Wie kommt es dazu, dass Lehrerinnen und Lehrer beim Thema Rhetorik sich vielfach mit der Lehre von den Stilfiguren begnügen? Warum lassen wir unsere Schülerinnen und Schüler Anaphern und Hyperbata,  Parallelismen und Anadiplosen zählen, um die rhetorische Qualität eines Textes quantifizieren zu können?

Gyburg Uhlmann: Rhetorik und Wahrheit. Ein prekäres Verhältnis von Sokrates bis Trump, XXV, 311 Seiten, 1. Aufl. 2019, J.B. Metzler, Part of Springer Nature - Springer-Verlag GmbH, 978-3-476-04750-2 (ISBN), 24,99 € , als e-book 19,99 €

Cover M.Groe Pons Latinus

Gyburg Uhlmann führt zur Antwort auf diese Fragen die Leser ihres Buches »Rhetorik und Wahrheit. Ein prekäres Verhältnis von Sokrates bis Trump« im Vorwort in die Institutsbibliothek der Klassischen Philologie in Marburg: »Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mich damals als junge Studentin, die gerade mit Eifer die ersten Schritte hinein in die Welt der antiken Literatur unternahm, auch dem Thema Rhetorik zuwenden wollte. Zu dieser Zeit hatte ich nur vage Vorstellungen davon, was Rhetorik eigentlich ist und was sie mit mir zu tun haben könnte. In der Rhetorik geht es doch irgendwie um das Überzeugen oder aber um das Überreden, so dachte ich. Nun gehörte und gehört es noch heute zum Rüstzeug der angehenden Philologin, dass sie sich zu diesem Zweck Heinrich Lausbergs Handbuch der literarischen Rhetorik zur Hand nimmt und zu Gemüte führt. Von diesem über 600 Seiten starken Band erwartete ich, in die Praxis der Redekunst eingeführt zu werden und natürlich auch etwas über die Tricks zu erfahren, mit denen der Redner seine Zuhörer lenken oder gar manipulieren kann. ... Als ich eines Abends in der Seminarbibliothek saß, erlebte ich nun aber eine Enttäuschung. Denn 'der Lausberg' tat all das gar nicht« (S. 3).

Die Wendung brachte in einem späteren zweiten Anlauf die Lektüre der Rhetorik des Aristoteles: »Das Fesselnde daran war, dass dieses Buch über Rhetorik nun direkt mit eben dieser Erfahrung einsetzte, die ich selbst gemacht hatte: mit der Erfahrung, dass es Rhetoriklehrbücher gibt, die lediglich formale Techniken und Mustervorlagen  liefern, mit denen man ein Rezept für seine Rede in die Hand bekommt, dessen Zutaten man nur noch zusammen zu rühren braucht, bei denen man aber am Ende nicht weiß, warum das alles so funktioniert und wie genau es funktioniert« (4). ... »So wurde mir damals klar, dass Platon und Aristoteles wirklich in das Auge des Sturms vorgedrungen sind. Denn sie stellten die Fragen und bieten ihren Leserinnen und Lesern bis heute Antworten auf die Themen an, die man in der Rhetorik wissen muss: Wie verhält sich die Rhetorik zur Wahrheit?« (6). 

Die andere Seite ihres Ansatzes sind gesellschaftliche Entwicklungen in der Gegenwart, die Stichworte Populismus, Demagogie, Fake News und alternative Fakten sind allgegenwärtig. Die Autorin fragt: »Wenn man meint, gar nicht mehr sagen zu können, ob oben oben und unten unten ist, ob es Methoden gibt, die Anzahl von Besuchern bei einer Veranstaltung zu zählen oder den Prozentsatz einer bestimmten Bevölkerungsgruppe anzugeben, und ob politische Bündnisse mit Nachbarstaaten Sicherheit erbringen oder ob egozentrisches Tyrannengebaren dem Gemeinwohl schadet – das sind alles unterschiedliche Fragen: Aber sind das nicht Dinge, über die es noch vor zehn Jahren einen breiten gesellschaftlichen Konsens gab? – wenn wir also über all dies nicht mehr einig sind, wie können wir es dann eigentlich noch schaffen, Meinungen und Argumente von anderen nicht nur auszuhalten, sondern uns darüber auch zu verständigen? Wie können wir noch miteinander sprechen? Und wie stellen wir sicher, dass wir überhaupt noch über das Gleiche sprechen?« (7).

Welche Wege geht Gyburg Uhlmann in ihrem neuen Buch – das übrigens in intensivem Kontakt zu Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern in einer Reihe von Seminaren, Vorlesungen und Kursen, u.a. der Veranstaltungsreihe »Rhetorik und Kommunikation – 10. Philosophisches Propädeuticum« an der FUB im Herbst 2018, entstanden ist: Sie erzählt in diesem Buch, »was mich an der Rhetorik und ihren Standpunkten zur Wahrheit bewegt hat. Ich erzähle es als eine Geschichte der Rhetorik, die, während wir sie schreiben oder lesen, immer wieder ganz direkt im Dialog steht mit unseren heutigen Problemen und Möglichkeiten und die durch diesen Dialog weitergeschrieben wird. Wenn ich berichte, was die Sophisten des 5. Jahrhunderts v. Chr. oder die Aufklärer im 18. Jh. mit der Rhetorik gemacht haben, dann nicht, weil dies alles so fremd, lange vergangen und daher vielleicht exotisch ist, sondern weil es ganz unmittelbar mit dem zu tun hat, was heute in den sozialen, neuen digitalen und klassischen analogen Medien geschieht und warum wir es heute mit einer so breiten Front mit Populismus und Demagogen zu tun haben, die es nicht nur gibt, sondern denen auch zugehört wird« (10).

Ihre Streifzüge reichen im ersten Drittel des Buches von den Anfängen der Rhetorik in Sizilien, über die Wanderlehrer des 5. Jh.s v. Chr. ("Gorgias von Leontinoi oder die Begründung alternativer Fakten", 47ff), zu Platon, Isokrates und Aristoteles (»Platons neue Rhetorik«, 64ff. – »Isokrates und der lange Atem der Bildung«, 121ff. – »Aristoteles – Wahrheit und Wahrscheinlichkeit«, 138ff.). (S. 48)

Das Spektrum der Positionen wird von Anfang an deutlich. Gorgias z. B. hat kein Lehrbuch der Rhetorik vorgelegt, sondern erläutert die rhetorischen Techniken an praktischen Beispielen wie der Verteidigungsrede des Palamedes und dem Lob der Helena. Offensichtlich wird dabei seine Grundhaltung, dass die Rhetorik nicht der Wahrheit verpflichtet ist und dass durch sie nur Wahrscheinliches dargestellt werden könne (50ff.) »Der Redner kann mit verschiedenen Wahrscheinlichkeiten spielen, alternative Wahrheiten, alternative Sichtweisen der Dinge nebeneinanderstellen, ihre Uneindeutigkeiten ausnutzen und dadurch die Zuhörer auf seine Seite ziehen und ihnen seine eigene Position als die wahrscheinlichste und zugleich angenehmste verkaufen« (63). 

Platon nimmt dem großen Gorgias dann allerdings das Heft aus der Hand und präsentiert eine ganz andere Art von Rhetorik, die gar nicht ohne die Wahrheit und ohne ein Wissen von den Dingen auskommt. Die Autorin betont, dass Platon durch seine Schriften mit der gesamten Elite seiner Zeit und der Generation vor ihm ganz unmittelbar in Kontakt tritt und dass man Platons gesamtes Œuvre als Stellungnahme zur zeitgenössischen rhetorischen Bildungskultur betrachten könne (66, 68). Im Dialog Protagoras steuert Sokrates den zentralen Gedanken bei, dass das Austauschen von Meinungen und Argumenten nur dann einen Sinn  habe und zu etwas führe, das besser sei als die einzelnen Meinungen der Kontrahenten, wenn diese dazu bereit seien, die Argumente der anderen auch wahrzunehmen und auf die eigene Meinung zu beziehen (69). (Diesen Gedanken betont auch der Islamwissenschaftler Thomas Bauer in seiner Dankesrede bei der Überreichung des neuen Sachbuchpreises der WBG: »Alternativlosigkeit ist Zukunftslosigkeit. Gefangen im Gegenwartsstau: Was die weltweit zunehmende Verwahrlosung der geisteswissenschaftlichen Bildung anrichtet«, FAZ vom 6. Juni 2019,S. 9). Im Dialog Gorgias sieht sich Sokrates der Position des Polos gegenüber, der bestreitet, dass der Redner wissen müsse, was gerecht und was ungerecht sei. Viel radikaler attackiert Kallikles die Thesen des Sokrates und proklamiert ganz offen, dass der Stärkere von Natur aus überlegen sei und erklärt alle moralischen Ansprüche und Grenzen zur bloßen Konvention (71). »Das ist harte Konfrontation, Es ist ein Gespräch ohne jede gemeinsame Grundlage. Es ist eine Diskussion, in der – auf Seiten des Kallikles – mit den härtesten Bandagen gekämpft wird. Kallikles droht sogar, Sokrates könne über seine Philosophie so sehr in Ungnade in der Stadt fallen, dass die Bürgerschaft ihn hinrichten lasse« (72).  ... »Wenn Platon diese Krise im Gorgias dem Radikalsophisten Kallikles als Drohung und als Szenario, das wie ein Damoklesschwert über Sokrates hängt, in den Mund legt, dann ist klar, dass es nun ans Eingemachte geht« (72f.). Gyburg Uhlmann zeigt hier sehr schön, wie in diesem berühmten Dialog argumentiert wird und wie man miteinander redet, woraus sich viel für aktuelle Fragen und Aporien der Kommunikation gewinnen lasse (75–90). Sie analysiert so-
dann ausführlich den Dialog Phaidros, der vor allem auch die Rhetorik des Isokrates in den Blick nimmt, der ganz offensiv die Position vertrat, dass es sowohl unmöglich als auch pragmatisch unnötig sei, dass sich der Redner mit einer ,hinter den Meinungen liegenden’ Wahrheit belaste (93). In einer »Zusammenfassung für Eilige« (die es auch für Aristoteles und Cicero gibt, S. 169ff. und 188ff.) fasst sie die Ergebnis-se in knappen Thesen zusammen (117–120). – Thomas Bauer formuliert es ähnlich: »Wir leben in einer Zeit der Meinungen. Alle haben heute zu allem eine Meinung, die sie auch bereitwillig kundgeben, sei es in sozialen Medien, in Kommentaren und auf den Internetseiten der Zeitungen, auf welchen man oft auch direkt nach seiner Meinung gefragt wird und mit ,ja’ oder ,nein’ antworten muss. ... Nun kann man eine Meinung zu einem Thema haben, ohne viel darüber zu wissen. Eine fundierte Meinung zu haben setzt aber fundiertes Wissen voraus.« a.a.O.).

