Kyle Harper: FATUM. Das Klima und der Untergang des römischen Reiches,
aus dem Englischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube,
Originaltitel: The Fate of Rome. Climate, Disease, and the End of an Empire.
Verlag C. H. Beck, München 2020 | Gebundene Ausgabe.
Mit 42 Abbildungen, 9 Tabellen und 26 Karten. 567 Seiten, € 29,95
ISBN 978-3-406-74933-9

Drei Jahre vor Corona und zwei vor Greta – im Jahr 2017 – veröffentlichte Kyle Harper, Professor für Altertumswissenschaften an der University of Oklahoma, seine Geschichte über große Pestepidemien, Hunnensturm und imperialen Zusammenbruch. Er führt seine Leserinnen und Leser vom Höhepunkt des 2. Jahrhunderts n. Chr., als das römische Weltreich eine schier unüberwindliche Macht zu sein schien, in die Niederungen des 7. Jahrhunderts, als das Imperium ausgemergelt, politisch fragmentiert und materiell ausgelaugt war. Er beschreibt, wie die Römer lange tapfer standzuhalten suchten, als Umweltveränderungen das ganze Reich niederdrückten – bis schließlich die Folgen der „Kleinen Eiszeit“ und das wiederholte Auftreten der Pest die Widerstandskraft der einstigen Weltmacht aufgezehrt hatten.
Kyle Harper zieht erstmals die Summe aus umweltgeschichtlichen Forschungen, die aufgrund rasanter Fortschritte in naturwissenschaftlichen Methoden (u.a. Eisbohrkernforschung, Gletscheranalysen, Dendrochronologie, Paläogenetik, Knochenuntersuchungen, Isotopenanalysen, Paläomikrobiologie, Paläoklimaforschung) zu einer Fülle von teils neuen, teils exakteren Erkenntnissen kommen. So kann man sagen: Die Klimaerwärmung zwischen 200 v. Chr. und 150 n. Chr. war Geburtshelfer unserer Zivilisation (so Konstantin Sakkas im Deutschlandfunk Kultur vom 30.3.2020). Denn die Römer verdankten ihre mächtige Position offensichtlich einem glücklichen Moment der Geschichte, schreibt Kyle Harper: „Das Imperium erreichte seine größte Ausdehnung und höchste Prosperität in einer Phase, die römisches Klimaoptimum genannt wird. Neben Handel und Technologie war das Klima ein stiller Partner in einem scheinbaren circulus virtuosus von Macht und Prosperität.“
„Gibbons berühmtes Werk Verfall und Untergang des römischen Imperiums beginnt mit den glücklichen Tagen des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts. Sein berühmtes Urteil lautete: 'Wenn jemand aufgefordert werden sollte, die Periode in der Weltgeschichte anzugeben, während welcher die Lage des Menschengeschlechtes die beste und glücklichste war, so würde er ohne Zögern diejenige nennen, welche zwischen dem Tode des Domitian (96 n. Chr.) und der Thronbesteigung des Commodus (180 n. Chr.) verfloss.'“ (31).
Die Blüte der Landwirtschaft und der Städte wäre ohne besonders günstige klimatische Bedingungen nicht möglich gewesen. Das Roman Climate Optimum erweist sich als eine Warmphase mit feuchtem und beständigem Klima fast im ganzen mediterranen Kernland des Imperiums. Dies war ein günstiger Moment, um dank einer Reihe voneinander unabhängiger politischer und ökonomischer Bedingungen ein agrarisches Reich zu schaffen (35). Das, so Kyle Harper, begünstigte den Aufstieg Roms zur Weltmacht: Immer mehr Menschen konnten ernährt werden und die Wirtschaft prosperierte.
„Bakterien sind noch weitaus tödlicher als Barbaren“.
Doch mit dem geschenkten Glück bauten die Menschen eine Umwelt, die auch besonders anfällig war: Über die Verbindungswege der protoglobalen Ökonomie sowie in den dichtbevölkerten Städten konnten aus Mittelasien und dem Raum des Indischen Ozeans eingeschleppte Erreger nunmehr Pandemien auslösen.
Vorausgegangen waren klimatische Veränderungen; dieser Umschwung vollzog sich ab der Mitte des zweiten Jahrhunderts, seit diesem Punkt „ging es mit dem Glück der Römer bergab. Während der Jahrhunderte, die Gegenstand unserer Untersuchung sind, kam es zu einer der dramatischsten Klimaveränderungen im ganzen Holozän. Zunächst begannen drei Jahrhunderte andauernde klimatische Turbulenzen (von 150 bis 450 n. Chr.), die wir 'Römische Übergangsperiode' nennen möchten. An entscheidenden Wendepunkten belastete die Unbeständigkeit des Klimas die Kraftreserven des Imperiums und beeinflusste dramatisch den Lauf der Ereignisse. Gegen Ende des fünften Jahrhunderts nehmen wir Anzeichen einer entscheidenden Veränderung wahr, die in der spätantiken 'Kleinen Eiszeit' ihren Höhepunkt erreichte. Heftige vulkanische Aktivitäten in den Jahren von 530 bis 540 führten zur kältesten Zeitspanne des gesamten Holozäns. Gleichzeitig gingen die Sonneneinstrahlung und damit die zur Erde gelangende Energie auf das niedrigste Niveau in mehreren Jahrtausenden zurück. Wir werden sehen, dass die (reale) Klimaverschlechterung mit einer bis dahin beispiellosen biologischen Katastrophe einherging, so dass vollends zerstört wurde, was vom römischen Staat damals noch übrig war“ (36).
Gustav Seibt (Süddeutsche Zeitung vom 25.03.
2020) gibt in seiner Besprechung zu bedenken: „Roms Ursprung in einer klimatisch milden Zwischenepoche dürfte ein Grund gewesen sein, warum seine Ökologie bisher so geringe Aufmerksamkeit fand. Die Spätantike bietet das Kontrastbild, das die Frage überhaupt erst plausibel macht. Das Römische Klimaoptimum war eine Hintergrundbedingung, die wegen ihrer Stabilität nicht auffiel.“
Drei Seuchenzüge, die Antoninische Pest 165, die Cyprianische Pest 249–264 und die Justinianische Pest 541–543, sowie weitere Ausbrüche bis 749, veränderten die Welt. Das Krankheitsbild war verheerend, Geschwülste unter den Achseln, an den Ohren und den Oberschenkeln, die in Eiter übergingen, linsengroße schwarze Blasen am ganzen Körper, schwarze Flecken auf den Händen: Es handelte sich um die Beulenpest, die innerhalb weniger Tage zum Tode führte und die Bewohner ganzer Städte und Dörfer auslöschte (327).
