Abstract
Der Beitrag stellt die These zur Diskussion, dass der Platonische Dialog Protagoras ein propädeutischer Bildungsdialog ist, in dessen Zentrum die Frage steht, welcher Lehrer und welches Lehrkonzept überzeugen kann. Dafür wird gezeigt, wie die Überlegenheit des einen, nämlich des sokratischen, durch Platons Argumentationsstrategien und seine Bezugnahmen auf die konkreten historischen Kontexte im Dialog umgesetzt wird. Eine wichtige Rolle spielt dafür die große Rede des Protagoras und ihre Zusammensetzung aus dem Mythos und den Logos-Teilen und die Kritik, die Sokrates an ihr übt. Während Protagoras rhetorische Methoden und Ziele verfolgt, führt Sokrates seinen Gesprächspartner auf propädeutische Weise in die Dialektik ein. Schließlich wird auch das Ende des Dialogs, an dem Sokrates noch einmal auf die Rede zu sprechen kommt und Konsequenzen aus allen Gesprächsteilen zieht, in die Überlegungen einbezogen.
1 Einleitung: Eine wichtige Wahl
Im Dialog Protagoras trifft Sokrates auf den Sophisten Protagoras von Abdera, der gerade als Gast des reichen Kallias, des Sohnes des Hipponikos, in Athen eingetroffen ist und verspricht, den jungen Leuten alles beizubringen, was sie für eine politische Karriere benötigen.1
Der junge Adelige Hippokrates, Sohn des Apollodoros, verkörpert die Resonanz, die dieses Versprechen in der Athener Jugend gehabt haben musste. Hippokrates ist wie elektrisiert und klingelt Sokrates frühmorgens in angespannter Erwartung aus dem Bett. Sokrates begleitet den jungen Adeligen, sobald es der Anstand erlaubt, zu seinem Wunsch-Lehrer, will aber zunächst prüfen, ob dieser seinem hohen Anspruch überhaupt genügen kann. Man ahnt schon: Sokrates hat berechtigte Zweifel, dass der Starlehrer, der von einer großen Schar von Bewunderern umgeben ist und sich von diesen feiern lässt, wirklich den jungen Leuten die politische Tugend (Arete) und die Kunst, politisch erfolgreich zu agieren (Prt. 319a–b), beibringen kann.
Doch zunächst hält Protagoras eine Werberede, in der er die Vorzüge seines Unterrichts gegenüber dem anderer Lehrer herausstellt (Prt. 318d5–319a2). Ganz anwendungsorientiert und passgenau auf die politische Praxis gerichtet sei dieser Unterricht und gebe dabei vor allem das Handwerkszeug der Rhetorik an die Hand. Darauf gibt sich Sokrates skeptisch: Ist die Tugend, von der du behauptest, sie unterrichten zu können und für deren Unterricht du dein Honorar forderst, denn überhaupt lehrbar? Alle Empirie scheint nämlich, so Sokrates, dagegen zu sprechen. Er könne beim besten Willen keine positiven Beispiele eines erfolgreichen Tugendtransfers benennen (Prt. 319a7–320b5).
Protagoras trägt als Antwort hierauf eine lange (über 7 Stephanus-Seiten einnehmende) Rede2 vor und entfaltet in dieser seine rhetorische Kunst in allen Facetten. Die Rede hat drei Teile. Sie beginnt in der Form einer mythischen Erzählung – einer Geschichte, die oftmals ungenau als Kulturentstehungslehre betitelt wird,3 tatsächlich aber eine weitere Werberede für den Unterricht ist, den Protagoras anbietet, und ein Loblied auf die Bedeutung der politischen Kunst.
Der Inhalt ist der folgende: Die Geschichte handelt davon, wie früher, als es zwar Götter, aber noch keine sterblichen Geschöpfe gab, eben diese Sterblichen geschaffen wurden. Damals nun sei es den Titanen Prometheus und Epimetheus übertragen worden, die sterblichen Lebewesen mit Fähigkeiten und Hilfsmitteln auszustatten, die ihnen das Überleben sichern sollten. Nach einer anfänglich weitsichtigen Verteilung von Fähigkeiten an die vernunftlosen Tiere durch Epimetheus, sei es zu einem folgenreichen Fehler gekommen. Epimetheus habe das Menschengeschlecht bei der Verteilung vergessen. So beginnt die Geschichte der Menschheit bei Protagoras als eine Geschichte von Mängelwesen. Doch Prometheus habe Rat gewusst. Kurzerhand habe er Hephaistos und Athene, den Göttern des Handwerks, der Techne und der Wissenschaft, der Episteme, ihre Künste und zugleich damit das Feuer gestohlen und in Menschenhand gegeben. Diese Verknüpfung von kontrolliertem Feuer mit kulturstiftenden Techniken ist als Element dieser Geschichte über die Entstehung von Kultur und Gesellschaft ein kluger Zug. Platons Protagoras nennt dies die „Überlebensklugheit“ (sophia peri ton bion: Prt. 321d4) und unterscheidet sie von der „politischen Klugheit“ (321d5). Diese sei streng bewacht und unerreichbar hinter den Türen der Gemächer des Zeus verborgen gewesen, so dass Prometheus sie nicht habe stehlen können. Dafür aber, dass er überhaupt in den Machtbereich der Götter eingedrungen sei, habe Prometheus später büßen müssen.4
Doch auch danach habe den Menschen noch etwas Wesentliches gefehlt, nämlich die politische Kunst, die politike techne, die die Bedingung der Möglichkeit für ein Zusammenleben in der Gemeinschaft und den Schutz gegen Feinde sei. Angesichts der drohenden Vernichtung des Menschengeschlechtes habe sich nun Zeus erbarmt und den Menschen dike (Recht) und aidos (Scham, soziales Verhalten) geschickt. Hierbei aber habe er es anders machen lassen als bei der Verteilung der übrigen Hilfsmittel und Fähigkeiten, indem er nicht den einzelnen Menschen unterschiedlichen Anteil an dieser Kunst gegeben habe, sondern allen den gleichen – ein wahrhaft demokratischer Akt und zugleich Bedingung der Möglichkeit für ein demokratisch organisiertes Gemeinwesen.5
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/97/Head_Platon%2C_Glyptothek_Munich_548_120363.jpg
Plato's head. Roman work after Greek sculpture from Silanion, around 347 BC. Glyptothek Munich Inv. N. 548.
Aus dieser Erzählung folgert Protagoras, dass eben deswegen – also wegen der gerade erzählten Ereignisse und Handlungen – die Athener einen Unterschied machen zwischen den Zuständigkeitsgebieten einzelner Handwerke und Künste wie z.B. der Hausbaukunst auf der einen Seite und den politischen Angelegenheiten auf der anderen Seite. Während bei jenen fachmännischer Rat gefragt sei, dürfe sich in politischen Fragen jeder beteiligen (Prt. 322d6–323a5).
„... und mit Recht lassen sie jeden [sc. zu den Beratungen] zu, weil es jedem zukommt, Anteil an dieser Tugend zu haben. Denn sonst gäbe es keine Staaten. Das, Sokrates, ist dafür die Ursache.“ (Prt. 323a2–5)
Darauf folgt etwas, das Protagoras „Begründung“ und „Beweis“ (tekmerion) nennt und das den Mythos in seiner Überzeugungsleistung unterstützen soll (Prt. 323a). Dazu berichtet Protagoras nicht mehr von den mythischen Anfängen der demokratischen Gesellschaft im Athen des 5. Jahrhunderts, sondern von dieser selbst.
„Dass sie also zurecht jeden über diese Tugend als Ratgeber akzeptieren, weil sie glauben, ein jeder habe an ihr Anteil, das sage ich damit. Dass sie aber glauben, dass sie nicht einfach von Natur aus da sei oder von selbst sich ergebe, sondern dass sie gelehrt werden könne und dem, der sie gewinne, durch Fleiß zukomme, das werde ich dir jetzt zu beweisen versuchen.“ (Prt. 323c3–8)
Protagoras führt dafür an, dass es andernfalls nicht erklärbar wäre, warum diejenigen, die keine politische Tugend haben, dafür gescholten werden, wenn sie doch in gleicher Weise jedem angeboren sei und er oder sie nichts daran ändern könne. Tatsächlich würden aber diejenigen, die dieser Tugend ermangelten, getadelt. Daraus ergebe sich, dass diese Tugend gelehrt werden könne.
Daraufhin schlussfolgert Protagoras sodann
„.. dass sie glauben, die Tugend könne gelehrt und erworben werden, das, Sokrates, habe ich dir hinreichend bewiesen, wie mir scheint.“ (Prt. 324c7–d1)
Am Ende steht eine Rede, die direkt auf Sokrates’ Einwand reagiert, es gebe auch unter den Tugendhaftesten und Erfolgreichsten in Athen niemanden, der jemals seine Tugend seinen Söhnen oder anderen gelehrt hätte. Protagoras führt darin Gegenargumente gegen diese historisch argumentierende Rede an und nennt diesen Redeteil explizit und im Unterschied zum vorangehenden Mythos nun Logos (Prt. 324d7).