Ein großes Kapitel widmet G. Uhlmann einem der »langlebigsten Denker der Antike«: Isokrates. »Sein Name wird heute selten genannt. Das war in der Antike ganz anders: Seine neue Methode des Rhetorikunterrichts und sein Anspruch, der Erzieher in Athen zu sein, bestimmte die Bildungsdiskurse seiner Zeit, also des 4. Jh.s v. Chr. Auch noch 350 Jahre später outete sich Cicero als glühender Bewunderer der Rhetorik und der Bildungsideen dieses großen Lehrers. Sein Einfluss war also nachhaltig« (121). Isokrates »versteht die Rhetorik deswegen als einzig richtige Politik, weil sie auf die Erkenntnis einer ohnehin unerreichbaren Wahrheit zugunsten einfacher Wahrscheinlichkeiten, die den Zuhörern plausibel seien, ganz grundsätzlich verzichte. Rhetorik bezieht sich damit nach Isokrates ganz auf das unmittelbar praktisch Relevante« (128). Platon hatte in Auseinandersetzung mit Gorgias von Leontinoi betont, dass die traditionelle Rhetorik »nicht eine Wissenschaft, sondern bloß eine Verfahrenstechnik ist, die auf das Hervorrufen von Lust und Wohlbefinden abziele (Pl. Gorg. 462c4-7). Unter diesen Schmeicheleien wiederum, die Sokrates auch als Scheinkunst bezeichnet, sei die Rhetorik - wie gesagt´: die Rhetorik des Gorgias - diejenige, bei der es um Recht und Unrecht im Staat gehe« (130).

Für Aristoteles ist Rhetorik, die Schwesterdisziplin zur Dialektik, in allererster Linie eine Wissenstechnik; es soll ein Wissen von dem, was jeweils überzeugend ist, ermittelt werden. Er hat sich intensiv mit seinen Vorgängern und den Lehrwerken, die zu seiner Zeit vorlagen, auseinandergesetzt und positioniert sich dabei eindeutig gegen eine rein an praktischen Belangen orientierte Redetechnik. Seine Konzeption zeigt in ihren Grundlagen eine deutliche Nähe zu seinem Lehrer Platon. (171f.)

Gyburg Uhlmann geht – abgesehen vom Einstieg »Cicero und die Erfindung des ,Alten Streits zwischen Philosophie und Rhetorik’« (25ff.) weiterhin chronologisch vor bei ihrem Gang durch die Geschichte der Rhetorik. Auf die »Lehrbuchrhetorik im Hellenismus« (173ff.) folgt das umfassende Kapitel »Ciceros vollkommener Redner und Cicero, der vollkommene Redner« (179ff.), sodann »Quintilian – das Handbuch der Rhetorik und die Allgemeinbildung« (191ff.); die »Rhetorik im Literaturbetrieb der römischen Kaiserzeit« (203ff.) – mit besonderem Blick auf Petron und Lukian - und die »Rhetorik im Christentum: die Kirchenväter und ihre rhetorische Bildung« (211ff.), speziell bei Hieronymus und Augustinus. 

Der zweite Teil des »Streifzugs durch die Geschichte des Ringens um die Wahrheit in der Rhetorik präsentiert einzelne Notizen und Randbemerkungen zu Rhetoren und ihren Vorstellungen von Wahrheit, die nach der Antike gedacht und formuliert wurden« (225). Besonders spannend fand ich das Kapitel »Rhetorik im 20. Jh. und heute: Das Problem mit den Emotionen« (253ff.), besonders den Abschnitt über Barack Obama und die Traditionen, in denen seine Rhetorik steht, und seine rhetorischen Mittel wie Kontrastbildung, die Steigerungsreihe und das Einsetzen von persönlichen Anekdoten (256ff). Beeindruckend die Analyse der Rede anlässlich der Absolventenfeier der Rutgers University am 15. Mai 2016. Es geht darum, was die Vernunft in der Politik und im Leben einfordert. »Obama umreißt das Problem mit scharfen Konturen: Wahrheit und Wissen sind dann als Basis unserer gesellschaftlichen Auseinandersetzung in Gefahr, wenn die politischen Führer ihre Missachtung gegenüber diesen Gütern aussprächen und wenn sie Wissenschaftler eben dafür diffamierten, dass sie sich auf Fakten und Begründungen beriefen« (260). In einer weiteren Passage argumentiert Obama platonisch. Es geht dabei um die Frage, was denn ein guter Redner wissen müsse und welche Rolle Wissen überhaupt in unserer Gesellschaft spielt oder spielen sollte.

Der dritte Teil des Buches (275ff) greift auf gegenwärtige Situationen zu, in denen Rhetorik und Wahrheit in ein prekäres Verhältnis geraten. An Beispielen diesseits und jenseits des Atlantiks fehlt es nicht. Nachdem Gyburg Uhlmann in ihrem Streifzug durch die Geschichte von Rhetorik und Wahrheit unterschiedliche Bildungsmodelle und Positionierungen der Rhetorik sowie Gegenmittel gegen manipulative Rhetorik aufgezeigt hat, fragt sie jetzt genauer, worin man überhaupt demagogische Reden erkennt und was man ihnen entgegensetzen kann. Dazu listet sie neuere Definitionen von Demagogie auf und setzt sie in Bezug zu Platons Begriff der demegoria, den Platon als Kampfbegriff eingeführt hat, um seine eigenen Argumentationsstrategien von einer sophistischen Rhetorik und Methodik abzugrenzen. Mit vielen Beispielen für die Kommunikationstechniken des 45. Präsidenten der USA wartet die Autorin 289ff. auf, etwa »die Verwendung von (oft beleidigenden) Attributen, die mit einem Eigennamen oder anderen Begriffen eine feste Verbindung eingehen« (289), die sie »demagogische Epitheta« nennt in deutlichem Unterschied zu den Epitheta ornantia in den Homerischen Epen: »Zu den Epitheta, die diese Epen verwenden, gehören positive oder wertneutrale Attribute. Verunglimpfungen gibt es nicht« (292). Weiter geht es um »Alternative Wahrheiten«, zu verstehen als Argumentverweigerung und Paralleldiskurse (301ff).

Wie umgehen mit solchen Phänomenen? Gyburg Uhlmann hat  natürlich recht, dass historische Situationen, die weiter zurückliegen, und aus älteren Traditionen stammende Vorschläge und Analysen als Anschauungsmaterial und Gegenstand der Überlegungen oft von Nutzen sind. Insofern bietet ihre Untersuchung »Rhetorik und Wahrheit« eine Fülle von Material für die gegenwartsbezogene Auseinandersetzung im Latein- und Griechischunterricht. Das Buch schließt mit dem Appell: »Ein Sachwissen, das eine kritische Prüfung eigener Meinungen oder der Meinungen anderer erlaubt, und die Vermittlung von Techniken, dies zu leisten, gehören in die Schulen und Universitäten als Lerngegenstand und als methodische Grundlage. An den Schulen entscheidet sich, ob demagogische Strategien ankommen oder nicht. An den Schulen liegt es, ob die Meinungsbildungsprozesse in einer Gesellschaft zunehmend emotionalisiert und von kritischen Nachfragen entkoppelt werden. An den Schulen hängt es, ob sich Populismus und seine rhetorische Methode, die Demagogie, in einer Gesellschaft durchsetzen und als Paralleldiskurs gegen die intellektuellen Eliten festsetzen. Das ist viel Verantwortung und braucht viel Unterstützung. Politik, Wissenschaft, Gesellschaft: Alle sollten den Weg für diese große Bildungsaufgabe freimachen« (315). 


Andreas Englisch, Mein Rom. Die Geheimnisse der Ewigen Stadt. 
Verlag C. Bertelsmann, München, 2. Auflage 2018, 480 Seiten, 
16-seitiger farbiger Bildteil, ISBN: 978-3-570-10359-3, € 22,0

Cover Englisch Mein Rom 300dpi

Zu Zeiten meiner ersten Rom- und Italienreisen hatte ich zahlreiche einschlägige Titel von Reinhard Raffalt (die ich vorwärts und rückwärts las) im Regal stehen, dazu die Kunstreiseführer von Eckart Peterich, die einbändige, später zweibändige Ausgabe des Guide Bleu, hinzukamen weitere Titel von Filippo Coarelli, Edmund Bucher, Wolfgang Helbig, Herbert Alexander Stützer, Franco Barelli und etliche andere Bücher, dazu noch Bildbände, Museumsführer und Reiseführer in Taschenbuchform. Bald hatte ich angesichts der vollen Regale den Eindruck, es sei genug. 

Dann wurde ich aufmerksam auf einen neuen Titel: »Mein Rom« von Andreas Englisch. Der Klappentext sprach mich an: »Sie wissen schon alles über Rom? Wenn Sie Andreas Englisch kennen, ahnen Sie, dass Sie sich täuschen. Wie kaum ein anderer versteht es der ausgewiesene Vatikan-Experte, der seit drei Jahrzehnten in Rom lebt, dessen mehr als zweitausendjährige Stadtgeschichte zum Leben zu erwecken. Mit dem jun-
gen Römer Leo folgt er Gladiatoren in ihre Trainingsarena, den Spuren genialer Künstler in den Vatikanischen Museen, erzählt von raffgierigen und weisen Päpsten, von verborgenen etruskischen Fresken, Gewinnern und Verlierern der Stadtgeschichte und vom seltsamen Humor eines vielleicht gar nicht existierenden Gottes, der doch das Schicksal Roms bis heute prägt. Dieses Buch ist kenntnisreich, spannend und amüsant, frech, verblüffend und unwiderstehlich.« Das machte mich neugierig und ich besorgte mir »Mein Rom«.

Der Autor ist Journalist mit Akkreditierung im Vatikan und lizenzierter Fremdenführer in Rom. Eine nicht ganz einfach zu erlangende Qualifikation.  Er begibt sich mit dem Leser auf eine Sightseeing-Tour der besonderen Art:  Andreas Englisch konzipiert die Stadtführung, nachdem sein Sohn Leo durch eine Prüfung gefallen ist. Dieser (in Rom geboren und kurz vor dem Abitur) will nämlich unbedingt die Schule von Fernanda besuchen, welche ihn zur Prüfung zum Fremdführer vorbereiten soll. Denn mit diesem Beruf kann man in der ewigen Stadt sehr viel Geld verdienen und er will damit sein Studium finanzieren. 450 € verdient ein Fremdenführer im Durchschnitt – am Tag! Kein Wunder also, dass Englischs Sohn Leonardo gerne in die Fußstapfen seines Vaters treten möchte, nur ist er leider ein fauler Knabe. Er liest offensichtlich keine Bücher, deshalb bittet er schließlich seinen Vater um Hilfe. Der muss ihm bis zum Wochenende (zunächst zum Thema St. Peter) all das einbimsen, was er in den letzten zwei Jahren gemütlich hätte lernen können. Am besten geht so was immer noch, wenn man sich direkt an den Ort des historischen Geschehens begibt.

Andreas Englisch pflegt als Journalist intensive Kontakte zu Museumsleuten und erinnert sich an ein spezielles Phänomen, das Lehrkräften nicht ganz unbekannt ist: »Ich habe einen Freund, der in der Museumsverwaltung der Stadt Rom arbeitet. Er nannte dieses Phänomen GAH, Gehirn-Ausfall-Hilfe. Sie hatten die GAH für Schüler zufällig entdeckt. In den Museen werden die ausgestellten Kunstwerke in der Regel beschriftet. Genannt werden meist der Künstler, der Titel des Werks und wann es geschaffen wurde. Die Erfahrungen hatten gezeigt, dass Schüler sich über Generationen hartnäckig weigerten, diese Beschriftungen zu lesen. Verzweifelte Lehrer unternahmen alles Mögliche, von der Schmeichelei bis zur offenen Androhung von Sanktionen, um die Schüler dazu zu bringen. In den Schülerköpfen schien es aber eine Art automatischer Blockade zu geben. Ein Zufall führte zur Entdeckung einer GAH. Ein Computerfreak in der Verwaltung hatte aus Spaß zwei Bildunterschriften digitalisiert. Die Nutzer mussten einen Barcode in das Smartphone einlesen, dann erschien dort die Bildunterschrift. Das Ergebnis ist das gleiche: Auf dem Handy-Display erschien der Titel des Werks, der Maler, das Jahr der Entstehung. Und es geschah etwas, was kein Mensch für möglich gehalten hatte. Die Schüler waren geradezu hingerissen von den Bildunterschriften, aber nur wenn sie vorher den Text mit dem Barcode in ihr Handy eingescannt hatten – und sie lasen sie dort tatsächlich« (S. 23–25).