Der Infekt verbreitete sich, getragen von den Zwischenwirten Flöhen, Ratten und Menschen vor allem zu Wasser, über die Hafenstädte. Die Pest war Begleiterin der kaiserzeitlichen Stadtkultur, des mittelmeerischen Getreidehandels, ihre Expansion nutzte auch das immer noch intakte Straßennetz des Reichs. „Die Pest breitete sich in verschiedenem Tempo aus: schnell auf dem See-, langsam auf dem Landweg. Allein der Anblick von Schiffen erregte Angst und Schrecken“ (328).
Und das ist eine der wichtigsten Pointen von Harpers Darstellung: Es war das Imperium selbst, das zum Biotop überregionaler Seuchenverbreitung werden konnte – abgeschottete Teilräume kannte es nicht mehr, auch da nicht, wo seine politische Herrschaft gar nicht mehr existierte wie im Westen.
Infolge dieser Erkrankung sank die Bevölkerung im sechsten Jahrhundert womöglich um die Hälfte, Prokop spricht von täglich fünftausend, schließlich zehntausend und mehr Toten (330). Damit aber wurde die Aufrechterhaltung jener Strukturen unmöglich, die der Krankheit zuvor genutzt hatten. Der bisher stabile oströmische Reichsteil geriet auch administrativ und militärisch ins Taumeln, sodass er ein Jahrhundert später leichte Beute für die islamische Eroberung wurde.
„Die soziale Ordnung (sc. in Konstantinopel) geriet ins Wanken und brach schließlich zusammen. Arbeit jeglicher Art wurde eingestellt. Die Märkte machten zu und eine merkwürdige Nahrungsmittelknappheit folgte: 'So herrschte in einer Stadt, die großen Überfluss an allen möglichen Gütern hatte, schwere Hungersnot.' ... Der Geldverkehr kam zum Erliegen. In den Straßen herrschte das Grauen. 'Niemand verließ das Haus, ohne einen Anhänger am Arm oder um den Hals, auf dem sein Name geschrieben war.' Der Palast erlag ebenfalls der Seuche, seine Armee von Dienern war auf einige wenige Bedienstete geschrumpft. Justinian selbst steckte sich an. Er hatte Glück und gehörte zu dem Fünftel derer, die die Infektion in der Regel überleben. Der Staatsapparat war nicht mehr präsent. ... Bald war die Stadt mit Leichen übersät. Anfangs bemühten sich die Angehörigen noch, ihre Toten zu begraben, dann aber kamen sie damit nicht mehr nach“ (330f.).
Aber es war nicht nur die Pest. Kurz vor 540 verursachten offenbar mehrere riesige Vulkanausbrüche eine nachhaltige Verfinsterung der Atmosphäre, die sich überall auf dem Globus nachweisen lässt. „Die schleichende Klimaveränderung stand unter dem Einfluss von planetarischen Ereignissen. Seltsame Vorgänge am Himmel sind seit langem aus alten Berichten bekannt. Im Jahr 536 wurden die Menschen überall auf der Erde vom 'Jahr ohne Sommer' in Angst und Schrecken versetzt. Auf seinem Feldzug in Italien mit Belisar beschrieb Prokop das 'gar furchtbare Zeichen' der Sonnenverdunkelung. 'Die Sonne, ohne Strahlkraft, leuchtete das ganze Jahr hindurch wie der Mond und machte den Eindruck, als ob sie fast ganz verfinstert sei. Seitdem aber das Zeichen zu sehen war, hörte weder Krieg noch Seuche noch sonst ein Übel auf, das den Menschen den Tod bringt'. Johannes von Ephesus berichtet Ähnliches aus dem Osten. 'Die Sonne blieb eineinhalb Jahre, also achtzehn Monate, lang verdunkelt. Obwohl ihre Strahlen zwei oder drei Stunden am Tag sichtbar waren, schienen sie gleichsam erkrankt, mit der Folge, dass die Früchte nicht ganz ausreiften“ (361).
So machten gewaltige Vulkanausbrüche die Jahre von 536 bis 545 zur kältesten Dekade der letzten zweitausend Jahre, die spätantike Kleine Eiszeit hatte begonnen, die durchschnittlichen Sommertemperaturen fielen anno 536 um 2,50°C, 540 um weitere 2,70°C. Es bedurfte zweier NASA-Wissenschaftler, die 1983 auf das Jahr ohne Sommer aufmerksam machten, indem sie eine Verbindung zwischen den schriftlichen Quellen und dem konkreten Hinweis auf Vulkantätigkeit in Eisbohrkernen zogen; und auch deren Erkenntnisse mussten noch durch Daten der Dendrochronologie optimiert werden. Irgendwann im Frühjahr 536 ereignete sich demnach ein gigantischer Vulkanausbruch in der nördlichen Hemisphäre, auf den 539 oder 540 eine noch verheerendere Explosion in den Tropen folgte, die auf beiden Polen Spuren hinterließ (364f). „Wenn es eine direkte Konsequenz der heftigen Klimaanomalie gab, war es möglicherweise der verborgene ökologische Auslöser, der zur Ausbreitung des Pestbakteriums in den Jahren direkt nach den Vulkanausbrüchen führte. Ob die Kälte Ursache der Wanderungen in Zentralasien war, ist unklar: Trockenperioden haben weitreichendere Folgen als Temperaturanomalien. Alles in allem hatten die kalten 530er und 540er Jahre nicht den sozialen Zusammenbruch oder das Versagen des Staates zur Folge, doch belasteten diese schwierigen Jahre immer mehr eine imperiale Ordnung, die bereits durch Kriegführung und unmittelbar bevorstehende Pestilenz bedroht war“ (366). Die sogenannte Justinianische Pest raffte etwa die Hälfte der Bevölkerung dahin – um dann noch für etwa zweihundert Jahre endemisch zu bleiben. Uwe Walter stellt in der FAZ (Der Preis der Verdichtung, FAZ vom 27.03.2020) fest, dass das im Buch entfaltete Panorama ohne wissenschaftlichen Determinismus auskomme und die Verschlungenheit von Geschichte wie das Wechselspiel von Natur, Demografie, Politik und Wirtschaft zeige.
