit gutem Gewissen selbst Geschichte werden lassen? Ganz so einfach ist es nicht.
In seiner Replik auf Bauers Thesen hat Ralf Behrwald1 darauf hingewiesen, dass die vorgeschlagene Neuziehung der Epochengrenzen für das Selbstverständis unseres heutigen Europas durchaus weniger aufschlussreich und nützlich sei als umgekehrt für den Islam, für den die griechische Antike einen klareren Bezugspunkt darstellt als umgekehrt der Islam für uns. Zugleich kritisert er, dass Bauer zu stark von gegebenen geographischen Räumen ausgehe, da diese in letzter Konsequenz erst durch historische Prozesse – etwa die Ausbreitung des Islamischen Kalifats – geschaffen werden: „Den Raum der islamischen Hochkultur, von Marokko bis Samarkand kann man“ – so Behrwald – „für die Zeit vor dem Islam nicht sinnvoll beschreiben“. Zugleich sei „das Auseinanderfallen von westlicher und östlicher Hälfte des Mittelmeerraumes“ doch ein nicht zu vernachlässigender und bis heute folgenreicher Einschnitt gewesen.
Auch wenn sowohl Bauers methodisches Vorgehen als auch seine Schlüsse trotz der angeführten Kritikpunkte in ihrer Summe durchaus überzeugend sind, bleibt noch abschließend die Ausgangsfrage, ob sich denn tatsächlich unser Bild vom Islam so leicht ändern lässt, wenn wir das Mittelalter als Kategorie chirurgisch aus unserem Geschichtsverständnis entfernen.
Ist unser gesamtes Verständnis von ‚Modernität‘ nicht bereits zu stark auf der Ablehnung der Axiome eines bestimmten Zeitalters begründet, ob wir es nun ‚Mittelalter‘ nennen oder nicht? So waren sich Denker der Renaissance und des Humanismus wie Petrarca oder Juan Louis Vives gewiss im Klaren darüber, dass mit dem ausgehenden Mittelalter ein gewisses Paradigma – nämlich das des scholastischen Aristotelismus – sowohl in den Arbeiten eines Avicenna als auch eines Thomas von Aquin zu einer gewissen Blüte gekommen war. Betrachtet man den Umfang der in lateinischer Übersetzung zugänglichen philosophischen wie auch wissenschaftlichen Schriften und das in jener Zeit herrschende Reflexionsniveau ihrer Kommentare, ist es geradezu naiv, der Renaissance eine Wiederentdeckung der gesamten Antike zuzusprechen.
Vielmehr war die Renaissance die Wiederentdeckung einer bestimmten Antike und zwar der tatsächlich marginalisierten Traditionen des griechischen und lateinischen Hellenismus, etwa der Rhetorik, der Skepsis sowie der in ihrer Konsequenz monistischen Philosophien des Epikuräismus und der Stoa. Wenn nach Bauer folglich die „Bewahrung und Fortentwicklung der antiken Kultur“ im besonderen Maße „den Osten kennzeichnet“ (75), so stimmt das beispielsweise im Bereich der Philosophie nur für einen bestimmten Teil der Antike, nämlich allein für die spätantike ‚Aristotelische Tradition‘. Da die Mittelalterkritik der Renaissance aber eben dieses Paradigma des scholastischen Aristotelismus angriff, schließt sie nunmal – unabhängig von seinem zivilisatorischen Fortschritt – auch den islamischen Kulturkreis ein.
So sind Bauers Vorschläge für die Geschichtswissenschaft durchaus plausibel und bedenkenswert. Ob sich durch die Aufgabe der Kategorie des Mittelalters jedoch die bis heute wirkenden ideologischen Gräben zwischen einem ‚modernen Abendland‘ und einem wie auch immer genannten ‚vormodernen Islam‘ auch jenseits der Fachwelt schließen lassen, muss sich noch zeigen.
Alexander Lamprakis, M.A.
Munich School of Ancient Philosophy (MUSAΦ)
Ludwig-Maximilians-Universität München