So wandern Vater Andreas und Sohn Leonardo also durch Rom: Sie steigen auf das Kapitol, erleben vibrierende Plätze und atemberaubende Aussichtsterrassen, besuchen den Petersplatz, den Petersdom, die Sixtinische Kapelle und die Vatikanischen Museen, Santa Maria Maggiore und Santa Prassede, besichtigen das Kolosseum, das Pantheon und das Kapitol. Überall entdecken sie faszinierende und verblüffende Geschichten hinter den Denkmälern, sie folgen den Spuren Gottes, der großen Liebe des Borgia-Papstes und den Ideen genialer Künstler, tauchen ein in die Welt kunstbeflissener und raffgieriger Päpste, öffnen lang verschlossene Gräber und entschlüsseln Botschaften hinter weltberühmten Fresken (es gibt zu seiner Auswahl aus den Mirabilia urbis Romae ein 15-seitiges Register). Nach und nach gelingt es dem Vater tatsächlich, das Interesse seines Sohnes für die Geheimnisse hinter den Mauern seiner Heimatstadt zu wecken, während umgekehrt Leo(nardo) seinem Vater zeigt, wie die jungen Römer heute mit den Relikten der Geschichte leben. Diese Kontrastierung – quasi der Generationenkonflikt zwischen Vater und Sohn –  macht den besonderen Reiz dieses Buches aus.

Der Autor versteht es, auf seine ganz besondere Art die Neugier zu wecken und im Dialog Dinge auf den Punkt zu bringen. Beispiel: Oma Martha und Santa Prassede. »Es ist die einzige Kirche Roms, die sich im Gewirr der Gassen rund um Santa Maria Maggiore regelrecht zu verstecken scheint – mit viel Erfolg. Nur eine unscheinbare Seitentür führt in die Kirche hinein. Aber es ist, wie durch Ali Babas Felsspalte in eine Schatztruhe zu gelangen. ,Nicht zu fassen’, staunte Leo. ,Ich weiß nicht, wie oft ich mit der Vespa über die Piazza Santa Maria Maggiore gefahren bin, aber dass hier so etwas verborgen sein könnte, hätte ich nie für möglich gehalten.’ – ,Deine Großmutter war glücklich hier.’ – ,Wieso eigentlich? Weil sie die Kirche selber entdeckt hatte?’ – ,Nein, die Kirche machte etwas Seltsames mit ihr. Sie entdeckte hier das eigentliche Geheimnis der Stadt Rom.’ – ,Und das wäre?’ – ,Sie kam nach einem Streifzug durch die Stadt, bei dem sie diese Kirche entdeckt hatte, nach Hause und stellte mich zur Rede. Sie hatte eine Frage.’ – ,Und was war das für eine Frage?’ - ,Wann hört es auf?’ – ,Was meinte sie? – ,Sie wollte wissen: Wann hört es auf, dass man in Rom ein Tor öffnet in einer Gasse, oder eine Treppe hinuntersteigt, die man fast übersehen hätte, und dann entdeckt man so sagenhafte Schätze wie Santa Prassede? Sie wollte wissen: Wann gibt es hier keine Überraschungen mehr?’ – ,Es hört nie auf. Ich lebe jetzt seit 31 Jahren in Rom, und heute bin ich mir dessen sicher, was ich damals meiner Mutter antwortete: dass es in dieser Stadt immer wieder einen Schatz zu entdecken gibt, mit dem man nicht gerechnet hat’« (S. 408). Diese Episode erinnert an eine bei R. Raffalt nachzulesenden Anekdote Papst Leos XIII., in der er einem Rombesucher gegenüber einräumt, auch nach 30 Jahren in Rom die Stadt noch nicht vollends zu kennen.

Einen anderen Kniff verwendet Andreas Englisch bei der Erschließung eines Kunstwerkes, Gebäudes oder archäologische Objektes, z.B. beim Fresko der Schule von Athen: »,Das ist es also’, stellte Leo lakonisch fest. ,Es gibt keinen Souvenirshop mit Postkarten, Handtaschen, Schals und Feuerzeugen, wo dieses Bild nicht zu sehen ist. Wieso eigentlich? Wieso ist dieses Bild so berühmt?’ – ,Um es zu verstehen, musst du dich wieder verwandeln.’ – ,Meinetwegen’, sagte er, ,und wer bin ich jetzt?’ – ,Du bist ein Kardinal aus der Provinz, du stammst aus einer weit entfernten Stadt, sagen wir, aus dem Norden Englands. Noch gibt es die anglikanische Kirche nicht, der Streit mit Heinrich VIII., der in der Abspaltung der Kirche von England endet, wird erst in ein paar Jahren geführt werden. Du bist also von weither gekommen und wartest jetzt im Arbeitszimmer des Papstes auf Julius II. und schaust dir das Fresko an. Was denkst du dann?’ – ,Keine Ahnung. Vielleicht denke ich: Ist ja ganz hübsch.’ – ,Aber nein, das denkst du nicht, du denkst etwas ganz anderes: Du bist außer dir vor Entsetzen. Der Papst, das Zentrum der Christenheit, hat sich einen Raum malen lassen, auf dem Heiden zu sehen sind, jede Menge Heiden. Du wirst dich fragen: Ist der Papst verrückt geworden? Statt sich mit den Bildern von Heiligen, Kirchenlehrern, mit Darstellungen von Christus, Petrus und Paulus zu umgeben, lässt der Papst auf eine prächtige Wand Heiden malen, die nicht getauft sind, sich nicht zu Christus bekennen, die weder wussten, was die Kommunion noch was ein Bischof ist. Dann kommt der Papst, Julius II. Er wird dich als Kardinal brüderlich empfangen, und dann wir er mit Heiterkeit dein Entsetzen über das Fresko bemerken. Was er dann tun wird, lässt dich sprachlos zurück. Das Bild gibt ihm die Gelegenheit, es dir zu erklären. Der Papst wird zunächst auf die beiden Männer in der Antike deuten: Aristoteles, der sein wichtigstes Werk, die Nikomachische Ethik, unter dem Arm hält, und auf Platon, der sein Dialogwerk Timaios trägt. Dich als Kardinal wird erschüttern, dass der Papst allein den Namen Aristoteles in den Mund nimmt. Du bist ein Hinterwäldler und dir ist suspekt, dass die Kirche auf die Lehren eines Heiden hören soll. Im Mittelalter wehrte sich die Kirche lange, die Bedeutung der antiken Philosophie zu erkennen’«. (S. 298f.) – Hier nun beschreibt und erklärt Andreas Englisch in Gestalt Julius II. das Wandfresko, ein Dutzend oder mehr Namen fallen, die Erläuterungen münden in die Erkenntnis, dass das Werk »das Antlitz einer neuen Zeit« ist: »,Hier fängt eine neue Epoche an. Hier kommen wir alle her. Wir werden anfangen, Fragen zu stellen und zu forschen, wir werden Medikamente entdecken und Seuchen wie die Pest und biblische Krankheiten wie Lepra besiegen, an denen die Menschen des Mittelalters elendig gestorben sind. Wir werden aufhören, die Errungenschaften der Antike als Teufelszeug anzusehen.’ – ,Moment mal’, widersprach Leo. ,Ich glaube, dass du doch verdammt optimistisch bist. Ich kenne jede Menge Leute, die haben keine Ahnung davon, dass sie mit diesem Fresko auch nur das Geringste zu tun haben. Die würden es für Schwachsinn halten, wenn du ihnen sagst, dass sie von da herkommen’« (S. 303). Dem Autor fällt es nicht schwer, seinem Sohn die revolutionäre Einsicht der »Schule von Athen« deutlich zu machen: »Dieses Fresko ist seiner Zeit so unendlich weit voraus, dass selbst ein halbes Jahrhundert danach hochgebildete Männer wie Vasari immer noch nicht wagten, den Gedanken zu denken, den dieses Bild erklärt« (S. 305).

Ob das nun alles so stattgefunden hat, oder nicht doch eher ein Kniff ist, um einen unterhaltsamen Kultur- und Reiseführer durch Rom zu schreiben, sei dahingestellt, an einigen Stellen mag man begründete Zweifel haben. Aber die Geschichten, die Andreas Englisch über »seine« Stadt Rom ausgräbt, sind unterhaltsam, lehrreich, teilweise ungewöhnlich und man findet sie nicht unbedingt in jedem Reiseführer. Es ist eine sehr persönlich gefärbte Sicht auf die Dinge, aber immer steht diese persönliche Sicht im Licht der historischen Ereignisse. In Rom, so scheint es, ist die Vergangenheit in der Gegenwart lebendig, aber die Römer, das ist wiederum sicher, nehmen dieses Geschenk als selbstverständlich hin. Ganz nebenbei verknüpft Andreas Englisch diesen persönlichen Reiseführer noch mit seiner Biografie, die in vielen amüsanten und interessanten Details untrennbar mit Rom verbunden ist. Eine Generation liegt zwischen seiner ersten Begegnung und heute und man ist erstaunt, wie sehr sich selbst die »Ewige« Stadt in dieser einen Generation verändert hat. Amüsant zu lesen auch die beiläufig erzählten Unterschiede in den touristischen Wegen nach Rom heute sowie vor dreißig und mehr Jahren, Unterschiede im Umfang des Budgets, der Verpflegung und der Übernachtungsmöglichkeiten; der Hinweis, dass Rombesucher den Nachtzug ab München Hauptbahnhof, »Abfahrt gegen halb neun« (S. 48), nahmen, weckt vielfältige Erinnerungen an das Ein- und Ausladen des Gepäcks durch die geöffneten Zugfester, an den Lokwechsel vor Mitternacht am Brenner, an die nächtlichen Stopps in Verona und Bologna und die wachsende Spannung und Vorfreude ab Orvieto; Rom war spätestens dann erreicht, wenn die Porta Maggiore zu sehen war.

Andreas Englisch, geboren 1963 in Werl, studierte in Hamburg Journalistik und Literaturwissenschaft. 1987 zog er für ein halbes Jahr nach Rom um dort Italienisch zu lernen, verlor sein Herz an die Stadt und blieb. Zehn Jahre leitete er das römische Korrespondentenbüro des Axel-Springer-Verlages. Seit 1995 begleitet er die Päpste manchmal bei ihren Flugreisen. Er stand in engem Kontakt zu Papst Johannes Paul II. und hat Benedikt XVI. auf vielen Reisen begleitet. Er ist Autor der Bestseller »Johannes Paul II.«, »Habemus Papam« und »Die Wunder der katholischen Kirche«. 

Das Buch endet mit Leos überraschender Bemerkung: »,Weißt du, was’, sagte er plötzlich, ,ich würde gern weitermachen mit dir ... Wie viel von Rom haben wir denn gesehen?’ – ,Einen kleinen Teil.’ – ,Dann lass uns doch weitermachen,’ – ,Das entscheiden nicht wir’, sagte ich ihm. ,Das entscheiden die, die dieses Buch lesen werden. Wenn es ihnen gefällt, dann machen wir weiter.’« (S. 457) – Andreas Englisch sollte schon mal mit dem Konzept für einen Folgeband beginnen!