Gustav Seibt betont in der SZ: Klima, Seuchen, demografischer Zusammenbruch, invasorischer Druck auf die Grenzen: Harper bringt ein beeindruckendes, sich wechselweise verstärkendes Faktorenbündel in den Blick. ... Die naturwissenschaftliche Seite dieser Forschungen dürfte in den nächsten Jahren neue Datennahrung bekommen und damit verfeinert werden. Für den gebildeten Leser stellt Harper nicht nur aufregenden Lesestoff zur Verfügung, sondern vor allem Modelle über den Zusammenhang von Natur und Zivilisation in früher, vorindustrieller Zeit (Gustav Seibt, Klimaflüchtlinge zu Pferde. Instabile Grenzen, Klimawandel und drei Pandemien: Kyle Harpers beunruhigend aktuelles Bild vom Untergang Roms in SZ vom 25.3.2020)
Mischa Meier lobte den Autor bereits bei der Besprechung der englischen Ausgabe The Fate of Rome. Climate, Disease, and the End of an Empire: “Harper entwirft ein faszinierendes Bild, das Schattenseiten römischen Alltags, die bisher allzu häufig ausgeblendet wurden, ins Bewusstsein rückt: Die hohe Kindersterblichkeit und niedrige Lebenserwartung (30f.; 73); die verheerenden hygienischen Bedingungen in den Städten (67; 81ff.); die Anfälligkeit des agrarischen und ökonomischen Systems bereits für geringe klimatische Schwankungen; die grundsätzliche (Immun-)Schwäche der Zeitgenossen aufgrund von Würmen und anderen Parasiten, durch verbreitete Infektionskrankheiten (Malaria, vgl. 86f.) und chronische Darmerkrankungen als Folge mangelnder Hygiene (78f.) sowie die zentrale Bedeutung klimatischer und epidemiologischer Faktoren für den Lebensalltag, für politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen“ (Mischa Meier, Besprechung der engl. Ausgabe, in: Sehpunkte 4/2018).
Es ist ein faszinierendes Bild einer untergehenden Gesellschaft, das Kyle Harper zeichnet (Dagmar Röhrlich im Deutschlandfunk). „Während die Römer selbst den Untergang ihres Reichs nicht verstehen und ihn sich kaum vorstellen konnten, bedeutete er letztlich den Sieg der Natur über menschliche Ambitionen. Akteure in diesem Drama waren Kaiser, Barbaren, Senatoren und Feldherren, Soldaten und Sklaven. Doch Roms Schicksal wurde ebenso bestimmt durch Bakterien und Viren, Vulkanausbrüche und Sonnenzyklen.“ Das Buch stimmt nachdenklich – auch und gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts und im Zeichen der Corona-Pandemie.
Stefan Schweizer: Die Hängenden Gärten von Babylon. Vom Weltwunder zur grünen Architektur.
Mit einem Beitrag von Frank Maier-Solgk, „Von den Hängenden Gärten zur zeitgenössischen Hortitecture”,
Wagenbach Verlag, Berlin 2020. 240 S., Abb., br., 28,– €.

Vor Jahren – im Sommer 2006 – gab es in der nahen Bischofsresidenz Burg Ziesar eine Sonderausstellung „Pyramiden in Brandenburg” – auf den ersten Blick ein ziemlich ungewöhnliches Sujet. Der Besucher erfuhr dann staunend, dass auch in Brandenburg, wie in vielen Teilen Europas, die Baukunst ägyptischer Pyramiden eifrig rezipiert wurde. Elf Exemplare sind bis heute erhalten. Die wohl bekanntesten Pyramiden befinden sich im Neuen Garten in Potsdam und in Rheinsberg, nicht weniger beachtenswert sind die Denkmäler Adliger in Reckhahn und Garzau. Die Ausstellung „Pyramiden in Brandenburg” zeichnete den Weg der Pyramiden von Ägypten über Rom nach Brandenburg-Preußen nach. Schwerpunkte waren die Pyramiden-Rezeption, aber auch die Königlich-Preußische Expedition unter Leitung von Richard Lepsius, die den Grundstein für die Entdeckung und Erforschung Ägyptens und der Pyramiden in Deutschland legte. Auch die Orientreise des Fürsten Pückler spielte eine Rolle. Auch er lässt eine Pyramide bauen. – Andreas Platthaus schrieb kürzlich in der FAZ vom 25.4.2020 unter dem Titel Pyramidabel über etliche Pyramiden in und um Leipzig und erwähnt z.B. eine sechs Meter steil aufragende Pyramide auf dem Südfriedhof von dem 1912 verstorbenen Papierhändler Ferdinand Eduard Ullstein, inspiriert
durch eine noch weitaus prachtvollere Grabpyramide, die seit 1885 im damaligen Vorort Schönefeld steht, erbaut von der greisen Rittergutsbesitzerin Hedwig von Eberstein. Schon 1792 habe der Schlossherr Carl Heinrich Graf von Lindenau eine elfeinhalb Meter hohe Pyramide mit Grabkammern für sich, seine Frau und die beiden Kinder bauen lassen. Er nutzte das Mausoleum, bevor er seinen ganzen Besitz verkaufte, vor allem für Freimaurerrituale und festliche Diners. Auf dem Leipziger Südfriedhof kaum hundert Meter vom Ullstein-Grab entfernt steht seit 2005 die Grabpyramide des Fotografen-Ehepaars Renate und Roger Rössing, ein Bau, der alle seine Leipziger Vorgänger zugleich zitiert. Kein Wunder, denn sein Erbauer ist der lokale Friedhofshistoriker Alfred E. Otto Paul. – Weltwunder haben eine wunderliche Geschichte!
Eine aktuelle Ausstellung im Schloss Benrath in Düsseldorf geht einem anderen Wunder der antiken Welt nach, den Hängenden Gärten (Die Hängenden Gärten von Babylon. Ausstellung im Museum für Gartenkunst, 25. März 2020 – 24. Mai 2020, Benrather Schloßallee 100–106, 40597 Düsseldorf / https://www.schloss-benrath.de/). Bei diesem Thema möchte man ähnlich reagieren, wie bei den Pyramiden: sind hängende Gärten nicht ein Thema von gestern? Überdies nehmen sie eine Sonderstellung ein – weil sie als einziges Weltwunder keine Spuren hinterließen: Bis in die Moderne ist umstritten, ob die monumentale bepflanzte Terrassenarchitektur jemals existierte. Gärten kann man normalerweise besuchen, historische Gärten mitunter im Museum inspizieren. Aufgrund der Corona-Beschränkungen ist ein Museumsbesuch zur Zeit (i.e. April 2020) allerdings nicht möglich, aber mit dem im Wagenbach Verlag erschienenen Buch von Stefan Schweizer, Die Hängenden Gärten von Babylon. Vom Weltwunder zur grünen Architektur, ist ein erlebnisreicher Ausflug in die Gärten Babylons und Europas, in die Geschichte, die Literaturgeschichte, die Gartengeschichte und die Architektur der Antike, der frühen Neuzeit und der jüngsten Gegenwart möglich und sehr zu empfehlen.
