Vom Leben der Wörter – Wortgeschichten aus der »Neuen Zürcher Zeitung«
Stichwort »Examen«
»Aber noch lang fort kämpfte die Brust mit fliegendem Atem, / Und von der Stirne mir troff examinalisches Nass«: In so reichlich vergossenem Examensschweiss lässt Eduard Mörike die Handvoll elegischer Verse ausklingen, mit denen er sich den Schrecken über einen späten Schultraum von der Seele schreibt: »Nächtlich erschien mir im Traum mein alter hebräischer Lehrer, / Nicht in Menschengestalt ... Ein grammatikalisches Scheusal, / Trat er zur Türe herein ...«
Das »Examen« kann einen auch im Wachen äffen, wenn man dem Wort in einem lateinischen Handwörterbuch nachspürt. Das nennt unter dem Stichwort examen an erster Stelle die allgemeine Bedeutung »Schwarm«, und zwar eigentlich »von Bienen, Wespen oder anderen Insekten«, dann auch übertragen »von jungen Leuten, von Kümmernissen«, und an zweiter Stelle die besondere
Bedeutung »Zünglein an der (Hebel-) Waage«. In diesem Sinne begegnet das Wort am Ende der Vergilischen »Aeneis«, wo Jupiter vor dem Zweikampf des Aeneas und des Turnus die Schicksalswaage »aequato examine«, »mit justiertem Zünglein«, in der Hand hält und dann die ungleichgewichtigen Lose der Kämpfer in die beiden Waagschalen legt. Dieses »Zünglein« scheint einem Examen schon näher zu kommen; aber was ist mit den Bienenschwärmen, von den Kümmernissen ganz zu schweigen?
Examinieren wir dieses examen einmal selbst auf Herz und Nieren: Da steht am Kopf des Wortes das geläufige lateinische Präfix ex-, »aus-«, am Schwanz das gleicherweise geläufige verdinglichende Suffix –men und dazwischen in der Mitte, da wo eben Herz und Nieren, Wortstamm und Bedeutung zu suchen wären, ein nichtssagendes blosses -a-, und es sieht ganz so aus, als fände sich das Wort hier selbst in der unbequemen Lage des Examenskandidaten, der auf eine Frage keine Antwort weiss und sich vorerst einmal mit einem verlegenen »Ääh ...« aus der Patsche zieht.
Kommen wir ihm zu Hilfe: Dieses zwischen dem Kopfstück ex- und dem Schwanzstück -men eingeschlossene -a- ist das kümmerliche Überbleibsel des lateinischen Allerweltsverbs agere mit der Grundbedeutung »treiben«. Ursprünglich hat dieses dreiteilige examen einmal ex-ag-men geheissen und so, Stück für Stück verdolmetscht, ein irgendwo, irgendwie »ausgetriebenes Ding« bezeichnet. Damit finden jene wild ausschwärmenden Bienen und das fein sich einstellende Zünglein an der Waage zu guter Letzt doch noch zusammen: Auf der einen Seite bezeichnet dieses examen den aus seinem Bienenstock »ausgetriebenen«, ausziehenden Bienenschwarm oder irgendwelche anderen Schwärme, auf der anderen Seite das je nach der unterschiedlichen Beschwerung der Waagschalen aus seiner Justierung »ausgetriebene«, nach oben oder unten ausschlagende Zünglein an der Waage.
Über dieses »Zünglein an der Waage« ist das lateinische examen schliesslich zu seiner dritten Bedeutung gekommen, zu der sorgfältig das Pro und Contra »abwägenden«, alle Optionen »erwägenden Untersuchung«. Das Verb examinare und die davon abgeleitete examinatio sind in der Antike fast ausschliesslich in dieser Bedeutung des »Prüfens« gebräuchlich gewesen, und das Grundwort examen lebt im neuzeitlichen Euro-Wortschatz einzig noch in dieser dritten Bedeutung fort. Ein eingedeutschtes »examinieren« erscheint bereits im späten Mittelalter, ein eingedeutschtes »Examen« erst in der frühen Neuzeit, und in der Folge hat das Wort seine spezielle Bedeutung einer pedantisch – eigentlich ja »pädantisch« – genau alles Schulwissen »abwägenden« Prüfung angenommen.