Tatsächlich, so Protagoras’ Argument, betrieben die Athener nichts eifriger und mit mehr Ausdauer, als ihre Kinder zu tugendhaften Bürgern zu erziehen. Auch wenn nun zwar die grundsätzliche Fähigkeit zu Gerechtigkeit und Besonnenheit allen gleichermaßen zukomme, so finde sie sich doch in jedem Einzelnen in unterschiedlicher Weise ausgeprägt und komme in der Erziehung auch in unterschiedlichem Maße an. So ließen sich denn auch die Misserfolge erklären. Auch unter den Lehrern der Tugend aber seien manche fähiger, andere weniger. Wegen der Bedeutung des Lernziels jedoch sei es allemal berechtigt, denjenigen, die besonders gute Tugendlehrer sind – und dazu zählt sich Protagoras ausdrücklich auch selbst –, eine Belohnung für ihre Arbeit zukommen zu lassen (328b), sie also zu entlohnen. Hier schließt sich also der Kreis zu der vor Sokrates’ Nachfrage begonnenen Werberede des Protagoras für seine neue Form des Unterrichts.
Als Sokrates später einem Freund von dieser Begegnung erzählt, behauptet er zwar, er sei bezaubert gewesen und hätte sich gar nicht satt hören können an den Worten. Gleichzeitig bekennt er aber auch, dass ihn eine, wie er sagt, Kleinigkeit an dieser Rede gestört und gefehlt habe (Prt. 328e, 329b). Das Problem aber, das Sokrates sieht, ist das Problem der Einheit der Tugend(en) (Prt. 329c2–d2). Von dieser Kleinigkeit ausgehend werden nacheinander viele Positionen des Protagoras als widersprüchlich erkannt, die gemeinsam die Basis für dessen Unterrichtskonzept und beworbenes Angebot sind.
Um also diese letzte verbliebene kleine Frage auch noch zu klären, verwickelt Sokrates Protagoras in ein dialektisches Gespräch, für das er auch gleich die Regeln neu bestimmt: kurze Antworten, außerdem Zuhören und Aufnehmen, was der andere sagt. Damit wird der Eindruck erzeugt, dass Sokrates hier ein Gegenprogramm zu der Werberede des Protagoras vorstellt. Dieses Programm hat einen philosophischen Anspruch und tritt dem sophistischen und rhetorischen Konzept des Protagoras bewusst entgegen.
So weit könnte man denken, dass der Dialog Protagoras ein Musterbeispiel für Platons Auseinandersetzung mit den Methoden und Begründungsproblemen der Sophisten des 5. Jahrhunderts v. Chr. und ihres ins 4. Jahrhundert v. Chr. hineinwirkenden Erbes ist und in diesem Sinn das Testen von Methoden und das Aufzeigen von Nicht-Wissen in Bezug auf bestimmte Fragen, das Platons Sokrates in der Apologie präsentiert, beispielhaft darstellt. Dieser erste Eindruck aber lässt sich bei genauerem Hinsehen nicht ohne weitere Differenzierung halten. Denn es gibt eine Reihe von Unstimmigkeiten, die dieses Bild stören. Es scheint nämlich in Wirklichkeit keine einfache Entgegensetzung der Verfahrensweisen des Sokrates und des Protagoras zu geben, sondern diese sind auf mehrfache Weise miteinander verbunden und aufeinander bezogen. Denn ebenso wie Protagoras argumentiert auch Sokrates mit dem Verweis auf konkrete Beispielfälle und übliche Verhaltensweisen, also auf das, was man den common sense seiner Zeit nennen könnte.6 Einen Schlüssel für die Aufklärung dieses Verhältnis bietet das Begriffspaar Mythos und Logos. Denn auch mit der Bedeutung dieser Wörter ergeht es dem Leser und der Leserin ähnlich, wie es Sokrates in seiner autobiographischen Erzählung im Phaidon berichtet: Was er oder sie glauben zu können meinte, löst sich wieder auf und lässt ihn oder sie in einer Aporie zurück.
In diesem Paper wird zunächst der gerade skizzierte Befund eingehender geschildert und dabei die Ausgangsthese formuliert, dass nicht nur die Eingangsszene und die Auftaktfrage des Sokrates an Protagoras, sondern der gesamte Dialog ein Ringen um Bildungskonzepte und -ziele ist und dass dafür bestimmte Common-Sense-Argumente in Verbindung mit historischen Beispielen eine zentrale Rolle spielen. Daran anschließend wird die Rede des Protagoras sowie das Vorgespräch und die Kritik daraufhin untersucht, welche Qualitäten der Rede und ihrer Erkenntnisbasis nach Ansicht des Platonischen Sokrates problematisch sind und Gegenargumente darstellen dafür, seine Kinder bei Protagoras in den Unterricht zu schicken. Damit können dann aus einer differenzierten Betrachtung der beiden miteinander konkurrierenden Erziehungskonzepte Schlussfolgerungen auf die Rolle gezogen werden, die Mythos und Logos und ihre Entgegensetzung im Dialog spielen. Unter Einbeziehung der Tatsache, dass es der Autor Platon ist, der diesen Agon zwischen Protagoras und Sokrates inszeniert und die Rollen darin verteilt,7 soll schließlich die Frage beantwortet werden, welche Funktion die verschiedenen Darstellungsstrategien, ihre Entgegensetzungen und subversiven Annäherungen in dem Dialog besitzen.
2 Sokrates gegen Protagoras? Mythos gegen Logos? Uneindeutigkeiten und Spiegelungen in der Methodik
Der gesamte Dialog Protagoras verhandelt die Frage, wie die Jugend Athens am besten zu unterrichten sei. Das gilt für das Anfangsgespräch zur Lehrbarkeit der Tugend ebenso wie für den Dialogteil, der sich davon zu entfernen scheint und der über die Einheit der Tugend überhaupt handelt. Es kommt schließlich in der Schlusscoda zur Sprache, in der deutlich wird, warum und in welcher Hinsicht Protagoras hinter Sokrates als Lehrer zurückbleibt.
Die in diesem Beitrag begründete Hypothese bestimmt den Dialog Protagoras als propädeutische Unterrichtsstunde, die Argumente für die Wahl eines Bildungskonzepts an die Hand gibt. Der Dialog zeigt, dass erst auf der Basis einer für den konkreten Bildungsbetrieb relevanten Aporie die philosophische Frage nach der Tugend und damit auch nach Ziel und Begründung von Art und Form der Bildung notwendig ist und mit hinreichenden Gründen beantwortet werden muss. Die Aporie ergibt sich aus den inneren Widersprüchen, die in den allgemeinen Überzeugungen dieser oder besser: einer Zeit begründet sind. Dadurch erweist das dialektische Gespräch, das Sokrates mit Protagoras führt, selbst und nicht einer der Gesprächspartner, dass der Rekurs auf allgemeine Überzeugungen und Praktiken für sich allein genommen nicht ausreichend ist. Für diesen Prozess ist es daher von zentraler Bedeutung, dass es einen Fragenden und einen Antwortenden gibt und dass beide die Ergebnisse bis zum Schluss als Homologien, als Zwischenergebnisse, über die sie sich einig geworden sind, mittragen.
Gleich zu Beginn kommt der junge Adelige Hippokrates zu Wort, der Protagoras drängen will, ihn weise zu machen (Prt. 310d4–5), und zwar, wie er indirekt präzisierend hinzufügt: weise im Reden. Denn das sei die Expertise, für die dieser schließlich allgemein gelobt werde (Prt. 310e6–7) – und, wie ein Leser oder eine Leserin des Dialogs Protagoras hinzudenken wird: für die dieser reich entlohnt werden wolle.
Wie David Wolfsdorf gezeigt hat, enthält bereits das Setting des Dialogs im Haus des Kallias mindestens zwei Argumente, die direkt das Thema und Ziel des Dialogs betreffen: 1. Kallias, einer der reichsten Athener Bürger, der, wie Sokrates in der Apologie sagt, am meisten Geld für die Dienste der Sophisten ausgab (Apol. 20a), ist nicht nur einer der größten Gönner und Anhänger gerade des Protagoras, sondern war in der gesamten Antike berüchtigt für seine (spätere) Verschwendungssucht und das Durchbringen eines gewaltigen Erbes. Für einen Protagoras, der sich brüstet, die Kunst der Oikonomia und der Politik, also der Sorge für Haushalt und Staat zu lehren (Prt. 318e5–319a2), ist ein solcher Schüler oder genauer: dessen spätere Entwicklung wahrlich kein Aushängeschild; 2. das gilt nicht nur für Kallias, sondern auch für den Rest der ’Bande’, die sich in Kallias’ Haus versammelt hat. Wolfsdorf bemerkt, dass von den 19 (!) Personen, die im Protagoras anwesend sind, keine auch zu jener illustren Gruppe von Anhängern und Schülern, von späteren Schulgründern und moralisch integren Bürgern gehört, die im Phaidon bei Sokrates’ Todesstunde anwesend sind. Protagoras’ Anhängerschaft und die der anderen Sophisten besteht stattdessen aus Subjekten, die später für ihre Immoralität, für Gewalt, Tyrannei, religiösen Frevel oder Verrat verurteilt und verbannt wurden.8
In einer solchen Umgebung werden die hohen ethischen und bildungstheoretischen Ansprüche, die Sokrates für Hippokrates erhebt, wie in einem Brennglas gebündelt und konfrontieren für die Leser des Dialogs den berühmten Redner, dessen bloße Ankunft in Athen die Jugend bereits in Ekstase versetzt hatte, mit dessen Misserfolgen oder Symptomen pädagogischer Machtlosigkeit.