In der Realenzyklopädie der classischen Altertumswissenschaft war 1910 zu lesen: „Ohne direkten und wesentlichen Einfluss auf den abendländischen G.(artenbau) blieben wohl die von Nebukadnezar II. circa 570 v. Chr. in Babylon hergestellten sog. Hängenden Gärten der Semiramis. Sie sind später öfters von klassischen Schriftstellern beschrieben” worden (S. 13f). Stefan Schweizer (geboren 1968, er war ab 2005 Juniorprofessor für Kunstgeschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und bekleidete die Stiftungsprofessur Europäische Gartenkunst der Stadt Düsseldorf; seit 2012 ist er Wissenschaftlicher Vorstand der Stiftung Schloss und Park Benrath und leitet dort unter anderem das Museum für Gartenkunst) will in diesem Buch und der Benrather Ausstellung entgegen einer solchen Fehleinschätzung zeigen, „auf welch wirkmächtige, bis in die Gegenwart reichende Karriere die Hängenden Gärten zurückblicken, eine Karriere, die sich in Texten seit über 2000 Jahren und in Bildern seit über 600 Jahren nachweisen lässt” (14).
Stefan Schweizer versäumt es nicht, den deutschsprachigen Begriff „Hängender Garten” (in den meisten antiken Texten im Plural verwendet) zu erklären, der regelmäßig zu Mißverständnissen führe: „Er hat weder etwas zu tun mit Hängepflanzen, noch besitzt die architektonische Struktur eine Aufhängung. In den antiken Überlieferungen bezeichnet das griechische Wort kremastos (das im Infinitiv 'hängen' und 'schweben' bedeutet) einen Hängenden Garten, unter dem man im Kontext von Bauwerken einen auf architektonischen Substruktionen, auf einem Unterbau ruhenden Garten versteht. Für die lateinische Übertragung sei stellvertretend auf Quintus Curtius Rufus verwiesen, der von den Horti Pensiles Babylonis spricht und damit dasselbe meint. Im antiken Rom werden zahlreiche Gärten auf Substruktionen angelegt, die mit derselben Vokabel als horti pensiles bezeichnet werden. Die italienische Übertragung des lateinischen Begriffs lautet giardini (auch orti) pensili, die französische jardins suspendus.
Als feststehender Begriff wird darunter in der Frühen Neuzeit analog zum griechischen Ausgangsbegriff und zum römisch-antiken Verständnis noch immer ein Garten auf bewohnbaren Substruktionen verstanden. Diese architektonischen Substruktionen können ein Geschoss beherbergen, ja selbst ein ganzes Haus, sodass auch Dachgärten unter die Hängenden Gärten fallen. Entscheidend ist jedoch, dass es sich dabei nicht um eine einfache Terrasse handelt, sondern um eine unterbaute und bepflanzte. Die Bepflanzung ist wiederum zwingend eine Erdpflanzung, erschöpft sich also nicht einfach im Aufstellen von Kübelpflanzen, im Einhängen von Balkonkästen und dergleichen. ... Ein hängender Garten überwindet damit eine neuralgische Grenze der menschlichen Naturvorstellungen und -adaptionen. In ihm wird die Natur in einer Weise domestiziert und nutzbar gemacht, die eigentlich undenkbar erscheint” (16f.).
Mitunter kommt man ins Sinnieren wie ehedem Seneca: Was hat ein Garten auf einem Mauerwerk zu suchen? Welcher Aufwand! Für den römischen Gelehrten war es geradezu skandalös, contra naturam: „Leben nicht diejenigen naturwidrig, die im Winter nach einer Rose verlangen und durch Gießen mit warmem Wasser und durch entsprechendes Umpflanzen in der kalten Jahreszeit eine Lilie zum Erblühen bringen? Leben nicht jene naturwidrig, die auf den Spitzen von Türmen Obstgärten anlegen? Bei denen sich Wälder auf Hausdächern und Firsten hin und her neigen, wo Wurzeln in einer Höhe sprießen, wohin man selbst Baumgipfel nur in vermessener Selbstüberschätzung hätte wachsen lassen?“ (Sen. epist. 122,8 / Schweizer 93).
Für die Architektur der Moderne galt die unmittelbare Verbindung von Architektur und Flora kaum als bedeutsames Anliegen, spiegelglatte Oberflächen dominierten, überall Glas, Metall. Aber seit der Jahrtausendwende hat sich das Blatt gewendet: Gebäudebegrünung ist zu einem unübersehbaren Trend geworden. Die neue Generation der Wolkenkratzer in Asien macht es vor: Statt spiegelglatter Oberflächen dominiert ein wildwucherndes Erscheinungsbild, wie etwa beim Büro WOHA aus Singapur, dessen Hochhäuser unter Pflanzen beinahe zu verschwinden drohen. Den Auftakt in Europa kann man mit dem Bau des Flower Tower von Edouard Francois (162) in Paris (2004) ansetzen, es folgen die Doppeltürme von Stefano Boeri Bosco Verticale (2014) in Mailand. Frank Maier-Solgk skizziert in seinem Aufsatz „Von den Hängenden Gärten zur zeitgenössischen Hortitecture” diese Entwicklung und ihre Vorgeschichte, von Dachterrassen über Dachgärten, Terrassenhäuser, grüne Dächer, grüne Wände hin zur Hortitecture. Stationen sind Fukukoa in Japan, Singapur, Eindhoven, Amsterdam, Düsseldorf, Stockholm, die jeweiligen – teils erst im Bau befindlichen – Gebäude werden in Text und Bild vorgestellt.
Frank Maier-Solgk stellt fest, „dass in diesen neueren Fällen das Stichwort der Hängenden Gärten kaum noch genannt wird – im Unterschied zu den Beispielen einer Repräsentationsarchitektur der dreißiger und vierziger Jahre”; dies sei vermutlich „in einer gegenwärtigen medialen Vermittlung zu sehen, der das alte Stichwort nicht mehr geläufig ist” (190).