Spätantike Historiker und Kirchenväter haben der examinatio einen prüfenden examinator zur Seite gestellt, und der Kirchenvater Augustin dem männlichen examinator wieder eine weibliche »examinatrix tentatio«, eine »prüfende Versuchung«. Aber ein Adjektiv examinalis oder gar einen examinalis liquor, sein »examinalisches Nass«, hat Mörike aus keinem noch so ausführlichen lateinischen Handwörterbuch schöpfen können; das stieg aus seiner Leier zum ersten Mal ans Licht.
Stichwort »Medizin«
Hunderte medizinische Fachwörter wie »Praxis« und »Klinik«, »Diagnose« und »Therapie«, »Epidemie« und »Pandemie« bezeugen es: Von ihrem Begründer Hippokrates im klassischen 5. Jahrhundert v. Chr. bis zu ihrem Vollender Galen, dem letzten bedeutenden Arzt der römischen Kaiserzeit, ist die Medizin der Antike eine durch und durch griechische Wissenschaft gewesen. Bis heute wäre einem angehenden Mediziner mit einem Schulwortschatz Griechisch besser gedient als mit allem Latein; jedenfalls wüsste er, wo bei einem »Otorhinolaryngologen«, einem »Hals-Nasen-Ohren-Arzt«, die Ohren aufhören und Nase und Rachen anfangen. Auch in jedem »Arzt« steckt ja ein griechischer iatrós und sogar ein arch-iatrós, ein »Chef-Arzt« – wenn auch der Chef darin besser vertreten ist als der Arzt und das ia-, das eigentliche »Heilen«, daraus gar nicht mehr herausschaut.
Umso merkwürdiger ist es, dass diese Wissenschaft ihren griechischen Namen iatriké (téchne), »ärztliche (Kunst)«, in Rom gegen eine lateinische medicina (ars), »heilende (Kunst)«, ausgetauscht hat. Als der alte Cato seinen Sohn warnte, die Griechen hätten sich verschworen, die Römer allesamt mit der Terrorwaffe ihrer medicina aus der Welt zu schaffen, meinte das Wort wohl noch die Verschreibung zweckdienlicher Pillen und Tinkturen; aber spätestens seit Cicero ist die medicina in Rom und damit überhaupt im lateinischen Westen zur geläufigen Bezeichnung der Medizin geworden. Eine der griechischen iatriké folgende moderne »Iatrik« samt allerlei »Iatrischem« wäre ja auch allzu hart ins Ohr gefallen; für die modernen Retortenwörter »Psychiatrie«, »Pädiatrie« und »Geriatrie« hat man auf die griechische Ableitung iatreía für die »ärztliche Behandlung« zurückgegriffen.
Hinter dem lateinischen medicus, dem »Arzt«, und seiner medicina (ars), seiner »ärztlichen (Kunst)«, steht das Verb mederi, »(eine Krankheit) heilen, (einem Übel) abhelfen«, und im nächsten Umkreis findet sich da noch das mit dem Einschub -ita- gebildete meditari und die davon wieder abgeleitete meditatio, ein wiederholtes, konzentriertes »Sich-Bedenken, Sich-Besinnen«. Die Antike kannte noch kein Rednerpult und keinen Teleprompter; da bezog sich dieses meditari zuvörderst auf die geistige Einübung des Redners, der sich seine wörtlich ausgearbeitete, frei vorzutragende Rede vor dem Auftritt nochmals vergegenwärtigte, sie sozusagen auf dem inneren Bildschirm von Abschnitt zu Abschnitt nochmals vor sich abrollen liess. Seither ist das Wort aus der Werkstatt der Rhetorik in das stille Kämmerlein der »Meditation«, wie wir sie verstehen, übergewechselt.