Platon lässt seine Dialogfigur Protagoras diese Bildungserwartung des Hippokrates und der Athener Jugend und sein Bildungsangebot aber noch in anderer Hinsicht nicht als bloßes Konzept hinstellen und verknüpft sie mit einem Ereignis, aus dem sich das (oder: ein) große(s) Lebensthema Platons ergibt: die Anklage, Verurteilung und Hinrichtung seines Lehrers Sokrates durch ein aus der Athener Volksversammlung gewähltes Geschworenengericht.9 Denn Protagoras thematisiert gleich bei seiner ersten Anrede an Sokrates und Hippokrates, dass er sich sehr wohl darüber bewusst sei, dass das Bildungsangebot, das er als Wanderlehrer mache, ihn der Missgunst oder auch den Angriffen der Athener aussetzen könnte (Prt. 316c4–d3). Das ist eine Anspielung auf den Asebieprozess, den die Athener im Jahr 411 v. Chr gegen Protagoras anstrengten.10 Zugleich damit aber auch auf das Misstrauen, das dem Athener Bürger Sokrates entgegenschlug und ihm (ebenso wie auch Protagoras) Anklage und Verurteilung einbrachte.
Dafür muss man beachten, dass Platon im gesamten Dialog (und generell in seinem Werk) zwei Ebenen voneinander trennt: 1. die Ebene, auf der die Dialogcharaktere z. B. Sokrates’ Einwand gegen die Lehrbarkeit der Tugend verstehen (können) oder von dem weiteren Schicksal des Personals der Dialoge wissen und 2. die Ebene, auf der sich das Verstehen der späteren Leserinnen und Leser ereignet. Denn die Charaktere in der Dialoghandlung wissen noch nichts von dem späteren Schicksal des im Dialog noch recht jungen Sokrates oder gar von dessen Schüler Platon, der mit seiner Schule ein Gegenmodell gegen die sophistischen Wanderlehrer begründen sollte. Die Leserinnen und Leser des Dialogs werden hingegen auf die spätere Konfrontation zwischen den Athener Geschworenen und dem Protophilosophen Sokrates geradezu gestoßen und lesen sie neben der Frage nach der pädagogischen Eignung des Protagoras immer mit.11
Im Corpus Platonicum gibt es neben den vier Schriften, deren Handlungsrahmen die Anklage, Gefangenschaft und Hinrichtung des Sokrates behandeln (Euthyphron, Apologie, Kriton und Phaidon), mehrere solcher in die jeweilige Dialoghandlung integrierter Bezugnahmen auf diesen juristischen Sündenfall,12 z. B. im Dialog Gorgias in einem ganz ähnlichen Kontext und einer nur graduell verschiedenen Konstellation. Dort ist es der Machtpolitiker Kallikles, der Sokrates’ Gesprächsführung mit unverhohlenen Drohungen gegen Sokrates zu kontern versucht. Er solle doch die Philosophie sein lassen, die einem reifen Mann so gar nicht gut zu Gesicht stehe. Auch mache sie ihn gänzlich hilflos. Es könnte ja jemand kommen und ihn zu Unrecht eines Verbrechens beschuldigen. So unfähig wie er in der Redekunst sei, würde er sogar bei dem schlechtesten Ankläger die Todesstrafe davontragen (Grg. 486a7–b4).13
Diese Verflechtung sowie das Publikum des Gesprächs zwischen Sokrates und Protagoras, das in der Gesamtsicht auf die Lebensläufe als Warnhinweis gegen eine sophistische Ausbildung gelesen werden kann, lassen es schon von vorneherein unwahrscheinlich erscheinen, dass die von Protagoras formulierte und vom Platonischen Sokrates immer wieder implizit vertretenen Bildungsansprüche und die Kontroverse darum ihr Dasein nur als Randthema fristen. Viel eher scheint Platon seine Leserinnen und Leser von Beginn an darauf vorzubereiten, dass es bei der Frage, ob Hippokrates bei Protagoras den Unterricht besuchen soll, um mehr geht als um die Karriere eines Einzelnen. Wird Sokrates nun also direkt in den Ring steigen und seine Mission, die die Athener von der Notwendigkeit überzeugen will, die eigenen Meinungen auf eine sichere Basis zu stellen und nach Gründen und Ursachen zu fragen, in die Waagschale werfen? Wird Platons Sokrates die direkte Konfrontation suchen und Platons Programm eines philosophischen Unterrichts vorstellen?
Der weitere Dialogverlauf erfüllt diese Erwartungen nicht – oder nicht unmittelbar. Sokrates macht nämlich etwas Bemerkenswertes. Er spricht Protagoras auf eine Voraussetzung seines Lehrangebots an, an dem er Zweifel hat: Diese Voraussetzung ist die Lehrbarkeit der Tugend. Doch er tut dies nicht, indem er bestimmte Gründe gegen die Lehrbarkeit der Tugend anführt und zunächst bestimmt, was die Tugend, von der die Rede ist, also die politische Tugend als die Fähigkeit, im Staat für dessen wohl zu handeln, eigentlich ist.
Hatte der Platonische Sokrates des Dialogs Menon14 aber nicht seinem Gesprächspartner geduldig zu vermitteln versucht, dass es methodisch unsauber sei, nach bestimmten Qualitäten von etwas zu suchen, bevor man nicht erst einmal bestimmt hat, was die Sache – in diesem Fall also die (politische) Tugend – eigentlich ist?15
Berlin – Nischenfigur Plato am Joachimsthalschen Gymnasium von Max Klein
Im Protagoras hat Sokrates erst am Ende des Dialogs dieses methodische Wissen erarbeitet (Prt. 360e7–361a3 und 361c4–6) und führt das ganze Chaos in der Untersuchung auf einen Fehler am Anfang zurück. Es sei falsch gewesen, nicht erst geklärt zu haben, was die Tugend denn eigentlich sei.16
Anstelle einer solchen Sachuntersuchung verweist er zu Beginn des Dialogs auf die gängige Praxis in der Athener Volksversammlung (Prt. 319a8–320b3) – ausgerechnet jener Versammlung, aus deren Reihen das Geschworenengericht den historischen Sokrates angeklagt, verurteilt und hingerichtet hatte. Sokrates betont sogar, dass er genauso wie alle anderen Griechen die Athener für weise und also vorbildlich halte (Prt. 319b4–5).17 Die Verhandlungspraktiken in der Athener Volksversammlung offenbarten, so Sokrates, dass die Athener sich in allen anderen Sachangelegenheiten fachmännischen Rat einholten. In politischen Angelegenheiten aber legten sie keine so harten Maßstäbe an die Kompetenz des Ratgebers an: Vielmehr dürfe sich dort jeder Bürger zu Wort melden. „Offensichtlich (delon) also glauben sie, dass sie nicht lehrbar ist.“ (Prt. 319d). Dies zeige sich auch darin, dass selbst die Besten unter ihnen nicht dazu in der Lage seien, diese Tugend an ihre Söhne weiterzugeben oder sie von anderen dazu erziehen zu lassen. Sokrates gibt dafür eine Reihe von Beispielen aus der Athener Politikprominenz seiner Zeit und schließt dann mit den Worten: „Ich (ego) meine nun, Protagoras, wenn ich darauf blicke, dass die Tugend nicht lehrbar ist.“ (Prt. 320b4–5).18
Was hat diese Akzentuierung der eigenen Meinung zu bedeuten? Platons Sokrates hatte in der Apologie den Anspruch, selbst etwas lehren zu können, vollkommen zurückgewiesen (Apol. 33a–b). Er gebe lediglich den Anstoß dafür, zu durchschauen, was man nicht wisse. Also könne er auch nicht dafür zur Rechenschaft gezogen werden, die Athener Jugend zu verderben. Die Apologie ist – neben dem Menon und dem Gorgias19 – ein weiterer Subtext für den Protagoras. Denn sie führt diese doppelte Konfrontation – Sokrates gegen die Athener und Sokrates als Lehrer von etwas, von dem er selbst kein Wissen habe – in beide Richtungen fort. Was aber bedeutet das für die Methode, dass sich Sokrates auf die Praktiken der Athener Volksversammlung beruft, wenn es um die Frage der Lehrbarkeit der Tugend geht?
„Ich nämlich (ego gar), Protagoras, glaubte
nicht, dass dieses lehrbar ist, wo ich dich nun
aber sprechen <höre>, weiß ich nicht, wie ich
dir nicht glauben könnte. Woher ich dieses
glaube, dass sie nicht lehrbar ist und auch
nicht von Menschen anderen Menschen
verschafft werden kann, sollte ich jetzt sa-
gen. Ich nämlich (ego gar) sage so wie die
anderen Griechen, dass die Athener weise
sind.“ (Prt. 319a10–b5)
Durch die zweimalige Verwendung des starken Pronomens „ego“ und die direkte Nebeneinanderstellung von „ich (ego)“ und „Athener“ werden die Leserinnen und Leser an den Konflikt zwischen den beiden Akteuren erinnert, was noch durch das Thema des Lehrens und die Frage, was überhaupt lehrbar ist, verstärkt wird. Zugleich charakterisiert Sokrates seinen Gesprächspartner als überzeugenden Rhetor und legt damit eine Spur, wie seine Betonung historischer Beispielfälle zu verstehen ist. Sie entspricht ganz der rhetorischen Technik, in der der Verweis auf Exempla (in der Praxis der Sophisten und auch später in Aristoteles’ Rhetorik) eine wichtige Rolle spielt.