Die Anfänge und die Überlieferungsgeschichte der Hängenden Gärten zeichnet Stefan Schweizer auf 160 Seiten plus einem umfangreichen Anmerkungs- und Literaturteil sowie einer Fülle von Abbildungen detailliert nach. Beginnend mit Herodot kommen Ktesias von Knidos, Strabon, Diodor von Sizilien, Berossos aus Babylon, Flavius Josephus, Antipatros von Sidon, Philon von Byzanz zu Wort, aus der römischen Welt Marcus Valerius Martialis, Plinius d. Ä., aus späterer Zeit Hrabanus Maurus, Gregor von Nazianz, Gregor von Tours und eine Reihe von Codices aus mittelalterlichen Bibliotheken. „Ihre Faszinationsgeschichte (sc. der Hängenden Gärten) wird unter vier Gesichtspunkten diskutiert: erstens mit Blick darauf, wie das Wissen über die Hängenden Gärten von Babylon im Kontext der Weltwunderüberlieferung bewahrt, tradiert sowie verändert wird, zum Beispiel in Imaginationen und Rekonstruktionsphantasien (Kapitel 2 und 3); zweitens in Bezug auf die mythische babylonische Königin Semiramis, die in der neuzeitlichen und modernen Literatur-, Musik- und Kinogeschichte regelmäßig als Auftraggeberin der Hängenden Gärten beleuchtet wird (Kapitel 5); drittens über die archäologische Wiederentdeckung Babylons im 19. und frühen 20. Jahrhundert, die das Interesse an den Hängenden Gärten neu weckt und in einer gleichwohl spekulativen Lokalisierung unmittelbar am Ischtar-Tor gipfelt (Kapitel 6); viertens mit Blick auf die Architekturgeschichte. Hier überträgt sich die Faszination für die Hängenden Gärten auch auf den Bautypus Dachgärten, die sich seit dem 15. Jahrhundert nachweisen lassen und heute im Zeichen von Klimawandel- und Nachhaltigkeitsdebatten technologisch einer neuen Verschmelzug von Architektur und Bepflanzung den Weg ebnen (Kapitel 4 und 7)” (14).
Ein eigenes Kapitel widmet Stefan Schweizer der mythischen Figur der Semiramis, die in der Überlieferung – nicht immer uneingeschränkt – als Bauherrin der Hängenden Gärten Babylons betrachtet wurde. „Sie gilt als einer der wichtigsten Prototypen für eine machtbewußte und kluge Regentin, für die Idee weiblicher Herrschaft an sich. Seit der Antike wird sie als sittenlose, wollüstige, gar in inzestuöse Beziehungen verwickelte Frau charakterisiert und mit negativen Eigenschaften ausgestattet, die sie aber im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit verliert” (15). Auf Valerius Maximus geht das Motiv zurück, Semiramis habe als mutige Herrscherin mit unfertiger Frisur das Schwert ergriffen, um die Feinde Babylons zu besiegen (137). Das Standardbild der Semiramis zeigt sie denn standesgemäß mit einer Krone, aber nur zur Hälfte frisiert: „Auf der linken Seite ist das Haar zum kurzen Zopf geflochten; mit einem Kamm in der rechten Hand kämmt sie das lang herabhängende Haar auf der anderen” (139).
Besonderes Vergnügen bereitet es, die Bildgeschichte der Hängenden Gärten in Früher Neuzeit und Moderne zu studieren (51ff) und dabei den fachkundigen Erläuterungen von Stefan Schweizer zu folgen. Zwar sind die Darstellungen der Hängenden Gärten nicht so häufig wie Bilder des Turmbaus zu Babel (davon gibt es mehr als 600 Exempla von einem 5000 Jahre alten altsumerischen Rollsiegelbild bis zu den Karikaturen des späten 20. Jahrhunderts), allerdings sind große Namen darunter, von Sebastian Münster und Maarten van Heemskerck im 16. Jahrhundert, Antonio Tempesta, Crispijn de Passe d. Ä. und Ferdinand Verbiest im 17. Jahrhundert, Athanasius Kircher, Johann Bernhard Fischer, Karl Friedrich Schinkel, Gottfried Semper. Sehr ergiebig auch der Blick in die italienische Frührenaissance, in der die Hängenden Gärten ein Thema für Bauherren und Architekten wurden und als gebaute Gartenarchitektur in praktische Realität übersetzt wurden. Zu den von Pirro Ligorio im 16. Jh. rekonstruierten Anlagen zählten zum Beispiel die Gärten des römischen Feldherrn und Senators Lucullus, die teilweise aus mit Bäumen bepflanzten Substruktionen bestanden – ganz so wie in den Schilderungen von den Hängenden Gärten in Babylon (92). Hängende Gärten in Florenz, in Pienza (das erste und für das 15. Jh. bedeutendste Idealstadtprojekt der europäischen Neuzeit), in Urbino, in Gubbio, in der Villa Imperiale bei Pesaro, in Rom, Mantua, Genua, auf der Isola Bella im Lago Maggiore. Auffällig an dieser Bildgeschichte, die Schweizer bis ins 19. Jahrhundert verfolgt, ist, wie sehr die künstlerischen Bildfindungen der Hängenden Gärten im 17. und 18. Jahrhundert ihrer Zeit verhaftet blieben. Die Abbildungen, die Babylons Hängende Gärten darstellen, gleichen den damals favorisierten französischen Gärten. Und die Bauten, auf denen sie zu finden sind, orientieren sich an der Architektur des Kolosseums in Rom.
Ein Thema für sich ist der Durchbruch Robert Koldeways ab 1899 nach vielen erfolglosen Versuchen der Babylon-Erkundung. Das Deutsche Reich setzte damals alles daran, zu den großen Kulturnationen, insbesondere Großbritannien und Frankreich, aufzuschließen, und das umfasste auch die archäologische Kolonialisierung der Welt (153). Die Rekonstruktionszeichnungen Koldeways gingen durch die Welt, die archäologischen Erfolge der Deutschen Orient-Gesellschaft hatten erheblichen kulturellen Einfluss bis hinein in die Populärkultur. Der Berliner Architekt Hans Poelzig, der sich zeitlebens einem durch die Babylonarchäologie ausgelösten Orientalismus verschrieben hatte, lieferte 1916 einen Entwurf für das in Konstantinopel / Istanbul geplante Haus der Freundschaft, das er als Paraphrase zu Koldeways Rekonstruktion der Hängenden Gärten von Babylon konzipierte (Abb. auf S. 160).
Stefan Rebenich nennt den Autor Stefan Schweizer „einen begabten Maulwurf, wenn es darum geht, so viele Zweige der manchmal zweifelhaften Tradition wie möglich aufzuspüren”. Ich habe mich gefreut, auch auf meinen Landsmann, den bayerischen Hof-Historiografen Johannes Aventinus zu stoßen, der in seiner bayerischen Chronik auf die Stadt Babylon eingeht und ausführlich die Hängenden Gärten beschreibt, „didaktisch erklärend gestaltet”, wie Stefan Schweizer betont. „Ein Zeitgenosse des späten 16. Jahrhunderts dürfte mit Hilfe der Aventinus-Erläuterungen keine Schwierigkeiten gehabt haben, sich einen solchen Bau vorzustellen. Selbst das verbreitete Düngen mit Kot (Aventinus: Dieser Boden ward aller mit Kot tieff oberschütt / daß mächtig Graß und allerley Bäum darinn mochten wachsen.), von dem in der antiken Überlieferung nirgends die Rede ist, wird bemüht, um der Beschreibung einen realistischen Anstrich zu geben” (45).