Deutet die Sprachverwandtschaft der »Medizin« mit der »Meditation« dann wohl auf heilsame Effekte eines solchen konzentrierten »Sich-Besinnens«? Durchaus – aber nicht in der Weise, dass die Meditation ihren Namen etwa einer psychosomatischen, »medizinalen« Heilwirkung verdankte. Beziehen wir das Griechische und zumal das stammverwandte Homerische Verb médesthai mit der Grundbedeutung »an etwas denken, für etwas sorgen« in diese Wortgeschichte ein, so klären sich die Bezüge, und zugleich fällt von daher ein warmes Licht auf das Verhältnis des Arztes zu seinem Patienten: Es ist offenbar umgekehrt die Medizin, die ihren Namen einem solchen »Sich-Besinnen« verdankt – in der Weise, dass der Mediziner sich seinem Patienten sozusagen »meditativ« zuwendet, dass er sein Leiden »bedenkt« und derart teilnehmend für ihn sorgt.
Stichwort »Orientierung«
Seit alters hat der Sonnenlauf uns wie die drei Tageszeiten, so die vier Himmelsrichtungen vorgegeben. Die Griechen nannten den Osten geradezu anatolé, den »Aufgang« der Sonne, den Westen dysmé, ihr »Eintauchen« in den Okeanos; die Römer sprachen vom oriens und vom occidens Sol, der »aufgehenden« und der »untergehenden Sonne«. Daher heisst Kleinasien auch »Anatolien«; daher haben wir den »Orient« und den – weniger gebrauchten – »Okzident«, und daher haben wir nach der griechischen hespería (ge) das »Abendland« und nach Luthers Übersetzung der anatolé das – wieder seltenere – »Morgenland«.
»Himmels«-Richtungen? So nennen wir sie, aber zumeist gebrauchen wir sie doch, uns hier unten auf der Erde zu orientieren. Da hat sich unversehens das erst neuzeitliche Verb »(sich) orientieren« zu Wort gemeldet. Im späten 17. Jahrhundert hat sich zunächst im Französischen zu dem alten orient ein zukunftsträchtiges orienter gesellt, in dem Sinne, dass etwa ein Architekt eine Kirche »orientiert«. Aber das müssen wir heute, nachdem dieses »orientieren« vor unserem inneren Auge keine Sonne mehr aufgehen lässt, doppelt sagen: dass er die Kirche »nach Osten hin orientiert«. Und mittlerweile merkt keiner mehr auf, wenn ein Architekt eine Villa nach Westen hin orientiert.
An dieses bauliche »orientieren« hat sich in der Folge ein menschliches s’orienter, »sich orientieren«, angeschlossen. Wer sich zum Sonnenaufgang hin orientiert, kann sich dann je nachdem, wohin die Wanderlust ihn lockt, rechter Hand nach Süden oder linker Hand nach Norden wenden. Seither können wir uns mit diesem Wort auf vielerlei Feldern Orientierung verschaffen: Wer weiss, wo die europa- oder die ökopolitische Sonne aufgeht, kann sich an diesem Fixpunkt orientieren und sich dann je nachdem, wohin der Sinn ihm steht, zur Linken oder zur Rechten hinüber wenden und dann den vielzitierten ersten Schritt in die richtige Richtung tun.
In den neuen Sprachen haben der »Osten« und der »Westen«, der »Norden« und der »Süden« die altsprachlichen Bezeichnungen der Himmelsrichtungen abgelöst. Der »Orient« lässt uns statt an einen Sonnenaufgang an die Märchen aus 1001 Nacht und an Schlangenbeschwörer und Bauchtänzerinnen denken; der »Okzident« ist fast ganz ausser Gebrauch gekommen. Das »Abendland« hat sich mit drei Jahrtausenden europäischer Geistesgeschichte von der Antike bis in die jüngste Postantike aufgeladen; Luthers dem nachgeprägtes »Morgenland« ist fast einzig noch für die drei Magier, die drei Weisen oder dann Könige, »aus dem Morgenland« gebräuchlich geblieben.
Wenn heute von einem Orientierungslauf oder bildlich von einer politischen oder einer sexuellen Orientierung die Rede ist, stellt unser Sprachzentrum keine Verknüpfung zum Orient mehr her. Im alltäglichen Sprachgebrauch, wenn wir uns etwa im Internet über dieses oder jenes »orientieren«, sagt das Wort nichts weiter, als dass wir uns über ebendiese Dinge »informieren«. Und bei dem Appell, wir Europäer sollten uns an unseren abendländischen, »westlichen« Werten orientieren, wechseln Abendland und Orient ob dieser unverhofften Wiederbegegnung ein stillvergnügtes west-östliches Augenzwinkern.