Das Argument von der Entgegensetzung zwischen Sokrates und den Athenern soll auf den Leser wirken, nicht aber auf den implizierten Rezipienten, also auf Protagoras, Hippokrates usw. Während der Leser die Unvereinbarkeit dieser Herangehensweise mit den Überzeugungen des historischen Sokrates, wie Platon ihn unentwegt darstellt, sieht, gibt es diese Durchsicht bei den implizierten Gesprächspartnern nicht. Deren Perspektive wird daher vom Leser als eingeschränkt wahrgenommen, der Dialogcharakter Protagoras hingegen kann die Distanzierung von der Methode durch Platon nicht antizipieren. Der Leser weiß allerdings um die kritische Haltung des Sokrates gegenüber dem Unterricht in Rhetorik, den Protagoras zum Erwerb der politischen Tugend gibt. Hierauf wird also seine Aufmerksamkeit gelenkt.
Protagoras wählt in seiner Antwortrede das gleiche Verfahren und nimmt Verhaltensweisen der Athener zu seiner Zeit als Basis seines Arguments. Er verweist auf dieselbe demokratische Praxis, dass in Angelegenheiten des Staates ein jeder Rat zu geben berechtigt sei (322d6–323a5),20 um diese dann auf die genau entgegengesetzte Weise zu deuten. Keineswegs bedeute diese Praxis, dass diese Kompetenz nicht lehrbar sei. Das erkenne man daran, dass in Angelegenheiten der politischen Tugend Lob gespendet, Tadel ausgesprochen und Strafen angewendet würden (Prt. 323c5–324d1). Dieses Argument wird wortreich ausgedeutet und gerät dabei wiederum zu einer Werberede, in der Protagoras die große Bedeutung (demokratischer) politischer Bildung entwickelt. Von klein auf ziele die Erziehung der Kinder vor allem auf die Entwicklung politischer Tugenden. Alle unternähmen jede denkbare Anstrengung, um die Kinder und Jugendlichen zu guten, tugendhaften Bürgern zu erziehen.
Es ist seine Domäne, die er damit als Zentrum des gesellschaftlichen Lebens anpreist, für deren Bedeutung er allerhand Exempel aus der Lebenswirklichkeit seiner Zuhörer anführt. Aus dieser Lehrpraxis, die die staatliche Gemeinschaft begründen soll, leitet er schließlich den Wert seines Unterrichts ab (Prt. 325c5–328d2).
Hat Platons Sokrates Protagoras also mit seiner Argumentationsweise und dem Status seiner Argumente in eine Falle gelockt? Hält Sokrates die Methode selbst vielleicht gar nicht für tauglich oder vertritt sogar das von ihm angeführte Argument selbst gar nicht, sondern gibt nur vor, diese Zweifel zu haben? Und genügt es, die Begründung in der These zu suchen, Platon habe das Niveau der Argumentationen des Sokrates einfach an das seines Kontrahenten angepasst21oder ihn dessen Gegenargumente antizipieren lassen?22 Begibt er sich auf die gleiche Ebene, auf der es nicht um eine hinreichende begriffliche Begründung, sondern nur um ein Abwägen von Beispielfällen geht?
Die Täuschungsthese oder die These, dass Sokrates hier ein Argument vertritt, das er selbst nicht teilt, bringt keine geringen Schwierigkeiten mit sich. Denn einfach genommen wäre Sokrates’ Vorgabe kein Versuch, um die richtige Erkenntnis zu ringen,23 sondern das Legen einer falschen Fährte mit dem Ziel, den anderen als unterlegen zu erweisen. Platons Sokrates wäre damit ein Eristiker in dem negativen Sinn, den Platon seinen Sokrates im Dialog Euthydemos ablehnen lässt und der auch in anderen Auseinandersetzungen mit Sophisten als Gegenbild im Hintergrund steht, wenn Sokrates seine Methode des Elenchos vorstellt. Denn Sokrates rät seinen Gesprächspartnern regelmäßig, die sachliche Widerlegung nicht als persönliche Niederlage, sondern als Chance, die eigene Wissensbasis zu verbessern, zu verstehen. Elenktik ist in diesem Sinn nicht Teil eines Agons, sondern Teil einer maieutischen Unterrichtung.24 Es sind seine Gesprächspartner, die die Widerlegung als Kränkung erfahren und Sokrates daher Siegesstreben vorwerfen. Genau so ist es auch am Ende des Dialogs Protagoras: Als Sokrates Protagoras in den Widerspruch geführt hat, zögert dieser und will die Antwort im dialektischen Gespräch nicht mehr geben, sondern diese Rolle Sokrates überlassen.25 Dieser besteht aber darauf, eine letzte Antwort zu erhalten, was Protagoras dann tut: „Du scheinst mir, sagte er, Sokrates, versessen auf den Sieg <sc. im Wettstreit der Argumente> mit Blick darauf26 zu sein, dass ich es bin, der antwortet. So will ich dir also gefällig sein und sage, dass aus dem, was wir zugestanden haben, dies unmöglich zu sein scheint.“ (Prt. 360e4–6)
Doch der Dialog endet nicht mit dieser Deutung, dass die Widerlegung des Protagoras als Sieg des Sokrates gesehen werden sollte. Er endet auch nicht mit der Feststellung, dass mit der These, dass Tugend Wissen sei, ein hinreichend begründetes oder doch belastbares Ergebnis erreicht sei.27 Sondern er endet mit der von Sokrates formulierten Einsicht, dass er jetzt nach dem, was im Dialog erarbeitet wurde, wisse, wie die Erkenntnis, was Tugend sei und ob sie lehrbar sei, mit Sicherheit gefunden werden kann. Diese Formulierung und dieser Handlungskontext sind für das Verständnis des gesamten Dialogs von großer Bedeutung: für die Frage, ob der Dialog aporetisch endet,28 für den Zusammenhang der Diskussion über die Lehrbarkeit der Tugend und dem Hauptteil über die Einheit der Tugend(en),29für die eben schon aufgeworfene Frage, wieso und mit welchem Ziel Sokrates am Anfang30 als sachliches Argument auf konkrete historische Situationen und Handlungsweisen verweist, und nicht zuletzt auch für die Deutung der großen Rede des Protagoras und die Funktion des Mythos- und des Logos-Teiles darin.
Sokrates also weist die Deutung des Protagoras, es sei ihm die ganze Zeit nur um Sieg oder Niederlage im Wettstreit der Argumente gegangen, explizit zurück:
„Keineswegs, sagte ich, frage ich alles dieses mit einer anderen Absicht, als weil ich betrachten will, wie sich das mit der Tugend verhält und was das eigentlich ist, die Tugend. Ich weiß nämlich (oida), dass, wenn dieses offensichtlich geworden ist, jenes ganz und gar offenbar werden würde, worüber ich und du ein jeder eine lange Rede gehalten haben, ich, indem ich sagte, dass die Tugend nicht lehrbar sei, und du, dass sie lehrbar sei.“ (Prt. 360e6–361a2)
Daran schließt sich eine kurze Rede des Sokrates aus der Sicht einer Personifikation des „Ausgangs der Argumente“ (Exodos ton logon)31 an: Wunderliche Leute seien sie, Sokrates und Protagoras. Der eine nämlich wolle mit aller Kraft beweisen, dass Tugend Erkenntnis ist, und damit etwas, das lehrbar ist – obwohl er genau das zu Anfang bestritten hatte; der andere aber wehre sich mit Händen und Füßen dagegen, dass die Tugend eine Erkenntnis sein könnte, während er anfangs angenommen habe, sie sei lehrbar (Prt. 361a4–c2). Diese Rede des personifizierten Ausgangs des Gesprächs wurde in der Forschung als ironisch, also als Aussage, die ihr Gegenteil meint, gedeutet32 oder als fehlgeleitet, weil es die konstatierten Widersprüche in den Aussagen der Protagonisten tatsächlich gar nicht gebe.33 Doch wenn man die Annahme macht, dass Sokrates seine anfangs geäußerte Behauptung gar nicht ernst meinen kann oder dass sie sich auf etwas anderes bezieht, gerät man für den Zusammenhang der Argumente mit Blick auf den gesamten Dialog in Schwierigkeiten.34
Sokrates fährt fort mit dem Bekenntnis dazu, mit Feuereifer das Thema noch einmal von vorne aufrollen zu wollen, damit nicht jener Epimetheus, von dem bereits in Protagoras’ Mythos die Rede war, sie auch bei der Untersuchung betrüge, so wie er sie (Sokrates sagt „uns“ 361d2) schon bei der Verteilung der Talente nicht bedacht und ihnen damit geschadet habe. Da wolle er es lieber mit Prometheus halten und vorausschauend handeln und sich sein ganzes Leben lang mit allen diesen Dingen befassen, und dies am liebsten mit ihm, Protagoras, gemeinsam (Prt. 361c3–d7).