Alexander Demandt: Marc Aurel. Der Kaiser und seine Welt.
Verlag C. H. Beck, München 2018, 2. Aufl. 2019. 592 S., 
44 Schwarzweißabbildungen und 18 farbige Abbildungen im Tafelteil, 3 Karten und 1 Stammbaum, 
Hardcover (in Leinen) mit Schutzumschlag, 32 €, 
ISBN 978-3-406-71874-8

cover kaiserundseinewelt

Den Philosophen auf dem Kaiserthron kennt selbst derjenige, der die »Selbstbetrachtungen«, das nach dem Tod des Kaisers im Frühjahr 180 im Legionslager vor Vindobona, dem späteren Wien, bei seinen Habseligkeiten gefundene Manuskript, nicht gelesen hat. Entweder aus  Ridley Scotts überaus erfolgreichem Monumentalfilm »Gladiator«, an dessen Beginn der greise Kaiser den Sieg über sehr wilde Germanen erringt. Oder von dessen berühmtem Reiterstandbild, dem Caballus in Rom, dem grande simbolo di Roma, das seit dem 21. April 1990 zunächst hinter Glas im Kapitolinischen Museum stand, ehe der Anbau im Konservatorenpalast fertig war, wo es heute steht. (Im österreichischen Tulln, am Ufer der Donau, steht übrigens seit dem Jahr 2001 eine freie Nachbildung der berühmten Reiterstatue von Michail Nogin). Oder von der Säule auf der Piazza Colonna mit ihrem spektakulären 245 m langen Bildprogramm. Oder vom monumentalen Bau der Porta Nigra in Trier, bei deren Ähnlichkeit mit dem Regensburger Nordtor des 179 erbauten Legionslagers, der Porta Praetoria, an denselben Architekten zu denken ist. Zu vernachlässigen ist hier, dass auch ein deutsches Modelabel den Namen des römischen Kaisers in Anspruch nimmt, das seit 1972 in Gütersloh zu Hause ist.

Zurück zu dem Namen, der eher für vorbildliche Herrschertugenden und philosophische Bildung steht (und der in den Zeiten der Aufklärung geradezu zum Modeautor aufstieg), weshalb sich gerne Staatsmänner auf ihn berufen haben; zu ihnen zählte auch Helmut Schmidt, dessen Gedenken (zu seinem 100. Geburtstag am 23.12.2018) Alexander Demandt seine Kaiserbiografie, gewidmet hat. »Keinen römischen Kaiser kennen wir so genau wie Marc Aurel. Dies beruht auf einer ungewöhnlich guten Quellenlage. Wir besitzen zwei verlässliche Lebensbeschreibungen, eine komplette lateinische und eine fragmentarische griechische, sowie einige Kurzviten. Singulär sind die Selbstzeugnisse des Kaisers: seine frühen Briefe und die philosophischen Tagebücher. Viele seiner Gesetze atmen seinen Geist. Hinzu kommen wie üblich die Münzen und Inschriften sowie die großen Monumente, die Reiterstatue und die Reliefs vom Ehrenbogen. Die vornehmste Quelle über Marc Aurel sind seine philosophischen Tagebücher. Sie sind griechisch geschrieben und tragen in den Manuskripten die Überschrift Markou Antoninou autokratoros ton eis heauton biblia XII, ›die zwölf an sich selbst gerichteten Bücher des Kaisers Marcus Antoninus‹« (S. 45f). 

Bücher haben ihre Geschichte, nicht nur die des Philosophenkaisers. Auch dieses fast 600 Seiten zählende Porträt Marc Aurels aus der Feder Alexander Demandts. Alexander Fest, damals Lektor bei Wolf Jobst Siedler in Berlin »hat mich zu dieser Biographie überredet«, schreibt Demandt in seinem Nachwort. »Am 10. Dezember 1992 erschien er bei mir in der Dahlemer 'Rostlaube' wo sich das Althistorische Institut der Freien Universität befand. Er lud mich ein zu einem Essen ins Chalet Suisse im Grunewald. Beim dritten Gang erfuhr ich, warum. Siedler wünsche nach meiner ›Endzeit?‹ (sc. Alexander Demandt: Endzeit? Die Zukunft der Geschichte, Siedler – Verlag 1993)  noch ein Buch aus meiner Feder, am liebsten über einen römischen Kaiser. Ich könne mir selbst einen aussuchen. Er lockte mit einem beträchtlichen Vorschuss. Ich benötigte Geld für den Dachschaden des Lindheimer Mollerschlösschens und ließ mich auf das Angebot ein. ... Am 15. Dezember 1992 wurde der Autorenvertrag geschlossen. Alexander Fest schrieb: ›Selten dürfte ein morsches Dach so angenehme Folgen für einen Verlag gehabt haben‹« (S. 435). – Jahre, gar Jahrzehnte verstrichen, Der Verlag C.H. Beck zeigte schließlich Interesse an dem Titel: »Er erlöste mich aus der Vertragspflicht gegenüber Siedler, nunmehr Random House. Am 24. Februar 2016 kam der neue Vertrag, nachdem ich am 2. Januar diu et noctu incumbendo die Arbeit aufgenommen hatte« (S. 436).

Der Band »Marc Aurel. Der Kaiser und seine Welt« liegt nun vor, bereits in der 2. Auflage. Es bereitet großes Vergnügen, in diesem Buch zu lesen, das so voller Informationen steckt, dass jede einzelne Seite einen Zuwachs an Wissen bringt.  Die Kritik ist denn auch voll des Lobs. 

»Der Philosoph auf dem Thron markiert die Epochenwende zum langsamen Abschmelzen des Reiches. Das machte es für den Berliner Althistoriker Demandt, der entscheidende Werke zur Spätantike und zum Untergang Roms verfasst hat, so zwingend, auch die Biografie dieses Schwellenkaisers zu schreiben. Den Plan dazu hegte er lange, 81-jährig hat er ihn jetzt verwirklicht, man kann es nur bewundern. Noch bewundernswerter ist die Anlage des Werkes, die auf jede naiv erzählerische Vergegenwärtigung verzichtet, wie sie heute wieder im Schwange ist, und stattdessen dem Leser die kritische Rekonstruktion eines solchen Lebens vorführt: nämlich direkt aus den Quellen. Mit der Spannung des munteren Drauflosschwadronierens kann ein solches Buch natürlich nicht dienen. An ihre Stelle tritt aber eine andere Spannung, die der eines Detektivromans ähnelt. Man sieht dem Historiker beim Ermitteln zu. ... Besser, interessanter und faszinierender lässt sich eine solche Biografie nicht schreiben. Der Gewinn, den man aus ihr zieht, einschließlich der schlüssigen Bebilderung und der umfassenden Quellenverweise in mehreren Tausend Anmerkungen, ist staunenswert. Seriosität kann glücklich machen. Schön, dass es Verlage wie C. H. Beck gibt, die an solchem Glück ein breiteres Publikum partizipieren lassen.« (Jens Jessen in der ZEIT, 13.12.2018) 

»Für die Antike und noch für den roi philosophe von Sanssouci lag in diesem Akt der Selbstüberwindung die eigentliche Leistung Marc Aurels. Demandt konstatiert dagegen kühl, der Kaiser sei ›eilig, aber verspätet‹ vor das belagerte Aquileia gezogen, woraufhin die Germanen mit ihrer Beute den Rückzug angetreten hätten. Auch bei der Schilderung der Kriegszüge und des Sterbelagers in Wien hält er rhetorisch den Ball flach, und die Beschreibung des Caballus, der Reiterstatue Marc Aurels auf dem Kapitol, überlässt er dem schwärmenden Hippolyte Taine. Dafür erzählt Demandt die Anekdote von Hitlers Rombesuch, bei dem Heinrich Hoffmann das Standbild so fotografierte, dass der Reiter die Rechte zum 'deutschen Gruß' zu recken schien. An anderer Stelle kommentiert er die Abschaffung des Asylschutzes vor Kaiserbildern durch Antoninus Pius, den Vorgänger des Marcus, für den heutigen Leser: ›Der Missbrauch des Asylrechts ist so alt wie dieses selbst.‹ Solche Seitenhiebe ins Parkett sind über das Buch verstreut wie Lichtpunkte in einem Gemälde. (Andreas Kilb in der FAZ, 31.8.2018).

Alexander Demandt nimmt seine Leser mit auf eine Zeitreise ins Innere einer Hochkultur, in die Ära ihrer größten Blüte: »Das Römische Reich, dessen Herrschaft Marc Aurel am 7. März 161 n. Chr. übernahm, war das größte und dauerhafteste Staatswesen, das Europa bis dahin gesehen hatte. Es umfasste Territorien – ganz oder teilweise – von dreißig modernen Staaten« (S 13). Es ist ein Vergnügen zu sehen, wie der Autor nach mehreren Forschungsaufenthalten, zahlreichen Seminarveranstaltungen und unter Mithilfe eines Heeres von Doktoranden noch einmal alle Register seines Könnens, Wissens und Schreibens  zieht. Seinen Stoff gliedert er in zehn Großkapitel, die jeweils wieder in bis zu 25 Abschnitte unterteilt sind: I. Das Imperium Romanum – II. Schriftquellen und Denkmäler – III. Jugend und Familie - IV. Die Parther und die Pest – V. Der erste Germanenkrieg – VI. Cassius und der zweite Germanenkrieg – VII. Recht und Verwaltung – VIII. Die Christenprozesse – IX. Lebensphilosophie – X. Tod und Nachleben. Auch der umfangreiche Anhang (439–592) hat seine Struktur: A.  Chronik – B.  Karten – C.  Stammtafel – D.  Bildnachweis – E.  Abkürzungen – F.  Literatur – G.  Register. 

Als Lehrkraft mit vollem Deputat kann man solch ein detailstrotzendes Buch nicht in einem Gang von vorne bis hinten lesen, aber man sollte damit unbedingt anfangen, egal an welcher Stelle, schon wegen der vielen interessanten Details (»Um den innerstädtischen Verkehr zu entlasten, verordnete Marcus Fußgängerzonen«; S. 298), der Querverbindungen, der Bezüge in die Gegenwart (»Ein Dauerproblem der Städte war – schon damals! – ihr Haushalt. Um die Verschuldung zu hemmen, hatte Trajan curatores als kaiserliche Finanzaufseher bestellt. Solche gab es auch unter Marc Aurel«; S. 299) und den zahlreichen unterrichtsrelevanten Aspekte; an Themen gibt es viele, z.B. der Abschnitt über Sklaven und Freigelassene (S. 38ff., 284ff.), den Caballus auf dem Kapitol und im Mittelalter (Pflichtlektüre für die nächste Romreise; S. 68 ff.), die Fachlehrer und Philosophielehrer der Stoa (117 ff.), den Redner Aelius Aristides (S. 164 ff.), das Parthermonument in Ephesus (S. 169 ff.), Galens Schriften und Militärärzte (S. 176 ff.), die Rekrutierung von Gladiatoren und Germanen (S. 201 ff.), der Herodes-Atticus-Prozess (S. 123 ff; 279ff) und ganz besonders die Kapitel VII: Recht und Verwaltung (S. 271–329), Kapitel VIII: Die Christenprozesse (S. 321–359) und IX: Lebensphilosophie (S. 361–399).