Theodorus Priscianus: Naturheilkunde, Lateinisch – deutsch, herausgegeben und übersetzt von Kai Brodersen,
De Gruyter, Berlin (Sammlung Tusculum), 2020,
384 Seiten, ISBN 978-3-11-069407-9, 49,95 €

Kai Brodersen hat das Werk „Naturheilkunde“ (Euporista und Fysica) des Theodorus Priscianus erstmals zweisprachig erschlossen. Pricianus nennt sich einen Schüler des Vindicianus (magister meus Vidicianus, qui nunc orbis totius celebratur, Fysica 3; S. 362), der archiater (auf diesen aus dem Griechischen übernommenen Begriff, der 'leitender Arzt' bedeutet, geht das deutsche Wort 'Arzt' zurück) und ein bedeutender Mann im späten römischen Reich war. In Terracina und in Neapel ist eine Inschrift für den v(ir) c(larissimus) cons(ularis) Camp(aniae) Avianius Vindicianus überliefert und Augustinus von Hippo bezeichnet ihn als großen Arzt. Augustinus hat Vindicianus während dessen Amtszeit als Prokonsul in Karthago getroffen. In einfühlsamem Gespräch habe der schon alte Mann ihn von der Beschäftigung mit der Astrologie abgebracht (Aug. Conf. IV, 3, 5 und VII, 6, 8.).
Theodorus Priscianus – wie seine beiden Landsleute gebürtig in Nordafrika – lebte an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert n. Chr., er verfasste zwar lateinische und griechische Fachliteratur, nannte aber Latein noster sermon, also die ihm vertraute Sprache. Griechisch war freilich die Sprache der Wissenschaft und insbesondere auch der Medizin. Aus der Zeit vor Theodorus Priscianus sind nur einige wenige medizinische Schriften in lateinischer Sprache erhalten. Von Vindicianus sind nur Fragmente erhalten, dafür gibt es Schriften seiner Schüler, von Caelius Aurelianus, Cassius Felix (vgl. Brodersen, Kai (Hrg.), Cassius Felix, Medizinische Praxis / De medicina, Lateinisch-deutsch, Edition Antike, WBG Darmstadt, 2020, 272 Seiten, ISBN 978-3-534-27232-7) und eben auch die Bücher zur Naturheilkunde des Theodorus Priscianus.
Theodorus Priscianus versteht sein Werk als praktische Anleitung, ihm geht es um rasche Hilfe und zügige Genesung mit gut beschaffbaren Naturheilmitteln – der griechische Titel Euporista bedeutet genau dieses: 'Gut beschaffbare Heilmittel'. Das jedenfalls ist die Grundhaltung in dem drei Bücher umfassendes Werk, das auf natürlichen Mitteln beruhende Rezepte für eine erfolgreiche Behandlung von Kopf bis Fuß zusammenstellt, um Schönheit und Gesundheit wiederherzustellen – ornatui nostri corporis vel saluti procurandae custodiendaeque, Euporista I.1; S. 30). Der Autor, der zudem ein ganzes Buch der ärztlichen Behandlung von Frauen widmet, wird so zum Pionier einer populären Naturheilkunde.
In seinem Vorwort nimmt unser Medicus kein Blatt vor den Mund: „Da liegt der von der Gewalt der Krankheit Erfasste – und sogleich strömt die Schar unseres Kollegiums zusammen (– tunc nostri collegii caterva concurrit). Nicht das Mitgefühl mit dem Dahinsiechenden beherrscht uns jedoch, nicht unsere gemeinsame Lage gegenüber der Natur kommt uns in den Sinn. Nein, wie beim Olympischen Wettkampf strebt einer durch seine Beredsamkeit, ein zweiter durch Diskussion, ein dritter durch Zustimmung und ein Vierter durch Widerspruch jeweils nach eitlem Ruhm. Während jene noch miteinander streiten und der Kranke erschöpft daliegt – o Schande! –, scheint da nicht die Natur selbst zu ihnen wie folgt zu sprechen? 'O weh, undankbares Menschengeschlecht! Getötet wird der Kranke, nicht von selbst stirbt er - und mir wird dann Unzulänglichkeit vorgeworfen! Krankheiten sind etwas Trauriges, doch habe ich ja Heilmittel geschaffen.'“ (33).
„In diesem Band also habe ich für die breite Bevölkerung herausgestellt, wie man die gute Gesundheit des Menschen mit erprobten und, wie man sagt, bäuerlichen Mitteln herbeiführt. Es ist ja für einen Kranken eine Medizin willkommener, wenn die Geschwindigkeit ihres Dienstes bereitsteht“ (35). Der Reihe nach von Kopf bis Fuß werden dann die einzelnen Leiden benannt und Mittel und Medikamente angeführt, die sich bewährt haben oder die Priscianus aus eigener Erfahrung – de experimento (63); ego vero saepissime ... probavi; (84) – empfehlen kann. Er verschreibt vor allem pflanzliche, tierische und mineralische Stoffe als Heilmittel (14), die Kai Brodersen in einem siebenseitigen Register der Heilmittel zusammenstellt (378–384). Für einen Laien in Sachen Pharmazie klingen viele remedia gewöhnungsbedürftig, auch wenn man auf den ein oder anderen Ankerpunkt trifft, etwa die Anwendung von Zwiebeln bei Ohrenschmerzen aufgrund einer Erkältung (55). In dem FAZ-Artikel “Wer Salbey baut, den Tod kaum schaut“ (Aktualisiert am 03.05.2020) rekurrierte kürzlich Jakob Strobel y Serra zum Beispiel auf den antiken Arzt Hippokrates, der den Rat gab: „Dein Lebensmittel sei dein Arzneimittel, und dein Arzneimittel sei dein Lebensmittel. ... Genauso versierte Kräuterdoktoren waren die alten Ägypter, die Koriander gegen Bauchschmerzen einsetzten, mit Wacholder den Blutzucker senkten, der Mumie von Ramses II. Pfefferkörner als Allzweckarznei in die Nasenlöcher steckten und nichts auf ihren Knoblauch kommen ließen. Sie wussten, dass er antiseptisch und antibakteriell ist und verabreichten ihn deswegen bei Schlangenbissen und Skorpionstichen, sie kannten seine blutverdünnende Wirkung und verschrieben ihn folgerichtig bei Herzbeschwerden. ... Anstatt Arzt oder Apotheker zu fragen, sollten wir lieber Dioskurides konsultieren, der mit „De materia medica“ das wichtigste Gewürz- und Arzneibuch des antiken Abendlandes verfasste. Er wusste, dass Bockshornklee bei Diabetes hilft, Basilikum harntreibend ist, Ingwer das Cholesterol im Zaum hält, Zimt schmerzlindernd wirkt und Pfeffer nicht nur die Verdauung fördert, sondern auch die Atemwege schützt und die Leber stärkt.“
Über solches Wissen hätte ich in dem Buch von Kai Brodersen über die Naturheilkunde des Theodorus Priscianus gerne mehr gelesen. Brodersen ordnet allerdings Priscianus medizingeschichtlich ein, als Anhänger der Viersäftelehre: Voraussetzung für Gesundheit ist demnach das richtige Mischungsverhältnis der vier Körpersäfte, während ihr Ungleichgewicht, ihre fehlerhafte Zusammensetzung oder gar ihre Schädigung zu Krankheiten führen. Zudem stellt sich Theodorus Priscianus mit dem Titel des 2. Buchs, Logikus, „in die Tradition der 'logischen Schule', also einer medizinischen Denkrichtung, die meist im Unterschied zur Schule der 'Empiriker als die der 'Methodiker' bezeichnet wird. Ihnen zufolge sind alle Krankheiten auf drei Zustände des Körpers zurückzuführen, nämlich auf einen Zustand abnormer Anspannung (status strictus), auf einen abnormer Erschlaffung (status laxus) oder aber auf eine Mischung beider Zustände (status mixtus)“ (13). Hinzuzufügen ist noch, dass Priscianus die theoretischen Grundlagen seiner Schulrichtung kennt, sie aber in keinem Fall ausführlich darlegt, da er sein Werk ja als praktische Anleitung versteht.