Die Schlusscoda des Dialogs weist damit in doppelter Weise auf den Mythos und die Redepraxis vom Anfang zurück. Zum einen werden die langen Reden beider Dialogpartner in Erinnerung gerufen, die bei richtiger methodischer Herangehensweise durch – so wird suggeriert – kürzere, zielgerichtete Argumente hätten ersetzt werden können. Damit wird die Diskussion aus der ersten Gesprächskrise aufgegriffen, in der Sokrates Protagoras darum bittet, kürzer zu sprechen, um es seinem Gegenüber zu ermöglichen, dem Gespräch zu folgen, woraufhin Protagoras seine Auffassung, das Gespräch sei ein Wettstreit der Reden (agon logon 335a4), vorbringt und es als strategischen Nachteil ablehnt, den Gesprächsmodus, den der Gegner bevorzugt, zu übernehmen.35 Keiner der beiden will sich daraufhin auf die Redestrategien des jeweils anderen einlassen und so droht das Gespräch zu scheitern, bis die Zuhörer zu vermitteln versuchen, dabei aber auch nur die Meinung, es gehe hier um einen Streit zwischen Gegnern, wiederholen. Sokrates will als Kompromiss Protagoras die Fragen stellen lassen, woraufhin dieser Sokrates die Aufgabe stellt, ein Gedicht auszulegen: „Ich jedenfalls glaube, sagte er, Sokrates, dass es für einen Mann ein sehr wichtiger Teil seiner Erziehung ist, in Sachen der Dichtung fähig zu sein.“ (Prt. 338e8–10). So entsteht als Mittelteil des Dialogs ein Redenpaar, das jeweils ein Gedicht des Simonides interpretiert und bei dem Sokrates die längste Rede des gesamten Dialogs vorträgt. Hier ist es offensichtlich: Für Protagoras geht es in dem Streitgespräch darum, das eigene Bildungsangebot als das überlegene zu erweisen.
Redestreit, Länge und Form der Rede hängen also zusammen und machen für die Sache und die richtige Methode offenbar einen Unterschied. Sie sind Teil des Bildungskonzepts und -angebots, über das sich Sokrates und Protagoras austauschen und das den Streitpunkt zwischen ihnen ausmacht. Bei allem gemeinsamen Erkenntnisstreben ist der Dialog auch eine Stellungnahme des Gründers der Platonischen Akademie und macht ein bestimmtes Angebot für die Bildung.
Seite des Codex Oxoniensis Clarkianus 39 (Clarke Plato). Dialog Gorgias.
Doch die Bezüge zwischen Coda und Anfang des Gesprächs zwischen Sokrates und Protagoras sind nicht nur formaler Natur: Zum anderen greift Sokrates nämlich auch das Motiv des Brüderpaares Epimetheus und Prometheus aus Protagoras’ Mythos noch einmal auf und bezieht es auf die dialektische und daher vorausschauende Methode bei der Lösung der Sachfrage nach der Lehrbarkeit der Tugend.36 Das Motiv gerät in seiner Deutung also zu einem Handlungsimpuls oder gar zu einer Art Lebensmotto des Sokrates, das Bezüge zu ähnlichen Beschreibungen in anderen Dialogen (wie z. B. dem Symposion: 174d–175c)37ermöglicht.
Allerdings entzieht sich Protagoras einer von So-krates vorgeschlagenen erneuten Untersuchung, in der sie nun alles richtig machen könnten. Das tut er aber mit einem Lob: Unter allen Altersgenossen des Sokrates schätze er ihn bei weitem am meisten. Er würde sich nicht wundern, wenn Sokrates einmal zu den für ihre Weisheit Berühmten gerechnet würde (Prt. 361e3–5). Das Lob richtet sich also auf eine mögliche Zukunft, auf die Entfaltung eines Potenzials. Aus Sicht des Protagoras muss es nicht ausgemacht sein, dass sich diese Hoffnung erfüllt.
Das ist analog am Ende des Dialogs Phaidros, wo Sokrates den Platon-Konkurrenten Isokrates in ähnlicher Weise ein Lob für dessen mögliche große Zukunft und weitere philosophische Entwicklung spendet (Phdr. 278e). Aus Sicht des Autors Platons freilich hat sich diese Hoffnung für Isokrates nicht erfüllt. Doch kann man es als feinen Zug des Dialogcharakters Sokrates auffassen, dass er sich Isokrates mit so viel pädagogischem Wohlwollen zuwendet.38 Auch Sokrates wird freilich nicht zum rhetorisch geschulten Sophisten mutieren. Die Welten bleiben getrennt. Aber auch der Dialogcharakter Protagoras wendet sich dem jüngeren Gesprächspartner am Ende noch einmal mit väterlichem Wohlwollen zu. Öffnet sich hier ein Fenster auf eine andere, alternative Zukunft, in der die Annäherung zwischen den beiden Schulen als Möglichkeit erscheint? Die historische Zukunft aber sieht anders aus: Die beiden Modelle von Bildung und Exzellenz bleiben voneinander ebenso getrennt wie die Gruppen der Anhänger, die sich um die Sophisten bzw. Sokrates versammeln.
Wie also können wir verstehen, warum Sokrates zu Beginn die Lehrbarkeit der Tugend mit dem Verweis auf verbreitete Verhaltensweisen der Athener bestreitet, das Gespräch nach der großen Rede des Protagoras auf die Einheit der Tugend(en) lenkt, dabei den Widerspruch in Protagoras’ Argumentation über den Wissenscharakter der Tugend Tapferkeit aufdeckt, dieses Ergebnis aber nicht als Sieg deutet, sondern als sichere Grundlage, um jetzt die ganze Frage mit der richtigen Methode aufrollen zu können, und dabei schließlich den Mythos, den Protagoras vorgetragen hat, als Material zu nutzen, um zwischen einem vorausschauenden methodischen Handeln und einem kurzsichtigen Handeln zu unterscheiden? Der Grund ist, dass Sokrates’ Argument gegen die Lehrbarkeit der Tugend inklusive seiner Kritik an Protagoras und Protagoras’ große Rede zwei unterschiedliche Arten des Umgangs mit (historischen) Exempla zeigen: Der erste geht von einem historischen Sachverhalt aus und legt ihn dialektisch aus, der zweite verwendet die Mehrdeutigkeit und unterschiedliche Auslegbarkeit einzelner Handlungen mittels einer rhetorischen (gorgianischen) Methode.
3 Die Funktion von Mythos und Logos im Protagoras und die rhetorische Qualität der großen Rede des Protagoras
Auf den ersten Blick könnte man denken, dass es die Wahl des Mythos ist, in dessen bildlichen Pfaden der Sophist lange Zeit schwelgt, die Sokrates stört. – Doch das scheint unwahrscheinlich zu sein. Denn auch Platons Sokrates erzählt philosophische Mythen, wenn auch nicht in diesem Dialog. Je nach Kriterium und Zählweise gibt es im Corpus Platonicum etwa 13 Mythen bzw. mythische Erzählungen.39 – Oder ist es schlicht die Länge des Mythos? Auch das ist wenig wahrscheinlich, trägt doch Sokrates, nachdem er Protagoras für die Länge seiner Ausführungen kritisiert hat, selbst die längste Rede des ganzen Dialogs vor (Prt. 342a–347a), die mit ihrer Interpretation eines Gedichts des Dichters Simonides geradezu als Gegenstück zu Protagoras’ epideiktischer Rede konzipiert ist.40 Oder ist es die Art und Weise, wie Protagoras im Logos-Teil argumentiert, der den Mythos fortsetzen und ergänzen soll, die Unzufriedenheit bei Sokrates hervorruft und die Protagoras’ Unfähigkeit als Lehrer zu demonstrieren geeignet ist?
Sokrates scheint Protagoras die Fähigkeit zur argumentierenden Rede nicht grundsätzlich absprechen zu wollen. Denn er ermuntert ihn dazu, nach seiner Rede die noch ausstehende „Kleinigkeit“, die der vollen Überzeugung des Sokrates noch im Wege steht, auch noch aufzuklären. Anders als den Rednern, die „wie die Bücher“ nur ihre Reden halten, aber auf Nachfrage dazu nichts zu antworten wüssten, spricht Sokrates Protagoras diese Fähigkeit, Antworten auf Sachfragen zu geben, explizit zu (Prt. 328e6–329b2). In der Forschung wird seit langem darüber gestritten, wie stark die Assymetrien zwischen Protagoras auf der einen und Sokrates auf der anderen Seite von Platon ausgestaltet seien:41 Ist das Lob, das Sokrates Protagoras in dem Dialog reichlich spendet, immer nur Ironie?42 Oder greift es nicht auch tatsächliche Qualitäten auf, die vielleicht aus Platons Sicht allein für sich nicht hinreichend, aber doch ein veritabler Anfang sind?43
Um die genaue Qualität der Rede des Protagoras und ihrer Teile zu erkennen, schauen wir auf die Vorrede zu dieser Rede, dann auf deren Methode und danach auf den Anfang von Sokrates’ Kritik.