Wenn es jemanden gab, der Marc Aurel nicht schätzte und verehrte, dann waren es die Stiere, meint Joachim Käppner in der SZ, vor allem die weißen. So spottet ein Epigramm, das noch unter Julian zweihundert Jahre später Ammian (XXV 4,17) zitierte, über die Neigung des Kaisers, sie zahlreich den Göttern zu opfern, um für Hilfe gegen die Pest oder Invasoren zu danken: »Wir, die weißen Stiere, grüßen Marcus, den Cäsar! / Wenn Du noch einmal siegst, sind wir alle dahin« (S. 294).


Esch, Arnold: Historische Landschaften Italiens. Wanderungen zwischen Venedig und Syrakus, 
Verlag C. H. Beck München, 2018, 3. Auflage 2019. 368 S. mit 60 Abbildungen. Hardcover. 
ISBN 978-3-406-72565-4,29,95 €

Cover Esch Landschaften

Arnold Esch war von 1977–1988 Professor für Mittelalterliche Geschichte in Bern und von 1988 bis zu seiner Emeritierung 2001 Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom. Er forschte hauptsächlich zur italienischen Geschichte im 14. und 15. Jahrhundert. In dieser Phase kehrte das Papsttum von Avignon nach Rom zurück und in Italien entfaltete sich die Renaissance. Die Menschen jener Zeiten und die Landschaften und ihre Straßen haben es ihm – wie seine Veröffentlichungen durchgängig zeigen –  in besonderer Weise angetan. Bei Arnold Esch lernt man sehen. Er durchwanderte mit seiner Frau die fünf aus der Antike überkommenen Straßenzüge (Via Appia, Via Cassia, Via Flaminia, Via Salaria, Via Valeria). Diese persönlichen Erfahrungen waren die Grundlage für zahlreiche Einzelveröffentlichungen und wurden 1997 in einer Monographie veröffentlicht Römische Straßen in ihrer Landschaft. Das Nachleben antiker Straßen um Rom. Mit Hinweisen zur Begehung im Gelände (Philipp von Zabern, Mainz 1997). 2003 folgten Wege nach Rom. Annäherungen aus zehn Jahrhunderten (C.H. Beck, München 2003). 2008 erschien Landschaften der Frührenaissance. Auf Ausflug mit Pius II. (C.H. Beck, München 2008), 2010 Wahre Geschichten aus dem Mittelalter. Kleine Geschichten selbst erzählt in Schreiben an den Papst (C.H. Beck, München 2010), 2011 der Titel Zwischen Antike und Mittelalter. Der Verfall des römischen Straßensystems in Mittelitalien und die Via Amerina (C.H. Beck, München 2011 und 2016 das Buch Rom. Vom Mittelalter zur Renaissance. 1378–1484. (Beck, München 2016). Arnold Esch hat sich auf Spurensuche in die Archive begeben und die Lebenswelten mittelalterlicher Menschen freigelegt. In seinen elegant erzählten Miniaturen wird das Mittelalter einmal aus allernächster Nähe mit den Augen der Betroffenen betrachtet und gerade dadurch ungewöhnlich anschaulich. Andere Beobachtungen gehen auf jahrzehntelange eigene Forschungen und Wanderungen zurück, wenn er den Verfall des hochentwickelten römischen Straßensystems nach dem Ende des Römischen Reiches. Er erklärt, warum einzelne Strecken schon früh außer Gebrauch gerieten, während andere überdauerten. 

Das im vergangene Jahr bei Beck erschienene (und nun schon in 3. Auflage vorliegende) Buch Historische Landschaften Italiens. Wanderungen zwischen Venedig und Syrakus nimmt den Leser mit auf eine faszinierende Reise quer durch die vielfältigen Landschaften Italiens in oftmals unbekannte Gegenden. ... Die in diesem Buch versammelten Beschreibungen betrachten italienische Landschaft von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Auf verlassenen römischen Straßen, auf alten Pilgerpfaden, durch etruskische Schluchtwege und auf den Bahnen des Viehtriebs durchstreift der Autor sein Gelände. Die Ergebnisse historischer und archäologischer Forschung, die unterschiedliche Wahrnehmung italienischer Landschaft in der Malerei und in der Literatur werden in das Landschaftserlebnis einbezogen (Klappentext). 

»Die folgenden Beobachtungen ... wollen kein Reiseführer zu Landschaftsidyllen sein, sondern der Versuch, Natur und Geschichte – die in diesem Land beide ihre höchste Steigerung erfahren haben – in ihrem innigen Zusammenhang zu sehen. In einem ersten Teil erscheint italienische Landschaft im Durchgang durch die historische Zeit: Wandel des Landschaftsbildes und Wandel der Wahrnehmung von der Antike bis ins 20. Jahrhundert« (S. 9).  Hier nur eine kleine Auswahl der 21 Landschaftsbilder: I. Wie Ruinenlandschaft entsteht. Die letzten Bewohner von Ostia (S. 13ff.) – IV. Die Stadtlandschaft des mittelalterlichen Rom. Wandel und Auflösung des Siedlungsgewebes innerhalb der antiken Stadtmauern (S. 80 ff.) – V. Fremde Landschaft und vertraute Landschaft in Reiseberichten des späten Mittelalters (S. 96 ff.) – VII. Zur Identifizierung gemalter italienischer Landschaft des 18. und 19. Jahrhunderts (S 128 ff.) – VIII. Italien-Wahrnehmung im 19. Jahrhundert. Ferdinand Gregorovius, Wanderjahre in Italien (S. 151 ff.).

Ein zweiter Teil betrachtet italienische Landschaft in ihrer unvergleichlichen Vielfalt als historischen Raum. – XI. Im oberen Tibertal. Kulturlandschaft zwischen Toskana und Umbrien, Marken, Romagna (S. 204 ff.) – XV. Die Wasser des Aniene. Nero und der Hl. Benedikt in der Berglandschaft von Subiaco (S. 243 ff.) – XVII. Ummauerte Landschaft. Das Gelände von Syrakus als historischer Schauplatz (S. 262 ff.)

Teil drei beschreibt Antike in der Landschaft: römische Monumente, soweit sie vollkommen in der Landschaft aufgegangen sind. – XVIII. Landschaft mit römischer Straße (S. 275 ff.) – XIX. Archäologie aus dem Archiv. Antike Monumente in frühmittelalterlichen Grenzbeschreibungen um Rom (S. 290 ff.) – XX. Unausgegrabene Amphitheater als Bestandteil der Landschaft (S. 303 ff.) – XXI. Landschaft mit Aquädukten. Zwischen Tivoli und Palestrina (S. 318 ff.).

Ein Historiker, so meint man, habe es mit der Vergangenheit zu tun. Und diese sei, was in der Natur des Begriffs liege, stets etwas Abgeschlossenes. Arnold Esch nimmt den Weg über die Gegenwart und die Anschauung: Warum, so fragt er (S. 231 ff.) angesichts des Dorfes Mugnano im Tibertal, werden solche Siedlungen in Mittelitalien immer zu burgartigen Anlagen? Weil sich nach dem Ende des Römischen, dann des Karolingischen Reiches die ländliche Bevölkerung dahin flüchtete und dort bleiben musste, bis zur Etablierung eines staatlichen Gewaltmonopols. »Man kann diese Linie noch ein Stück weiter ausziehen, um sich den unübersehbaren Stillstand vieler dieser Höhensiedlungen zu erklären: ein solcher Ort wird im 19. Jahrhundert keinen Eisenbahnanschluss bekommen und darum auch keine Industrie, wird darum im Zweiten Weltkrieg nicht bombardiert und nach 1945 nicht moderner wiederaufgebaut werden.« Der Ort bleibt in seine Vergangenheit eingeschlossen, und weil dieses Schicksal vielen Dörfern und kleinen Städten in Italien widerfährt, »wird der Abstand immer größer« (S. 235f). »Diese castra hatten, in der Wahrnehmung des nördlichen Wanderers, bei aller Kleinheit nichts von einem Dorf an sich. So schienen ihm alle Siedlungen Städte, und entsprechend benennt er sie. ... Tatsächlich war Italien damals das am stärksten urbanisierte Land, ja man hat errechnet, dass es hier im Mittelalter zahlreiche Städte mit mehr als 10000 Einwohnern gab und somit mehr städtische Zentren dieser Kategorie als im ganzen restlichen Europa zusammen« (S. 236). Mittlerweile gebe es nicht einmal mehr die Maler, die dieser manchmal allzu gegenwärtigen Geschichte noch eine Ansicht abgewinnen könnten.

Zum vielfachen Schmunzeln brachte mich der Beitrag Nr. V. Ungewöhnlich und reizvoll schon der Blickwinkel: Fremde Landschaft und vertraute Landschaft in Reiseberichten des späten Mittelalters (S. 96 ff.). Esch fragt: "Wie beschreibt man Aussehen und Ausmaße fremder Länder aus reiner Anschauung ohne die ausgebildeten Begrifflichkeit moderner Länderkunde? Wie vermittelt man die Lage einer Stadt, die Breite eines Flusses, die Höhe eines Gebirges, ohne voraussetzen zu dürfen, dass für Grundinformationen, Daten, Rückfragen doch Atlanten, Länderkunden, Nachschlagewerke und das Internet zur Verfügung stehen? Wie kann man einem Leser, der den engsten Kreis seiner Heimat vielleicht noch nie verlassen hat, die Weite Asiens, die Lage von Jerusalem, das Geländerelief von Bethlehem, den Eindruck von der Gegend um Beirut ohne Rückgriff auf Kartenwerke und Bildbände vor Augen führen, buchstäblich 'vor Augen führen'?" (S. 96) 

Das Mittelalter bewältigt diese Probleme durch Vergleich; der Nil ist so breit wie der Rhein, der Jordan so schlammig wie der Po, der Don so breit wie die Seine; Jerusalem ist dem einen so groß wie Basel, dem anderen so groß wie Pistoia, einem dritten so groß wie Augsburg. "Dass Vergleiche so disparat ausfallen, liegt eben darin, dass sie in unterschieder Wirklichkeit verankert sind ... dem Florentiner dient seine S. Maria Novella dazu, die Größe der Geburtskirche in Bethlehem, einer Moschee in Kairo, oder von S. Maria Maggiore in Rom zu bestimmen. Es gibt nichts, wofür sich nicht eine heimatliche Entsprechung finden ließe - und so ziehen diese Reisenden eine breite Spur französischer, italienischer, deutscher Vergleiche quer durch den vorderen Orient. ... Sie vergleichen nicht nur verschieden, sie sehen schon verschieden" (S. 98). 

Pilger aus Regionen nördlich der Alpen sehen anders, weil ihr Auge anders erzogen, ihre Umgebung anders geprägt, ihr Interesse anders gerichtet ist: Dass die Mosaiksteine in der Geburtskirche zu Bethlehem 'so groß wie Bohnen' sind, würde einem Florentiner schwerlich in den Sinn kommen. Er braucht ja nur in seinem Baptisterium an die Decke zu schauen, und 'Bohne' war für ihn sowieso keine Kategorie. Oder: dass die Geißelsäule ›so dick wie ein ordentlicher Birnbaum‹ ist, wie ein Breslauer 1496 seinen Breslauern mitteilt, ist auch nicht gerade das, was einem Italiener einfällt, der in seinem Leben vermutlich mehr Säulen als Birnbäume sah. Der Nürnberger Pilger Hans Tucher überträgt seinen Nürnbergern die wichtigsten Stätten innerhalb der Grabeskirche auf die vertraute Stadtkirche St. Sebald: »Um Jesu Rock gewürfelt worden wäre in St. Sebald beim Sakramentshäuschen: die Dornenkrone aufgesetzt worden wäre ihm in St. Sebald zwischen Petersaltar und Stephansaltar, und gekreuzigt worden wäre er beim Dreikönigsportal mit Blickrichtung Schule. So wird Heilsgeschichte zu Hause abschreitbar« (S. 100).

