Wer einmal sein amo, amas, amat ..., „Ich liebe, du liebst, er liebt ...“, durch alle Tempora konjugiert hat und mit Julius Caesar auf und ab durch das dreigeteilte Gallien gezogen ist, erkennt in einem „Minister“ leicht einen „Diener“ – mit Friedrich dem Großen den „premier serviteur“ – des Staates, und in einem Minister-„Präsidenten“ den „Vorsitzenden“ dieser ehrenwerten Dienerschaft. Aber beim „Kanzler“ oder einer „Kanzlerin“ ist selbst ein tüchtiger Lateiner mit seinem Schullatein am Ende, und auch ein Blick ins Wörterbuch stiftet da zunächst Verwirrung.

Der gute alte, jetzt wieder neue zweibändige „Georges“ verzeichnet an der Stelle zunächst ein Substantiv cancellarius in der Bedeutung eines „Dieners an den Gerichtsschranken“ und ein gleichlautendes Adjektiv cancellarius in der Bedeutung „hinter Gittern gemästet“, weiter ein Verb cancellare, „vergittern, mit einem Gitter überziehen“, und eine davon abgeleitete cancellatio für die „Landvermessung nach Quadratschuhen“. Plinius bezieht das Partizip cancellatus, „vergittert“, einmal auf die runzelige Haut des Elefanten. Was in aller Welt hat das, abgesehen von den Schranken vor dem Berliner Kanzleramt, mit einem Kanzler zu tun? 

Ein „Lattenzaun mit Zwischenraum, hindurchzuschaun“, die Latten kreuzweise schräggestellt, hiess im Lateinischen im Plural cancelli, „die Latten, die Schranken“. Daher rührt die Bezeichnung cancellarius, „der an den Schranken“, für den Gerichtsdiener, der an der Abschrankung zwischen dem Gericht und dem Publikum Dienst tat, Schriftsätze entgegennahm und Urkunden aushändigte, und daher rührt dann auch das damals noch empfehlende Prädikat cancellarius für die „in Käfighaltung“ gemästeten und darum besonders fetten Krammetsvögel.

In der Spätantike begegnen Träger des Titels cancellarius in einer entsprechenden höheren Schlüsselfunktion als Privatsekretäre hoher Magistraten, in den Senatorenrang erhoben und mit dem Ehrentitel Vir clarissimus ausgezeichnet. Von diesen spätantiken cancellarii hatte der mittelalterliche kanzelaere seinen Titel: Auch der vermittelte ja sozusagen „an den Schranken“ zwischen Kaiser und Volk – und vermittelt unter diesem Stichwort zwischen den Gerichtsdienern des alten Rom und den Bundeskanzlern in Berlin und Wien und dem dritten in Bern.

Von anderen Schranken hat sich das Wort dann noch zu einem zweiten, ganz unpolitischen Höhenflug aufgeschwungen. Im Mittelalter haben die Schranken zwischen Kirchenchor und Kirchenschiff, Klerikern und Laienvolk zunächst der darüber erhöhten Predigt-„Kanzel“ den Namen gegeben; von da ist das Wort in neuerer Zeit auf die ähnlich vorkragende Aussichts-„Kanzel“ hoch über Berg und Tal oder doch wenigstens über dem Rheinfall übergesprungen, und von diesem luftigen Ausguck ist es in jüngster Zeit noch zu dem rings verglasten Ausguck der Piloten-„Kanzel“ hoch über den Wolken aufgestiegen.

Damit sind wir, scheint es, nun weit jenseits aller Gerichts- und Kirchenschranken und überhaupt aller Gitterwerke. Und doch nur solange, bis ein Pilot – wie kürzlich in Hongkong geschehen – eben noch vor dem Start eine kabelknabbernde Maus entdeckt und auf der grossen Tafel in der Abflughalle dann ein anglolateinisches „Cancelled“ aufscheint. Jenes lateinische cancellare, „kreuzweise vergittern“, bedeutete schon bei den römischen Juristen soviel wie „streichen, tilgen“, entsprechend dem schon fast vergessenen „Ausixen“ auf der alten Schreibmaschine. Die Dudenredaktion hat dieses „Ausixen“ zwar noch nicht gecancelt, aber das lateinische cancellare, neudeutsch „canceln“, schon mal eingebürgert; statt cancello, cancellas, cancellat ... konjugiert sich das jetzt: „Ich canc(e)le, du cancelst, er cancelt ...“