Protagoras stellt es zunächst den Zuhörern frei, zwischen Mythos und Logos als Form der Rede zu wählen und entscheidet sich dann, als diese es ihm überlassen, für einen Mythos, „so wie es Ältere Jüngeren gegenüber tun“ (Prt. 320c3). Das erinnert an die Auffassung, die Platons Sokrates im Dialog Politeia referiert, dass sich Mythen und dichterische Erzählungen an Kinder richten und für deren Erziehung und Bildung wichtige Funktionen erfüllen (R. 377c–378e). Wird Sokrates und das übrige Publikum hier also in der Rolle eines Kindes, das eine leicht formbare Seele habe, gesehen? Unterschätzt Protagoras damit seinen Gesprächspartner? Der Gedanke ist auch in der Perspektive bedenkenswert, die sich ergibt, wenn man das Alter des Sokrates zur Zeit der Handlung des Dialogs zu rekonstruieren versucht. Debra Nails betont, dass hier ein recht junger Sokrates auftrete44, nur im Dialog Parmenides sei er noch jünger.45 Was aber sollte die inhaltliche Begründung dafür sein, dass für Jüngere eher der Mythos ein angemessenes Medium (des Unterrichts?) sein soll, für Ältere hingegen eher der Logos? Hier im Protagoras scheint anders als in der Politeia46 ein bildungspraktisches Argument im Vordergrund zu stehen. Protagoras wird später im Dialog die Bedeutung des Grammatikunterrichts als Grundlage für die politische Bildung bzw. die Tugendbildung ausdrücklich betonen (Prt. 338e8–10). Und Sokrates geht es, wie dieser Beitrag zeigen möchte, im ganzen Gespräch mit Protagoras vor allem anderen darum, zunächst einmal die richtige Richtung für die Bildung einzuschlagen, also die Lehrerwahl auf einer ganz anfänglichen, propädeutischen Ebene zu begründen. Auf dieser spielen für Sokrates Grundlagen der Dialektik die entscheidende Rolle, die gegenüber den Techniken der Rhetorik ausgespielt werden.
Die Begründung, die Protagoras selbst für seine Entscheidung für den Mythos vorträgt, lautet entsprechend seiner sophistischen, an Gorgias sich anschließenden und auf die emotionale Wirkung der Rhetorik setzenden Technik: Dieser sei anmutiger (chariesteron). Man könnte dies freier übersetzen als ’er ist für die Zuhörer attraktiver zu hören’ (320c6f.). In jedem Fall weist die Wortwahl charieis/charis darauf, dass Protagoras die Rezipienten im Auge hat und deren Wohlwollen oder auch Zustimmung durch eine anmutige, bildlich reiche und unmittelbar nachvollziehbare Rede erreichen möchte.
Dass Protagoras den Eindruck erzeugt, er könne dieses oder auch jedes andere Thema im Mythos wie im Logos behandeln, wurde oft als Kritik an der Beliebigkeit interpretiert, mit der die Sophisten Inhalt und Form bzw. Methode miteinander verknüpfen.47 Mindestens ebenso relevant scheint zu sein, dass damit zugleich eine Art Bildungscurriculum angesprochen wird, mit dem die Sophisten ihre Techniken vermitteln: Hier kommt Grammatik und damit Literaturunterricht vor der Rhetorik, die die Meistertechnik ist. Logische Argumentationstechniken spielen demgegenüber keine Rolle. Entsprechend führt es Protagoras vor: Zuerst erzählt er seinen Schülern/Zuhörern einen Mythos/eine Dichtung, danach erst ergänzt er die daraus zu gewinnenden Lehren durch logische Argumentationen, die als formale Technik direkt schlagend sind. Doch das, was Protagoras Logos nennt, ist paradoxerweise gerade derjenige Teil seiner Rede, der am stärksten empiriegesättigt ist, der am meisten von den historischen zeitgenössischen Gegebenheiten her argumentiert. Das ist aus Protagoras’ Perspektive keine Ausflucht, sondern eine rhetorische Grundtechnik. Er betont damit zudem, wie sehr sein Unterricht dort ansetzt, wo er gebraucht wird, nämlich in der konkreten politischen Realität der Athener Bürger und bei deren Bedürfnissen.
In diesem Sinn ergänzt Protagoras seinen Mythos durch zwei verschiedene Arten der argumentierenden Rede, die rhetorisch und nicht logisch argumentierend im Sinne eines dialektischen Zugriffs sind: In der ersten erzählt er nicht mehr die Geschichte von Göttern und Titanen und der Schöpfung der Kultur, sondern bringt ein Argument, woran man ganz leicht erkennen könne, dass alle Athener denken, Tugend sei lehrbar. Denn dächten sie das nicht, so würden sie den Tugendhaften nicht loben und den Lasterhaften nicht tadeln (323a–324c). Dadurch gewinne man bereits ein Indiz oder gar einen Beweis für seine These (323c7, 324c8). Zweitens trägt er etwas vor, das er explizit als Logos im Sinne eines Pendants zum Mythos einführt (324d6): Hier geht es nun um den Einwand des Sokrates, dass keiner der herausragend tugendhaften Athener bisher seinen Kindern Tugendhaftigkeit habe beibringen können. Dagegen begründet Protagoras seine Gegenthese mit der Praxis, dass die Tugendhaftigkeit von Anfang an in der Erziehung ein wichtiges, ständig reflektiertes Ziel sei.
Dieser Logos nun solle vermeiden, dass sich jemand von dem Mythos übervorteilt fühle (Prt. 323a5-7). Platons Protagoras traut dem Mythos, wie er ihn verwendet, diese verzaubernde, übervorteilende Kraft also zu und schließt sich damit wiederum direkt an Gorgias’ Rhetorikkonzept an.48
Dabei führt der Hinweis auf die Gefahr, betrogen zu werden, oder auf die Gefahr, jemand könnte sich betrogen fühlen, den Leser/die Leserin noch in eine andere, damit verwandte Richtung. Das Problem, dass Sprache und Rede täuschen und manipulieren können, ist in Platons Auseinandersetzung mit der sophistischen Rhetorik zentral. Es spielt in den Dialogen Gorgias und Phaidros eine wichtige Rolle.49 Während Platons Sokrates Protagoras ausdrücklich von den Rednern abrückt, die nur ihre Rede vortragen könnten, ansonsten aber nicht dazu in der Lage seien, über diese Rede und Antwort zu stehen und Begründungen zu geben (Prt. 328e6-329b2),50 gerät Protagoras durch den Vortrag seiner Rede doch in deren Nähe. Das zeigt sich auch in den Reaktionen auf die Rede: Die Zuhörer, ja sogar Sokrates, seien über eine lange Zeit hinweg verzaubert und hätten an seinen Lippen gehangen, weil sie ihn so gerne hätten weiterhören wollen (Prt. 328d3-6). Die Beschreibung dieser Szene ist geprägt von Verben der Sinneswahrnehmung. Es wird damit nahegelegt, dass die Freude an der Rede ebenfalls eine primär ästhetische ist und sich (außer bei Sokrates selbst: 328e3–4) nicht in erster Linie auf den Inhalt oder die Form des Arguments richtet.
Rhetorisch ist Protagoras’ Vortrag erfolgreich, wie die begeisterten Reaktionen nach den drei Redenteilen zeigen. Für die rhetorische Perspektive sind nicht schlüssige Beweise, sondern anschauliche Bilder, nicht konsequente Argumentation, sondern lebensnahe Indizien entscheidend.51 Das ist die Demonstration des sophistischen Bildungsangebots für die anwesende Jugend von Athen.
Für unseren Kontext sind die Erzählungen und Argumente aufschlussreich, die die Verteilung der politischen Tugenden aidos und dike betreffen: Schon bei der ersten Erwähnung changiert der Begriff der politischen Tugend zwischen der Kunst der Staatsführung (von der die Kriegskunst ein Teil ist: Prt. 322b5–6) und etwas, das man als Fähigkeit zu sozialem Miteinander bezeichnen könnte (Prt. 322b8) und das, wie Bernd Manuwald betont, nur als conditio sine qua non der politischen Kompetenz gelten kann, die Protagoras zu lehren können behauptet.52 Auf eben diese letztere soziale Grundkompetenz bezieht sich auch die Initiative, die Zeus in Protagoras’ Mythos ergreift. Er will mit der Distribution von aidos und dike verhindern, dass das Menschengeschlecht sich selbst vernichtet. Folgerichtig ist es dann, diese Tugend auf alle gleichermaßen zu verteilen (Prt. 322d2–3).
„... denn es könnten keine Städte entstehen, wenn nur wenige an ihnen Anteil hätten, so wie es bei den anderen Künsten der Fall ist.“ (Prt. 322d3–4)
heißt dann: Die Menschen könnten überhaupt nicht in Gemeinschaften zusammenleben, wenn sie diese Grundkompetenzen nicht besäßen.53
Schon hier ist die Formulierung zweideutig: Aus dem Vorangegangenen herleitbar ist die Aussage, dass es keine Städte, also keine Gemeinschaften geben könnte, wenn die Menschen nicht grundlegende soziale Kompetenzen hätten. Nicht herleitbar, aber heraushörbar ist die Aussage, dass keine Stadtstaaten entstehen könnten, also Gemeinschaften, die politisch organisiert sind und eine Komplexität aufweisen, die die Kompetenz, einen in bestimmter Weise strukturierten Staat zu leiten, erfordert.54 Gerade diese Funktion erhalten die zu dikaiosyne und sophronsyne aktualisierten Potenzen im Fortgang der Rede. Protagoras überstrapaziert also die historischen Beispiele.