Solche Perspektive nehmen allerdings nicht nur Pilger ein. Konrad von Querfurt beschreibt 1195 eine Beobachtung, die auch heute immer noch eine Anmerkung im Lateinunterricht wert ist: »er hatte sich den Rubikon viel ansehnlicher gedacht und muss nun enttäuscht seine Vorstellung redimensionieren: ›ein winziger (nicht Fluß, sondern) Bach‹, minimus non fluvius sed rivulus – nämlich nicht so breit, wie Caesars Entscheidungsschritt hätte erwarten lassen« (S. 104). »Ein vorzüglich geschriebenes, anschauungsreiches und wissenssattes Buch«, schreibt Rezensent Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung vom 5.3.2019. Dem stimme ich voll zu.


Eltje Böttcher, Lateinisch sprechen im Unterricht. Praktische Ansätze des »Latine loqui«,  
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht,  Göttingen 2018, 128 Seiten, ISBN: 978-3-525-70261-1, 15,99 €

Cover E Bittcher Latine loqui 600x600

Ulrike Bethlehem, Latine loqui: gehört – gesprochen – gelernt. 
Kopiervorlagen zur Grammatikeinführung,  
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht,  Göttingen 2. Aufl. 2017, 80 Seiten, 
ISBN: 978-3-525-71105-7, 15,99 €

Cover U.B. Latine loqui 600x600

Im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht sind zwei Bücher erschienen, die sich an Lateinlehrkräfte wenden, die »Latine loqui« zu verschiedenen didaktischen Zwecken in ihrem eigenen Unterricht einsetzen möchten oder die bereits erste Erfahrungen damit gemacht haben und die Methode weiter optimieren möchten. 

Ulrike Bethlehem nimmt in ihrer didaktisch-methodischen Einführung in gewisser Weise Maß an dem englischen Mönch Aelfric, dieser »präsentiert Lateinlernen als ein Frage- und Antwortspiel über alltägliche Beschäftigungen«. Die Vorstellung, Lateinreden sei »für manchen zunächst ungewohnt und respekteinflößend«, kontert sie mit dem Hinweis, dass schon Alfric vor mehr als tausend Jahren diesen Einwand gekannt haben muss, denn er beginnt seinen Dialog mit der Schülerbitte: »Nos pueri rogamus te, magister, ut doceas nos loqui latialiter recte, quia idiote sumus et corrupte loquimur« (S. 7). »Aber das Lernen wird danach ein ›Spaziergang‹ im wahrsten Sinn des Wortes. Die Befürchtung, auch die Schüler könnten hier an ihre Grenzen stoßen und sich zurückziehen, ist unbegründet,  denn hier geht es nicht um intellektuelle Leistbarkeit, sondern um das Anzapfen einer natürlichen Ressource: der angeborenen Prädisposition zum Spracherwerb. Und dieser unterbewusste, inhaltsbezogene Erwerb (acquisition) – das wissen wir heute aus der Psycholinguistik – schlägt das rein kognitive, formale Lernen (learning) in vielerlei Hinsicht: Es ist für jeden leistbar und wirkt nachhaltiger« (S. 7f). 

Die Autorin bietet dann zehn relevante Grammatikfelder mit praktikablen Arbeitsvorschlägen und nützlichen Kopiervorlagen an: 1. Die Formen von ›esse‹ – Kennenlernen, 2. Der Vokativ – Begrüßung, 3. Der Imperativ – Aufforderungen im Klassenzimmer, 4. Der Nominativ : Singular und Plural – Bildbeschreibung, 5. Der Akkusativ – Was sehe ich? 6. Der Akkusativ mit Präpositionen, 7. Der Ablativ mit Präpositionen, 8. Genitiv – Wessen Toga ist das? 9. Der Dativ? Was schenke ich wem? 10. Der AcI.  Die Materialien für die Grammatikfelder 5-10 sind naturgemäß umfangreicher, dazu gehören Sprechanlässe, Bildseiten (auf Folien zu kopieren), Tandembögen, Tandemkarten, Arbeitsblätter, Bildergeschichten, Gruppenkarten, Ausmalbilder, Kartensets. Zudem gibt es einen Link zu den Download-Materialien bei  https://www.v-r.de/latine-loqui. In den einzelnen Grammatikfelder folgt auf die Kurzbeschreibung der Ausgangslage und des jeweiligen Problemfeldes die dazu erforderliche Vorbereitung (z.B. Raum für Bewegung), das benötigte Material (z.B. Namensschilder, Bildfolien für OH-Projektor), sodann wird die jeweilige Aktion in einzelnen Schritten  vorgestellt. Es gibt meist auch Varianten sowie Kombinationsvorschläge zur Verknüpfung eines Grammatikphänomens mit einem bereits behandelten. Zwei Abschnitte über Wortschatzeinführung und Bildergeschichten runden das 80-Seiten-Heft mit Kopiervorlagen zur Grammatikeinführung ab.

Wie lernt man Sprache? – Durch Zuhören und Nachsprechen. In den modernen Sprachen ist das Prinzip des Vormachens und Nachmachens alltäglich. Das Material überträgt dieses bewährte Prinzip auf den Lateinunterricht. Es bietet neben einem Drehbuch zur Einführung der neuen Grammatik viele Kopiervorlagen mit Tandemkarten zur Wiederholung durch die Schüler.

Eltje Böttcher, Autorin des zweiten hier vorzustellenden Titels, steht für das erfolgreiche Projekt  »Latine Loqui in Schleswig-Holstein« (https://latineloqui.jimdo.com/) und referierte darüber kürzlich bei einer DAV-Fortbildungsveranstaltung an der HU Berlin. Sie präsentiert auf 130 Seiten »Praktische Ansätze des ›Latine loqui‹«, bei denen man in jeder Zeile spürt, wie sehr sie von ihren langjährigen Erfahrungen mit Schülerinnen und Schülern (und Lehrkräften) geprägt sind. In ihren Latine Loqui-Workshops lernen diese in der Immersionsmethode einfache Gespräche in lateinischer Sprache zu führen und Bildergeschichten zu erzählen. Auf diese Weise machen sie die Erfahrung, dass sie ihren passiven Wortschatz an gelernten Vokabeln aktiv in der Kommunikation anwenden und sich in der lateinischen Sprache verständigen können. Die Methode der Immersion, also des vollständigen Eintauchens in eine Fremdsprache, sei eine wissenschaftlich gut erforschte und sehr effektive Art des Spracherwerbs. Das Unterrichtsgespräch findet vollständig in der Fremdsprache statt, wobei eine verstärkte Mimik und Gestik das Sprachverständnis erleichtert. Neue Wendungen und Vokabeln werden durch Vorspielen oder an Bildern gezeigt, ohne sie zu übersetzen. 

Auf den ersten Seiten problematisiert sie das Verfahren, mit Latein wie mit einer modernen Fremdsprache umzugehen: »Problematisch ist beim Latine loqui also, dass die lateinischen Übungen die Schüler nicht auf eine mögliche echte Konfrontation mit einer realen Situation dieser Art vorbereiten, wie es moderne Sprechübungen tun. Die Situationen bleiben immer fühlbar abstrakt und konstruiert. Dies zeigt sich zum Beispiel bei der Wahl eines Einkaufssettings: Soll ein Verkaufsgespräch an einem Marktstand stattfinden, auf dem moderne Waren wie Tomaten, Limonade und Haarshampoo ausliegen? Oder schlendert man über ein antikes Forum, um eine neue Toga, einen Haussklaven oder einen Familienvorrat an leckerem Garum zu erwerben? Ganz gleich, für welche Szenerie man sich entscheidet, sie wird den Schülern so niemals in der Realität begegnen. ... Besondere Aufmerksamkeit verdient bei der Planung von Dialogsituationen also der jeweilige Sinn der Übung für die Schüler, der zweifelhafter ist als in neuen Sprachen, und auch die Schwierigkeit, einen solchen situativen Kontext schülernah zu erzeugen. Aufgaben sollten schließlich immer so konzipiert werden, dass sie einen direkt erfahrbaren Sachbezug und ein Erfolgserlebnis mit sich bringen« (S. 17). In einem zweiten größeren Abschnitt des Buches stellt die Autorin mögliche Lehrerrollen vor, denn sie kennt den Eindruck, dass die »erprobte, vielleicht bereits ›zur zweiten Haut‹ gewordene Lehrerrolle der ungewohnten Unterrichtssituation im Latine loqui oft nicht angemessen« ist (S. 24).

In einem weiteren großen Kapitel identifiziert die Autorin »Gelegenheiten zum Lateinsprechen im Unterricht«. Dazu zählt sie das freie Sprechen zu Stundenbeginn, das einmalige Event, die Wortschatzarbeit, das Konjugationstraining, das Deklinationstraining und spezielle lateinische Phänomene (wie AcI und Demonstrativpronomina). Zu allen Situationen gibt es Aufgaben »zum Ausprobieren« – allesamt Methoden, die den Lateinunterricht lebendig und attraktiv machen können. Eltje Böttcher bezieht sich dabei mehrfach auf Ulrike Bethlehem, sowohl mit ergänzenden Aufgaben (z.B. S. 59) als auch mit behutsamer Kritik (S. 103).

Nach einem Exkurs ›Latine loqui‹ bei der Arbeit mit lese-rechtschreib-schwachen Schülerinnen und Schülern (S. 63 ff.) geht es in dem Kapitel »Ohne Scheu losreden« um die Bedeutung der Lernatmosphäre, um Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung sowie um gut gemeinte Arbeitsschritte, die dennoch mit Frust auf beiden Seiten enden. Darauf folgen (S. 76–100) weitere Methoden (z.B. Nonsense-Dialoge, Status-Spiel mit Spielkarten, Componere lignum, Präpositio-nen-Parcours, Bildergeschichten, Wimmelbilder, Geschichtenerzählwürfel, Versipellis, Tabu – z.T. Abwandlungen bzw. lateinische Version von im Handel zu erwerbenden Spielen) und Einzelübungen (Planung eines Schulausflugs, Vater-und-Sohn-Geschichten, Personenraten) und Hinweise zum Umgang mit Fehlern: »Wie viel Korrektur ist nötig?« (S. 101 ff). Nach so viel Praxisbezug noch »Tricks zur eigenen Vorbereitung« (S. 115 ff.), »Tipps für die Materialsammlung« (S. 121 ff.) und ein Ausblick, dem vollauf zuzustimmen ist: »Wohin auch immer der Weg des Lateinunterrichts in den nächsten Jahrzehnten führen mag: Der Einsatz von aktivsprachlichen Elementen, selbstbewusst, reflektiert und klug angewendet, kann, wenn zwar nicht allein zu seiner Rettung, so doch sicher in nicht zu unterschätzendem Maße zu seiner Stärkung beitragen« (S. 127).

Schluchtwege und auf den Bahnen des Viehtriebs durchstreift der Autor sein Gelände. Die Ergebnisse historischer und archäologischer Forschung, die unterschiedliche Wahrnehmung italienischer Landschaft in der Malerei und in der Literatur werden in das Landschaftserlebnis einbezogen (Klappentext). 