Die ersten beiden Druckausgaben erschienen 1532 in Straßburg und Basel. Im 18. Jahrhundert wurde der Versuch unternommen, ein Corpus Medicorum Antiquorum Latinorum zu publizieren; der Herausgeber, der gelehrte Arzt Johann Michael Bernhold (1737–97), konnte allerdings nur den ersten Band von Priscianus edieren (erschienen 1791 in Uffenheim), da er vor der Herausgabe des geplanten zweiten starb. (Bernhold hat übrigens 1787 auch das Kochbuch des Apicius ediert!). Kai Brodersen, der sich zuletzt mit verschiedenen medizinischen Autoren der griechischen und lateinischen Welt intensiv beschäftigt und etliche ihrer Werke neu publiziert und übersetzt hat, vermerkt, dass die Rezepte und Methoden des Theodorus Priscianus „nicht dem heutigen Stand des medizinischen Wissens entsprechen, ... (sc. das werden heutige Methoden in 1000 Jahren zweifellos auch nicht /Ra) – doch eröffnen sie einen besonderen Blick auf die Heilkunde und die Lebenswelt der Antike“ (20).
Da wir in Zeiten eines Präsidenten leben, der liebend gerne Virologe wäre, wenn er nicht schon Präsident wäre, und der jederzeit skurrile medizinische Ratschläge gibt (die überdies ihre bemitleidenswerten Anwender finden), scheint es für den Verlag juristisch nötig zu sein, auf S. 4 den folgenden Passus einzufügen: „Die in diesem Buch beschriebenen antiken Heilmittel und -verfahren werden nicht als Anweisung für heutige Behandlungen präsentiert.“
Karl-Wilhelm Weeber, Der Circus Maximus ist ihr Tempel. Sport und Sportstätten im Alten Rom,
Verlag C. C. Buchner, Bamberg,
64 Seiten, € 11,80 ISBN: 978-3-7661-5480-4

Erst habe ich an eine neue thematische Lektüre-Ausgabe gedacht: Sport und Sportstätten im Alten Rom finden ihre Lateinschüler/innen, keine Frage. Beim Blättern fiel mir schnell auf, dass es gar keine lateinischen Texte in diesem 64-Seiten-Heft gibt (die finden Sie in Karl-Wilhelm Weeber, Das antike Rom. Eine Kulturgeschichte in zeitgenössischen Quellen, WBG Darmstadt 2017). Meine Frage, wozu das Heft gemacht sei, beantwortet der Autor in seiner Einführung „Sportiv unterwegs auf den Spuren altrömischen Sports“: „Vorschläge für Besichtigungstouren durch Rom gibt es viele - auch was das antike Rom angeht. Dabei dominiert der topografische Aspekt: Möglichst alles, was in einem bestimmten Gebiet liegt, wird 'mitgenommen'. Dabei dürften thematische kulturkundliche Streifzüge durch die Ewige Stadt ertragreicher und 'nachhaltiger' sein, etwa unter den Gesichtspunkten 'Repräsentationsbauten', 'Wasser' oder 'Kult'. Die vorliegende Darstellung will hier dieses Gliederungsprinzip am Beispiel Sport vorstellen, und zwar in Anbindung an die Sportstätten des antiken Rom“ (5).
Nun würde ich liebend gerne und mit großen Ohren mit Karl-Wilhelm Weeber durch das historische Zentrum und die Umgebung Roms ziehen, gleich ob er die Sehenswürdigkeiten thematisch oder geographisch oder historisch aufdröselt. Sein Wissen und die Kenntnis der lateinischen Literatur zählen und deshalb ist auch die Lektüre dieses Heftes ein Gewinn. Natürlich ist Karl-Wilhelm Weeber Praktiker genug, dass er weiß, dass Schülerinnen und Schüler bei der Vorbereitung einer Kursreise nach Rom mehr auf das Thema Sport anspringen als auf Stadtmauern, Kaiserforen, Museen, frühchristliche Basiliken oder Katakomben. Meine Erfahrung aber ist, dass Kursteilnehmer vor Ort immer und ziemlich ausnahmslos von der Dichte und der Qualität der Memorabilien und Denkmäler beeindruckt waren und selbst in den Besichtigungspausen in dem Stadtteil, in dem wir gerade waren, auf eigene Faust loszogen und die Geschichte dieser Stadt erkundeten. Die These dieses Büchleins, dass man alle Stationen dieses sportiven Romführers an einem Tag schaffen könne, scheint mir sehr ambitioniert zu sein: Von der Ara Pacis, d.h. dem Marsfeld über die Aqua Virgo, das Stadium Domitiani, den Euripus, das Stagnum Agrippae, zum Circus Maximus, den Caracalla-Thermen und gar noch weiter zum Circus Maxentii an der Via Appia (und zurück), das ist bei geeigneten Temperaturen eine bezaubernde Strecke, aber sie zieht sich hin und es gibt ja noch so viel dazwischen zu sehen! Nichts desto trotz: Der Vorschlag Karl-Wilhelm Weebers ist aller Mühen wert, zumal seine Beschreibungen – wie er das immer macht – sehr textorientiert sind; 146 Anmerkungen führen zu den lateinischen Quellentexten, aus denen er seine Informationen bezieht. Der Verlag sagt: „Von der Jogging-Strecke an der Aqua Virgo als Schauplatz aktiver sportlicher Betätigung bis zum Circus Maximus als größtem jemals erbauten „Tempel“ für Zuschauer-Sport stellt dieser „etwas sportivere Romführer“ die wichtigsten Stätten sportlicher Aktivität im antiken Rom vor – die architektonischen Hüllen ebenso wie das sportliche Geschehen und das Verhalten der Aktiven wie der Zuschauer. Auch weniger bekannte Schauplätze wie das Stadion Domitiani, die heutige Piazza Navona, und der Circus des Maxentius an der Via Appia werden in die Darstellung einbezogen“. – Aber nach Rom kann man - hier renne ich offene Türen ein – nicht mit nur einem Reiseführer fahren; man braucht eigentlich eine ganze Bibliothek. Nehmen Sie weiterhin ihren Raffalt, Peterich, Coarelli, A. Englisch, Bartels oder Stockenreiter mit. Zur Zeit gehe ich mit dem Buch von Irmgard Palladino ins Bett: Mein Rom, Droemer München 1998. Sie betrachtet kapitelweise Römische Brunnen, Römische Hügel, Römische Kirchen, Treppen, Gärten, das Römisches Bestiarium, Römische Plätze, Obelisken, Statuen, Kuppeln, Friedhöfe und Römische Straßen. Ein elfseitiges Verzeichnis erschließt die besprochenen Mirabulia urbis Romae. Für diese Stadt braucht es viele Besichtigungskategorien!