Protagoras nutzt nun die Erzählung davon, dass alle Menschen diese Fähigkeiten erhalten haben, dazu, zu begründen, dass die Athener sich richtig verhielten, wenn sie jeden in der Volksversammlung zu Wort kommen ließen. Dabei ist es keineswegs ausgemacht, dass die Fähigkeit und Bereitschaft, sich sozial zu verhalten, eine hinreichende Voraussetzung und Qualifikation dafür ist, um beurteilen zu können, was gut oder schlecht für eine staatliche Gemeinschaft ist.55
Der Eindruck, dass die beiden Fähigkeiten in eins fallen, wird durch verschiedene rhetorische Techniken ermöglicht, die allesamt Ablenkung von der Notwendigkeit bringen, dass Protagoras sich genauer dazu äußert, welche Art von politischer Tugend er eigentlich meint. Dabei gibt es in dieser Frage keinen Unterschied zwischen dem Mythos-Teil und den folgenden nicht-narrativen Teilen. So wird z.B. die politike techne als Gegensatz zu einer Gruppe von Begriffen eingeführt.
„Davon ist eines auch die Ungerechtigkeit, die Gottlosigkeit und insgesamt alles, was der politischen Tugend entgegengesetzt ist. In diesem Bereich also zürnt und tadelt man einander, anscheinend deswegen, weil man annimmt sie [gemeint ist die politische Tugend] sei lehrbar.“ (Prt. 323e4–324a2)
Hier wird zumindest suggeriert, dass politische Tugend mit der Tugend im Allgemeinen identisch ist oder dass alles, was man Tugend nennt, zur politischen Tugend zählt. Durch den Umweg über die Gegensätze kommt die Frage, wie diese Tugend denn zu definieren sei, weniger leicht auf.
Ganz ähnlich ist es bei der Beschreibung von sophrosyne. Das Wort wird innerhalb der Rede in drei verschiedenen Bedeutungen verwendet: einmal gemeinsam mit dikaiosyne als Inbegriff (?) der politischen Tugend (Prt. 323a2), einmal als Gegenbegriff zu Verrücktheit und Vernünftigkeit (Prt. 323b4) und einmal als Gegenbegriff zu gesellschaftlich nicht akzeptiertem Verhalten (Prt. 326a4).
Außerdem gibt es syntaktisch unklare Bezüge in den Sätzen:
„Wenn sie aber zur Beratung über (!) die politische Tugend gehen, die [Bezug auf Beratung oder politische Tugend] insgesamt von der Gerechtigkeit und Besonnenheit geleitet wird, so akzeptieren sie zu Recht jeden, weil es jedem zukommt, an dieser Tugend Anteil zu haben. (Prt. 322e2–323a4)
Die Aufmerksamkeitslenkung ist dabei im Sinn der gorgianischen Rhetorik, wie sie Protagoras verwendet, rhetorischer Art, weil sie nicht den Blick auf die Erklärung des Sachverhalts – was ist die politische Tugend eigentlich und wie ist sie lehrbar? – lenkt, sondern die Zuhörer eher von der Nachfrage abhält, was diese Tugend denn eigentlich ist und worauf genau sich die Praktiken beziehen, die voraussetzen, dass man die Tugend für lehrbar hält.
Um Sokrates’ Perspektive dem gegenüberstellen zu können, müssen wir dort ansetzen, wo Sokrates seine Kritik äußert.
„Die Tugend, sagst du, sei lehrbar, und ich, wenn ich mich überhaupt von irgendeinem Menschen überzeugen ließe (peithoimen), würde ich mich von dir auch überzeugen lassen. Worüber ich aber gestaunt habe, als du sprachst, dieses erfülle mir noch in meiner Seele. Du sagtest nämlich, ...“ (Prt. 329b8-c1)
Sokrates spricht Protagoras direkt auf den rhetorischen Charakter seiner Rede an. Sie hatte das Ziel zu überzeugen oder auch zu überreden, und Protagoras ist der richtige dafür, andere zu überzeugen oder auch zu überreden.56 Er lobt ihn also in seiner eigenen Domäne57 und muss sich hier nicht festlegen, ob ein sachangemessenes Überzeugen oder ein manipulierendes Überreden gegeben ist.58
Ihm sei aber in der Rede noch etwas anderes aufgefallen, das von diesem Überzeugungsziel verschieden ist: nämlich die unbestimmte Rede von einzelnen Tugenden wie Gerechtigkeit, Scham, Besonnenheit, Frömmigkeit und der Tugend insgesamt, die also all dies in sich vereine.– Schon die Tatsache, dass Sokrates auf diesen Aspekt geachtet hat, zeigt, dass er sich anders, als es die Schilderung der ersten Wirkung der Rede des Protagoras suggeriert, nicht hatte bezaubern und einlullen lassen (vgl. Prt. 328d5). Er ist ganz bei der Sache geblieben, hat sich aber zugleich auch nicht auf Ordnung und Redestrategie eingelassen, sondern auf Schwierigkeiten in der Darstellung des Gegenstands geachtet.
Deshalb stellt er Protagoras eine dialektische Aufgabe: Er solle ganz genau mit dem Logos (hier wohl eher: mit rationalen Argumenten) durcharbeiten (Prt. 329c5–d2), also diskursiv erörtern, ob die Tugend etwas Eines ist, von der die Teile die Gerechtigkeit, die Besonnenheit usw. sind, oder ob diese einzelnen Tugenden nur unterschiedliche Namen für die eine Sache sind. Sokrates setzt damit direkt beim Mythos und der Verteilung von dike und aidos durch Zeus an. In dem Teil, in dem Protagoras diese Verteilung und ihre Bedeutung für die zeitgenössische politische Kultur erläuterte, hatte er das, was mit dike und aidos im Mythos gemeint war, in die gängige ethische Sprache seiner Zeit übersetzt und nun dikaiosyne und sophrosyne dafür ohne weitere Begründung eingesetzt.59 Später (Prt. 325a) kommt noch hosion einai, also eusebeia, hinzu sowie kalon und aischron als allgemeine Begriffe für (un)tugendhaftes Verhalten (Prt. 325d). Zudem hatte er von der politischen Tugend gesprochen und diese einmal als etwas bezeichnet, das durch Gerechtigkeit und Besonnenheit entsteht (Prt. 323a1–2) und einmal als etwas, zu dem die Gerechtigkeit als eine Einzeltugend neben anderen gehöre (Prt. 323a6-8 und 325a1–3).60 Protagoras hatte in seiner Rede auf die Bestimmung des Verhältnisses der Tugend und Tugenden untereinander also wenig Mühe verwendet, und das, obwohl es ja um das Lehren von Tugend geht – und man natürlich gerne wissen möchte, was es denn nun eigentlich ist, was gelehrt werden könne.
Protagoras’ Antwort auf diese Nachfrage weist ihn wiederum als Rhetoriker aus, nicht als Dialektiker: Denn er sieht in der Aufgabe kein sachliches Problem. Entsprechend gering ausgeprägt ist seine Ausdauer und Bereitschaft, sich auf die mühsamen Frage-Antwort-Prozesse mit Sokrates einzulassen. Sokrates gelingt es jedoch gleich zu Beginn, sichtbar zu machen, dass die Frage nicht abwegig oder unfair ist, weil die Rede mit ihr gar nichts zu tun hätte. Er erfragt nämlich von Protagoras, ob dieser denn denke, dass jeder immer alle Tugenden zugleich besitze, was Protagoras gleich mit Blick auf die zeitgenössische Empirie bestreitet (Prt. 329e2–6). Wenn man dies aber so zugrundelegt, dann würde Protagoras zugleich die Tugend, von der er spricht, in jemandem einpflanzen und nicht einpflanzen. Mit anderen Worten: Die Rede des Protagoras wird widersprüchlich, wenn man hier keine Differenzierung einführt und muss also – dialektisch – ergänzt werden.
3.1 Ein mühsames Gespräch: Dialektik ist nicht Protagoras’ Sache
Zu Beginn der Fragesektion (Prt. 329d–333e) folgt Protagoras Sokrates noch. Es geht zunächst um die Frage, ob sich die einzelnen Tugenden zur Tugend insgesamt wie die Teile des Gesichts zum Gesicht (also nach Aristotelischer Terminologie wie anhomoiomere Teile) oder wie die Teile des Goldes zum Gold (also wie homoiomere Teile) verhalten. Die weiteren Nachfragen zielen darauf, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Tugenden untereinander zu identifizieren und Protagoras’ Behauptung, die Tugenden hätten nichts miteinander gemeinsam, in Frage zu stellen (Prt. 330a–b; 330e5–6). Protagoras meint: Eine jede sei für sich etwas ganz Besonderes und Wichtiges. Seine Aussage ist also nicht dialektisch, sondern zielt auf ein Werturteil, von dem Protagoras seine Zuhörer überzeugen will.