Babrios, Fabeln. Griechisch-deutsch, herausgegeben und übersetzt von Niklas Holzberg, Sammlung Tusculum, 
Walther de Gruyter, Berlin-Boston, 2019, 
ISBN 978-3-11-062165-5, 230 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, Lesebändchen,  39,95 €

Cover Babrios Fabeln

Gestern brachte der Briefträger das in der Tusculum-Reihe erschienene schmale Fabelbändchen; heute saß ich den ganzen Nachmittag mit Babrios im Garten in der Sonne und mochte ihn nicht aus der Hand legen, bis ich die zwei Bücher Mythiamben, 144 kurze, längere und lange Fabeln, gelesen hatte. 

Babrios. Die erste griechische Sammlung von Fabeln in Gedichtform läuft unter dem Namen Babrios. Aussagen zu Leben und Werk sind mit vielen Problemen behaftet. Zum empirischen Autor lassen sich nur Vermutungen anstellen. Er lebte vielleicht im 1./2. Jh. n. Chr.  und war eventuell hellenisierter Römer,  der in Syrien am Hofe eines Königs Alexander als Erzieher des Königssohnes Branchos tätig war – allerdings ist dies den beiden Proömien entnommen. Das Werk selbst ist nur fragmentarisch erhalten. Zudem stellt sich die Frage, ob die in dieser Überlieferung gebotene alphabetische Anordnung und die Stellung des zweiten Proömiums vor dem Buchstaben M die ursprüngliche ist. Wichtig ist seine selbstbewusste Aussage, die Prosafabeln Aesops in seinen Choliamben honigsüß gestaltet zu haben (1 prol. 14ff.); er sei dabei der Erste gewesen und habe Nachahmer gefunden (2 prol. 9ff.). Schärfe fehlt seinen Fabeln bewusst; den Prologen entsprechend geben sie eher allgemeine Überlegungen über einen idealen Herrscher wieder; insgesamt lässt sich in den kunstvoll ausgestalteten Erzählungen eine deutliche Anlehnung an Kallimachos verzeichnen. Die Parallelen zu Phaedrus werden in der Regel durch gemeinsame Quellen erklärt. (Ursula Gärtner, Phaedrus. Ein Interpretationskommentar zum ersten Buch der Fabeln, Zetemata, C. H. Beck 2008) 

Hätte ich mit Niklas Holzbergs »Einführung« begonnen, wäre ich gleich im ersten Satz auf die Schlüsselbegriffe »Erzähltalent« und »skurriler Witz« gestoßen: »In der gesamten Weltliteratur dürfte es keinen Autor von hohem künstlerischen Rang geben, der von der zuständigen Wissenschaft, in diesem Falle der Gräzistik, so hartnäckig vernachlässigt (ja im Grunde ignoriert) wurde wie der besonders durch sein Erzähltalent und seinen skurrilen Witz faszinierende Fabeldichter Babrios. Immerhin lassen sich ›entlastende‹ Erklärungen finden: Seine beiden in der frühen römischen Kaiserzeit entstandenen Gedichtbücher wurden erst 1842 in einer mittelalterlichen Handschrift, die in einem Kloster (auf dem Berg Athos) verborgen war, entdeckt und 1844 veröffentlicht, und diese ist defekt: Sie enthält einen an vielen Stellen nicht vertrauenswürdigen Text und es fehlt darin die zweite Hälfte von Buch 2« (S. 9). Wie chaotisch die Babrios-Überlieferung verläuft, zeigt Niklas Holzberg kenntnisreich; so kaufte 1893 »der niederländische Marineoffizier H. van Assendelft in Palmyra von einem Araber sieben Wachstäfelchen, die, im 3. Jahrhundert n. Chr. offensichtlich von der Hand eines Schuljungen beschrieben« mehrere bis dahin »allein durch Prosaparaphrasen bekannte Babrios-Fabeln enthalten, z.T. freilich nur in Bruchstücken« (S. 11). 

Eine andere große textkritische Schwierigkeit liegt in der Frage, »ob die in den Texten überlieferten Passagen, in denen der Fabelerzähler aus einer Geschichte eine Lehre entwickelt, von Babrios stammen oder von der Zeit an, als seine Sammlung zum Schultext wurde, hinzugefügt wurden« (S. 13). Ein weiteres Problem stellt die kunstvolle Strukturierung der beiden Versfabelbücher dar (S. 19ff), die Holzberg nur andeutet. In einem weiteren Abschnitt der »Einführung« geht der Autor der Frage nach, »was wir über ihn (sc. Babrios) als realen Autor wissen« (S. 24) und in welchem Verhältnis er zu anderen Fabelbüchern und Sammlungen steht. Spannend zu lesen ist, was Niklas Holzberg als Spezifika in Stil und Erzählduktus des »fabulierfreudigen Autors der Mythiamben« herausarbeitet: »Innovativ ist an den Fabeln des Babrios nicht, dass er sich in die Nachfolge des Kallimachos stellt – das kann man für Phaedrus ebenfalls zeigen – sondern das Streben nach Präsentation der narrativen Texte als poetische Kunstwerke. Ein solches lässt der römische Verfasser von Versfabeln in vergleichbarer Intensität nicht erkennen, zumal er immer wieder brevitas (Kürze) als ein wichtiges Charakteristikum seines Stils nennt. Gewiss, Babrios schreibt die hellenische Koine der Kaiserzeit und erreicht damit, auch wenn dieses aus dem Attischen entwickelte Griechisch bei ihm eine leichte ionische Färbung aufweist und damit das Bemühen um einen eigenen poetischen Stil verrät, kein so hohes ästhetisches Niveau wie die Dichtersprachen in der archaischen, klassischen und hellenistischen Epoche. Aber er erweitert seinen Wortschatz nach Kräften durch Lexeme, die er sich bei mehreren älteren Vertretern verschiedener poetischer Gattungen borgt. Besonders auffällig sind zahlreiche homerische Wörter und Wendungen, und solche setzt er offenkundig in parodistischer Absicht ein: Es wirkt komisch, wenn von einfachen Leuten, Tieren und Gegenständen sowie von den in das Fabeluniversum integrierten Unsterblichen wie von den Göttern und Helden der Ilias und Odyssee erzählt wird oder die Fabelfiguren wie diese reden« (S. 39f). 

Besonders amüsant zu lesen ist das Kapitel »Nachgeahmt, adaptiert und gefälscht – von der Antike bis ins 19. Jahrhundert,« wo Holzberg vergnüglich erzählt, wie aus einer Babrios-Fabel (vom Krebs und seiner Mutter) eine Avian-Fabel (um 400) wird: »Wie man sieht wurde aus dem erfrischen kecken Krebs junior ein altkluger Musterschüler, der eine Oberlehrerin belehrt – man fühlt sich an die Situation erinnert, in der jemand betulich einen Witz länger nacherzählt, als er ist, um ihn zu erklären ...« (S. 42). Als einen »Rezeptionskrimi« (S. 45) der besonderen Art bezeichnet Niklas Holzberg die verschlungenen Wege eines 1857 an das Britische Museum und eines weiteren 1898 an die Bibliothèque Nationale in Paris verkauften gefälschten Kodex – dieser wurde erst 1977 und 1981 als fake erkannt.

Die Prosafassung (»unsere Sprache eignet sich nicht für den Hinkiambus und die Fabulierfreude des Babrios sollte so wörtlich wie möglich wiedergegeben werden«; S. 46) der griechischen Verse, übersetzt von Niklas Holzberg, liest sich ausgesprochen gut. Eine Reihe von Szenen kam mir bekannt vor, weil sie von Vorgängern stammen oder von nachfolgenden Fabeldichtern aufgegriffen und modifiziert wurden. Die Textanfänge üben auf den Leser immer noch und wieder einen großen Reiz aus, weiterzublättern geht nicht, man muss weiterlesen (alle Textbeispiele in der neuen Prosa-Übersetzung von Niklas Holzberg):

Buch 1, 39
Die Delphine lagen ständig im Streit mit den Walen, An die trat ein Krebs heran, um zu vermitteln, ...

Buch 1, 77
Der Rabe stand da, mit dem Mund auf einen Käse beißend. Den Käse aber begehrte der listige Fuchs, ...

Buch 2, 115
Die faule Schildkröte sagte einmal zu den Tauchern im Sumpf, den Möwen und den wilden Seeschwalben: ›Wenn doch auch mich jemand geflügelt machte!‹ ...

Eine sehr reizvolle Sache ist das häufige »Fehlen« eines Pro- oder Epimythions zugunsten der Bevorzugung der poetischen Ausschmückung.  Das führt dazu, dass man als Leser mit schulischem Blickwinkel bisweilen grübelt, worin denn in den unterhaltsamen Episoden die ›Moral von der Geschichte‹ liegen könnte; oder wie eine Überschrift lauten müsste.

Buch 1, 29
Ein altes Pferd wurde einmal in eine Mühle verkauft und musste, an die Mühle gebunden, den ganzen Abend mahlen. Und stöhnend sprach es: ›Von welchen Rennen kommend drehe ich mich um welche Wendepunkte für Gerstenmehl!‹

Buch 1, 25
Die Hasen fassten den Beschluss, nicht mehr zu leben, sondern alle in das schwarze Wasser eines Teiches zu fallen, weil sie das schwächste unter den Tieren seien und mutlos im Herzen, und weil sie sich nur aufs Fliehen verstünden. Als sie sich aber nahe einem breiten Teich befanden und einen Haufen Frösche am Ufer sahen, die mit gebeugten Knien in den tiefen Schlamm sprangen, machten sie Halt, und einer fasste sich ein Herz und sagte: ›Lasst uns zurückkehren. Es ist nicht mehr nötig zu sterben: denn ich sehe andere, die schwächer sind als wir:‹

Buch 1, 105
Der Wolf nahm einmal mitten aus der Herde ein Lamm weg und wollte es nach Hause bringen. Dem begegnete der Löwe und entriss es ihm. Und der Wolf blieb entfernt von ihm stehen und schrie: ›Unrechtmäßig hast du mir das Meine weggenommen.‹ Der Löwe war amüsiert und sagte, den Wolf verspottend: ›Dir wurde es wohl rechtmäßig von Freunden geschenkt?‹

Buch 1, 109
›Geh nicht krumm‹, sprach zum Krebs seine Mutter, ›und über den nassen Felsen schleppe nicht seitwärts die Glieder‹ Der aber sagte: ›Mutter und Lehrerin, erst gehe du gerade, und wenn ich es sehe, will auch ich es tun.‹

Es fällt schwer, nicht noch ein Dutzend weiterer Fabeln ihrer brevitas und ihrer Skurrilität wegen zu notieren. 140 weitere gibt es noch in der neuen Babriosausgabe zu lesen!


Celsus und die antike Wissenschaft. Lateinisch – Griechisch – Deutsch, 
herausgegeben und übersetzt von Werner Albert Golder, 
Sammlung Tusculum, Berlin: De Gruyter, 2018, 911 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, Lesebändchen, 
ISBN 978-3-11-044165-9, € 79.95

 

Sisto, tibi, amice Lector, A. CORN. CELSUM, authorem latinissimum, medicum sapientissimum , prudentissimumque.

Ich überreiche Dir, lieber Leser, A. Cornelius Celsus, den lateinischten Autor, den weisesten Arzt und den Klügsten.