adeo 500. Illustrierter Grundwortschatz nach Sachgruppen,
von Luise Rißmann, Eva von Scheven,
100 Seiten, Print-Ausgabe, Verlag C. C. Buchner, Bamberg
ISBN: 978-3-7661-5274-9, € 12,90

Ohne Vokabelwissen geht es nicht. Das ist eine Basiserkenntnis allen Unterrichts. Bei besonders sperrigen Vokabeln rieten clevere Lehrkräfte immer schon zu Eselsbrücken oder Erinnerungsmarken durch Strichmännchen oder Bilder. adeo 500 bietet einen neuen und einzigartigen Zugang zu den 500 wichtigsten Wörtern des Bamberger Wortschatzes. Luise Rißmann und Eva von Scheven geben ihrer Vokabelauswahl (neben Genus und Genitiv, den Stammformen, der Kennzeichnung lang ausgesprochener Vokale und Besonderheiten der Flexion) kleine Skizzen bei, die die Schülerinnen und Schüler bearbeiten, ergänzen und kolorieren können. Mit diesen und weiterem Platz für den Eintrag eigener Lernhilfen lassen sich die Wortbedeutungen spielerisch visualisieren und wesentlich besser einprägen, so die Erwartung. In den vergangenen Jahrzehnten haben manche Lehrbücher immer wieder den Versuch gewagt, einzelne Vokabelangaben mit Bildern zu verknüpfen, vorrangig war dabei wohl der Impuls an die Nutzer, selbst initiativ zu werden, Vollständigkeit war dabei aber nie angestrebt. Hier wird das von den beiden Autorinnen für die wichtigsten 500 Wörter versucht. Der Impuls zur Eigeninitiative bleibt bestehen. Am Anfang findet der junge Schüler/die junge Schülerin Hinweise auf das Lernen der Vokabeln, auf die Tatsache, dass Vokabelbedeutungen keine Wortgleichungen darstellen und das Vokabellernen am besten regelmäßig erfolgen soll. Eine Erklärungsseite zu den grammatikalischen Fachbegriffen findet sich noch vor den Vokabellisten, die nach den fünfzehn Kategorien Herz und Verstand, Ich und Du, sagen, rufen, fragen, Hin und her, Familie und Gesellschaft, Alle Tage wieder, Natur und Mensch, Kult und Kultur, Staat und Politik, Recht und Gesetz, Krieg und Konflikt, Weit und breit, Dann und wann, Mehr oder weniger, sowie Kleine Wörter sortiert sind, sieben Stück pro Seite. Mit einem vierseitigen Register der im Buch aufgenommenen Vokabeln schließt adeo 500. Einzusetzen ist es wohl nach dem bzw. im ersten Lernjahr, wenn der größte Teil der Wörter im jeweils verwendeten Lehrbuch gelernt ist. Ein weiterer Vorzug ist, dass die 500 wichtigsten Wörter mit diesem Büchlein in neuer Sortierung wiederholt und gefestigt werden können. Nach dem Ende der Lehrbuchphase wird im Unterricht und außerhalb eine weitere adeo-Ausgabe nutzen, etwa adeo – NORM; der Band bietet vielfältige Vernetzungsmöglichkeiten und Lernhilfen (u. a. Wort- und Sachfelder, Wortfamilien und wichtige Kollokationen). Für diese Ausgabe wurde das zugrunde liegende Lektürecorpus durch eine genaue Analyse der wichtigsten Textausgaben ermittelt. Es enthält die gesamte Palette der in der Mittelstufe gelesenen Texte und Autoren. Sie sind im Nachwort mitsamt den erfassten Textstellen angegeben. Der Gesamtumfang des untersuchten Corpus ist mit über 140.000 Wortformen beträchtlich: nach Abzug der Belegstellen von Namen immerhin 7154 Lemmata, d.h. potenzielle Lernwörter. Umso überraschender und erfreulicher ist das Ergebnis: Mit 1.248 Vokabeln sind gut 83% dieses Textcorpus erfassbar. Über die Auswahl der 1.248 häufigsten Vokabeln hinaus war es ein Ziel des Projektes Bamberger Wortschatz, die für die Lektüre lateinischer Texte relevanten deutschen Bedeutungen zu ermitteln und dabei auch auf den heutigen Sprachgebrauch zu achten.
Die Ausgabe adeo – PLUS enthält Ergänzungswortschätze zu wichtigen Autoren und Werken des Lektüreunterrichts. Mit deren Kenntnis ist eine Textabdeckung von bis zu 90% intendiert. Die doppelseitige Anlage entspricht der Ausgabe adeo – NORM: Auch hier enthalten die linken Seiten verschiedene Lernhilfen sowie Vernetzungen mit dem Basisvokabular. Berücksichtigt sind folgende Autoren: Caesar, Catull, Cicero (Reden), Curtius, Gellius, Martial, Ovid, Nepos, Phaedrus, Plautus, Plinius d. J., Sallust, Terenz und Vergil.
Die adeo-Wörterliste bietet in übersichtlicher und lernfreundlicher Anordnung die für die schulische Lektüre häufigsten 1248 Vokabeln. Sie beschränkt sich auf das Basisvokabular, wie es auf den rechten Seiten der Standardausgabe enthalten ist, und verzichtet auf weitergehende Lernhilfen.