Protagoras folgt diesen dialektischen Fragen daher nur widerwillig. Er lässt sich so wenig auf die Fragestellung ein, dass er die Relevanz der Unterschiede, die Sokrates herausarbeiten will, gänzlich leugnet (Prt. 331c3–5). Und er wird regelrecht aufbrausend, als er sich absichtlich missverstanden fühlt. Er habe ja nicht sagen wollen, die Tugenden hätten gar nichts miteinander zu tun, sondern ihm sei es ganz pragmatisch um signifikante und bestimmende Unterschiede gegangen. Es sei einfach etwas anderes, ob jemand tapfer sei oder gerecht. Wie nahe sich Besonnenheit und Gerechtigkeit da stehen, ist für den praktischen Unterricht aus seiner Sicht schlicht nicht interessant. Allerdings kann Protagoras die Frage eben auch nicht überzeugend beantworten (Prt. 331d1–332a4). Um die Relevanz seines hartnäckigen Nachfragens sichtbar werden zu lassen, führt Sokrates einen dritten Fragenden ein, der die Frage stellt, ob denn die Gerechtigkeit eben dieses, nämlich gerecht sei oder doch nicht vielleicht ungerecht (Prt. 331c4–d1). Denn indem die Bestimmung, die die gesuchte Sache ausmacht, als Qualität beschrieben wird, tritt zutage, dass eine absolute Trennung der einzelnen Tugenden voneinander nicht möglich ist. Anderenfalls müssten diese Qualitäten den jeweils anderen abgesprochen werden: Gerechtigkeit wäre nicht fromm, Besonnenheit nicht weise usw.
Das scheint eine (Vor)form des Problems von der Selbstprädikation der Idee zu sein, auf das Aristoteles in der Metaphysik ausführlich eingeht. Dieses aber ist anders gelagert als das, was Sokrates hier anspricht. Denn das Problem der Selbstprädikation der Idee fragt danach, ob von einem Begriff (also etwas, was ein abstraktes, allgemeines Prädikat ist) das, wovon er Begriff ist, was also unter ihn subsumiert wird, ausgesagt werden kann: Ist z. B. der Begriff der Schärfe scharf oder der Begriff der Menschlichkeit menschlich? Sokrates führt die Frage aber ganz anders ein. Weit entfernt davon, das Gerechtsein der Gerechtigkeit zu bezweifeln, hält er es für absolut selbstevident, dass Gerechtigkeit nichts anderes sein kann als Gerechtsein, denn sonst wäre überhaupt nichts gerecht, wenn nicht einmal das, was Gerechtigkeit ist, gerecht wäre. Er versichert sich jedes Mal dabei, dass Übereinstimmung darüber besteht, dass das, wovon gerade die Rede ist, eine Sache (pragma (ti)), ist (Prt. 330b8–c2; 330d3–4; d5; 331a7–8). Damit ist das pragma (etwas) das, was bestimmt wird. So ist z.B. die Gerechtigkeit „etwas“ und dieses „etwas“ wird als „gerecht sein“ bestimmt. Und die Frage ist nun, ob dieses Gerechtsein gar nichts oder doch irgendetwas mit dem Frommsein oder Besonnensein gemeinsam hat. Kann ich über Gerechtigkeit sprechen, ohne Frommsein zu erwähnen? Kann eine einzelne Tugend etwas sein, von dem Besonnensein gänzlich verschieden und getrennt ist? Das scheint Sokrates unmöglich zu sein (Prt. 330d8-e2).61 Protagoras hingegen hält die Argumentation für Beckmesserei. Natürlich sei alles irgendwie allem ähnlich (z. B. könnte er sagen: „Gerechtigkeit und Besonnenheit sind beides Tugenden; das aber ist banal und sagt mir noch gar nichts über das Besonnensein usw., was einen Identifikationswert besitzt. Das heißt: Daraus ließe sich keine bestimmte Erkenntnis ableiten. Bei bloß geringfügiger Ähnlichkeit würden wir ja doch nicht davon sprechen, dass es (einem anderen) ähnlich ist. Das ist pragmatisch gedacht und gut, wenn man beschreiben möchte, wie die Dinge sich im Alltag verhalten (Prt. 331d1–332a4). Es weicht aber den sachlichen Fragen aus. Es hatte sich in Protagoras’ großer Rede gezeigt, dass das Verhältnis der Tugenden und die Bestimmung dessen, was politische Tugend ist, nicht banal ist und ein Problem in der Behandlung des Protagoras darstellt.
Sokrates stellt fest, dass Protagoras diese Fragerichtung und die Dialektik überhaupt unangenehm ist und schwenkt auf eine andere, freilich wieder dialektisch zu erörternde Frage um. Protagoras hat sich zwar den Regeln des dialektischen Gesprächs unterworfen, dabei aber immer noch wie in der großen Rede und in deren Mythos rhetorisch argumentiert und sich auf Exempla berufen.
4 Ergebnisse
In diesem Beitrag wurden Argumente dafür zusammengetragen und aufeinander bezogen, dass der Dialog Protagoras ein propädeutischer Bildungsdialog ist, in dem die Wahl zwischen Sokrates und Protagoras als besserem Lehrer vorbereitet werden soll. Die Propädeutik besteht darin, dass die rhetorische Methode des Protagoras der dialektischen Methode oder Hinführung zur dialektischen Methode des Sokrates gegenübergestellt wird. Sokrates beginnt mit dem Verweis auf historische Einzelfälle und allgemein verbreitete Verhaltensweisen. Protagoras greift dies auf, weist den Einzelbeispielen und einzelnen Handlungen aber eine Beweiskraft zu, die Sokrates ihnen nicht gegeben hatte. Dies verdeutlicht den rhetorischen Charakter der Methode des Protagoras. Durch diese ergeben sich Schwächen in Hinblick auf die Frage, welche Tugend Protagoras denn eigentlich zu lehren behaupte und ob man diese überhaupt lehren könne. Sokrates setzt hier mit seiner dialektischen Methode an, die diese Schwächen ausgleichen könnte. Protagoras jedoch reagiert mit Widerwillen gegen diese ihm fremde und spitzfindig erscheinende Methode und kann für sie von Sokrates auch am Ende nicht gewonnen werden. Für Sokrates hat das Gespräch dennoch ein wichtiges Ergebnis erzielt: Es hat gezeigt, dass die dialektische Methode für die Frage, was denn die (politische) Tugend eigentlich ist, eingesetzt werden kann. Zugleich hat sich Sokrates damit auch als der überlegene Lehrer erwiesen. Denn er hat gezeigt, dass er beide Methoden einsetzen kann, und ihnen dabei ihre je spezifische Funktion zugewiesen. Nach diesen einführenden Vorklärungen könne jetzt, so Sokrates, die eigentliche Sachfrage behandelt werden. Dies findet aber nicht mehr im Rahmen des Dialogs Protagoras und nicht mehr mit der Beteiligung des Protagoras statt.
Der Beitrag konnte außerdem zeigen, welche Funktion die Mythos- und Logos-Teile in der großen Rede des Protagoras vor diesem Hintergrund erfüllen. Es gibt eine Kontinuität zwischen dem, was Protagoras Mythos nennt, dem Teil, den der Redner als zusätzliches Argument und gegen den Eindruck, der Zuhörer würde übervorteilt, zum Mythos hinzufügt, und dem Teil, der explizit als Logos im Gegensatz zum Mythos eingeführt wird und der direkt auf Sokrates’ vorher geäußerte These, die Tugend sei nicht lehrbar, antwortet. In allen drei Teilen verwendet Protagoras rhetorische Techniken, die aus dem Umfeld des Sophisten Gorgias stammen und das Ziel haben, die Zuhörer von der zugrundegelegten These zu überzeugen. Sowohl Mythos als auch Logos handeln von einzelnen Handlungen: aus der mythischen Frühzeit und aus der zeitgenössischen Gegenwart. Zwischen beiden wird über den Transfer von aidos und dike zu sophrosyne und dikaionsyne die Schwierigkeit, welche Art von politischer Tugend damit adressiert wird, verschleiert. Weder Kontur oder Wirkreichweite der politischen Tugend insgesamt werden klar noch der Gegenstand, den Protagoras zu lehren verspricht: Ist es die allgemeine Kompetenz zu sozial verträglichem Verhalten oder doch spezifisch die Fähigkeit, im Staat Entscheidungen, die für die Gemeinschaft insgesamt relevant sind, abzuwägen und zu treffen?
Sokrates greift die große Rede jedoch nicht frontal an. Er stellt nicht grundsätzlich die Möglichkeit in Frage, argumentativ von Einzelfällen auszugehen, sondern er demonstriert, wie dialektische Methoden einen Zugang zu einer Sachfrage ermöglichen können, der schneller zum Erkenntnisziel führt, und zwar auch dann, wenn (historische oder mythische) Exempla im Spiel sind. Das zeigt sich darin, dass Sokrates selbst seine erste kritische Nachfrage mit dem Verweis auf Praktiken in Athen beginnt, und dass er Motive aus dem Mythos-Teil des Protagoras aufgreift, neu interpretiert und umdeutet. Er zeigt damit, dass Material aus Mythos und Logos gleichermaßen mögliche Grundlagen für dialektische Methoden sind.
Damit entsteht am Ende des Protagoras gar keine radikale Entgegensetzung und Destruktion des Gegners. Sokrates argumentiert vielmehr stets betont kooperativ und kooperationsbereit. Er will Protagoras nach dieser Propädeutik innerhalb des Dialoggesprächs dafür gewinnen, mit ihm nun im Anschluss die eigentliche Sachdiskussion über die Tugend zu führen. Doch Protagoras erklärt sich dazu nicht bereit. Es zeigt sich damit, dass nicht Protagoras, sondern Sokrates der beste Lehrer ist, dem mithin auch der Vorzug gegenüber dem Starsophisten gegeben werden sollte.