(Dedicatio des Theodorus Janssonius van Almeloveen, eines niederländischen Arztes und Philologen, 1657–1712) (vgl. S. 721 und 837)

»Texte zur antiken Medizin« empfiehlt Dietmar Schmitz in seinem Aufsatz »Plädoyer für die Lektüre von römischen Fachschriftstellern. Illustriert am Beispiel des Themas: Kunst und Ethos des Arztes. Texte zur antiken Medizin unter besonderer Berücksichtigung von Celsus: De Medicina« im Forum Classicum 2002, H. 3, S. 186–192. Er nennt dazu zwei Schulausgaben, die mittlerweile doch etwas in die Jahre gekommen sind. Aus dem Vollen schöpfen kann man neuerdings mit einer richtig starken Ausgabe in der Reihe Sammlung Tusculum. Auf über 900 Seiten sind ganz zentrale lateinische (und griechische) Texte zu finden. 

Der Übersetzer und Herausgeber ist freilich realistisch genug: »Bei aller Anerkennung für seine schriftstellerische Leistung ist Aulus Cornelius Celsus keine Leitfigur der lateinischen Literatur. Er gehört keinem Kanon an, er hat keine Tradition begründet. Auch in der Blütezeit der Klassischen Philologie hat man ihn an den Schulen nicht gelesen. Selbst in akademischen Veranstaltungen ist er nur selten thematisiert worden. ... Die einzige wahre Chance, Celsus selbst zu entdecken bzw. künftigen Liebhabern nahezubringen, ist die Auswahllektüre. So gelangt man am schnellsten an die vielen kleinen literarischen Juwelen und medizinhistorischen Fundstücke heran, die in dem Werk verborgen sind. Die Annäherung über den Weg der Anthologie ist auch nicht neu: Auswahlbände zu Celsus sind bereits im 19. und 20. Jahrhundert veröffentlicht worden« (S.767). Eine vollständige zweisprachige Ausgabe von Celsus De medicina gibt es bei der WBG, herausgegeben von Martin Hose, eingel., übers. und komm. von Thomas Lederer. 2016. 3 Bde. Zus. 792 S. mit Bibliographie.

Es versteht sich von selbst, dass der Band – und hätte er nur 100 Seiten – nicht voll umfänglich Gegenstand schulischen Unterrichts sein kann, wenngleich mir bei der Lektüre etliche Passagen untergekommen sind, die mir aus neueren Latein-Lehrbüchern bekannt waren, etwa »Die Ratschläge für eine gesunde Lebensführung. Sportlich, aber nicht athletisch; Celsus De medicina I 1,1–3«(S. 155 f) oder »Die Ratschläge für die Privilegierten« von Celsus und Plinius dem Jüngeren (S. 157ff). In diesem Sammelband finden sich auch viele knappe Auszüge aus einschlägigen Texten römischer Autoren zu medizinischen Themen, so geht es beispielsweise um vegetarische Ernährung (Seneca Epistulae morales 108.20–22; vgl. S. 65), um die Wahl von Wohnungen und ihre Konsequenzen für die Behandlung einer Reihe von Erkrankungen (Vitruv De architectura I 6,3; S. 63), es geht um Ärzte, die mit dem Leben ihrer Patienten Geschäfte machten (Plinius maior Naturalis Historia XXIX 5.10–11 und XXIX 8.22–23, 27; S. 67f), und um solche, die mit Vergünstigungen und Auszeichnungen überhäuft wurden (Horaz Epistulae I 15.1–5; S. 57ff.).

Der Herausgeber dieses Buches, Werner Albert Golder, konstatiert: Des Celsus Werk bildet eine unerschöpfliche Fundgrube für jeden, der sich mit der Medizin der Antike auseinandersetzt; nicht zuletzt auch deshalb, da Celsus die historische Entwicklung der griechischen Medizin in der Vorrede seines Werkes skizziert (S. 76 ff.). Der Herausgeber ordnet in seiner Einführung, Celsus in die Medizin der frühen römischen Kaiserzeit und die griechische und römische Medizingeschichtsschreibung ein (S. 768), zudem kommentiert und würdigt er die zu den einzelnen Themen versammelten Textstellen in knapper Form, meist jeweils ein halbes Dutzend. 

Bewunderer und begeisterte Leser fand Celsus (einige Stimmen sammelt Werner Albert Golder unter der Rubrik »Nur Superlative« (S. 719 ff) zu vielen Zeiten: 

Ex quo antiquos Artis nostrae scriptores lectitare coepi, (coepi autem, ut primum nomen meum inter medicinae studiosos professus sum) praeter HIPPOCRATICEM & ARETAEUM, maxime in deliciis habui A. CORNELIUM CELSUM, idque non magis propter stili elegantiam, quam quod permulta utilia ex eo didici.

Seitdem ich die antiken Autoren unserer Disziplin zu lesen begonnen habe – und das war, nachdem ich mich zum ersten Mal für das Studium der Medizin eingeschrieben hatte – habe ich außer Hippokrates und Aretaios am meisten den A. Cornelius Celsus geschätzt, und zwar ebenso wegen seines gepflegten Schreibstils wie weil ich sehr viel Nützliches von ihm gelernt habe.

(Johann Friedrich Clossius, Arzt und ein poetisches Talent, geb. 1735 in Marbach, gest. 1787 in Hanau, der das erste Buch des Celsus gar in Verse goss, um dem wissenschaftlichen Nachwuchs Gedächtnishilfe zu leisten,  S. 721 ff. und 837)

Die Renaissance nannte ihn den »medicorum Cicero«, sogar den »Gott unter den Ärzten« (S. 719). Er war der erste, der zahlreiche medizinische Ausdrücke aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzte. Celsus’ Werk war die erste klassische medizinische Abhandlung, die, nach ihrer Wiederentdeckung 1426 durch Papst Nikolaus V., gedruckt wurde – und gleich eine Sensation auslöste. Erst 1483 folgten im Druck lateinische Übersetzungen von Texten des Hippokrates und Galen. Der Celsus Peak, ein rund 1350 m hoher Berg im westantarktischen Palmer-Archipel,  trägt seinen Namen.

Zweifellos ist Aulus Cornelius Celsus (um 30 n. Chr.) die Galionsfigur der lateinischen Medizinschriftstellerei, das wichtigste Bindeglied zwischen Hippokrates und Galen. In seinen acht Büchern De medicina befasst sich Celsus als Enzyklopädist mit nahezu allen Teilgebieten der antiken Medizin, und dies auf fachlich und sprachlich hohem Niveau, und erschließt die griechischen medizinischen Autoren den römischen Lesern. So konnte Celsus wohl eine Bedarfslücke schließen, hatte sich doch zum Zeitpunkt der Entstehung des Werkes die Zusammensetzung des Ärztestandes verändert. Denn mit einem zunehmenden Anteil freigeborener Römer unter den Ärzten (Cato hatte nicht nur für die griechischen Philosophen Verachtung gezeigt, sondern auch die in Rom praktizierenden Ärzte argwöhnisch betrachtet, vgl. Plutarch Cato maior 23; S. 51) drang das Lateinische immer mehr in die bis dahin griechisch-sprachig dominierte wissenschaftliche Medizin vor. Wenngleich in den gebildeten Schichten des Römischen Reiches Zweisprachigkeit (griechisch/lateinisch) vorherrschte, so mag es doch für viele Mediziner angenehmer gewesen sein, in der Muttersprache zu lesen und zu kommunizieren. 

Die vorliegende Auswahl enthält die Proömien, die wichtigsten Passagen aus der Darstellung der theoretischen und klinischen Fächer, die originellsten Fallbeschreibungen und außerdem die wesentlichen Beiträge des Werkes zur Terminologie und Ethik in der Medizin. Für die Diskussion der Quellen und der Rezeption in Antike und Mittelalter werden zahlreiche Originaltexte präsentiert. Der Schlussteil enthält die Fragmente der verlorenen nicht-medizinischen Teile (Landwirtschaft, Militärwesen, Rhetorik, Philosophie) des Opus Celsi. »An den nicht wenigen Stellen, wo es der Verständlichkeit und Klarheit zu dienen schien, wurden Begriffe der modernen medizinischen Fachsprache verwendet«, vermerkt der Übersetzer. Der tabellarische Anhang (S. 853–911) enthält das Verzeichnis der für den Band ausgewählten Stellen, das Gesamtverzeichnis der Parallelstellen zwischen dem Corpus Celsi und dem Corpus Hippocraticum, eine in drei Abschnitte (Anatomie, Pathologie, Therapie) gegliederte Liste griechisch-lateinischer Begriffspaare sowie ein Namens- und Sachregister.

Beeindruckende Textpassagen gibt es in diesem Buch viele, etwa die folgende (S. 749), überschrieben »Große Geister, kleine Geister und der ärztliche Kunstfehler«, Celsus De medicina VIII 4.3–4. 

Der Verfasser verwendet das Eingeständnis des Hippokrates, einen folgenschweren Fehler gemacht zu haben, zu einem eindrucksvollen Plädoyer für wissenschaftliche Integrität.

»Dringt man mit einer Sonde bis auf den Knochen vor und wirkt dort alles glatt, so darf man davon ausgehen, dass er intakt ist. Findet man aber eine raue Stelle, und zwar vor allem da, wo es keine Nähte gibt, so weist dies auf einen Bruch des Knochens hin. Hippokrates hat berichtet, dass er sich von den Schädelnähten habe täuschen lassen, ganz nach der Art der großen Männer, die sich auf ihre großen Leistungen berufen können. Kleingeister können sich ja nichts von ihrem Ansehen entziehen, da sie ohnehin keines haben. Großen und bedeutenden Menschen geziemt auch das offene Eingeständnis eines tatsächlichen Irrtums, weil sie trotzdem einen hohen Grad an Berühmtheit behalten, und zwar besonders in der Wissenschaft, welche wegen ihrer Nützlichkeit an die Nachkommen weitergegeben wird, damit niemand der gleichen Täuschung erliegt, von der vorher schon ein anderer betroffen war. Übrigens hat mich zu dieser Bemerkung gerade die Erinnerung an den großen Lehrer veranlasst.«


Ailianos, Vermischte Forschung. Griechisch und Deutsch. 
Übersetzt und herausgegeben von Kai Brodersen, Sammlung Tusculum, Berlin: De Gruyter 2017. 
448 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, Lesebändchen 
ISBN 978-3-11-057638-2, € 59.95

Cover Ailianos Forschung

Lesen Sie die Tageszeitung von vorne, beginnend mit der Großen Politik, oder von der letzten Seite her, die Panorama, Weltspiegel oder Vermischten Nachrichten überschrieben ist? Ein Sammler solcher Texte für die letzte Zeitungsseite, »Bunter Geschichte« (griechisch Ποικίλη ἱστορία, lateinisch Varia historia, deutsch Vermischte Forschung) in 14 Büchern, mit Anekdotischem über Merkwürdigkeiten aus dem Reich der Natur und aus der Geschichte berühmter Völker und Männer war der römische Sophist und Redelehrer Ailianos, um 170 in Praeneste, dem heutigen Palestrina in Latium geboren. Er schrieb allerdings in griechischer Sprache und wurde wegen seiner glänzenden Beherrschung des attischen Griechisch schon von Zeitgenossen im 3. Jahrhundert n. Chr. als »Honigzunge« gepriesen wurde. Kai Brodersen hat neben den Tiergeschichten (vgl. LGBB 2018, Heft 4, S. 248–250) auch die Vermischte Forschung neu übersetzt und in der Sammlung Tusculum herausgegeben. Von Wilamowitz-Moellendorff hat 1905 in seiner Gesamtdarstellung der griechischen Literatur des Altertums die »Journalisten« unter den antiken Autoren, auch Ailian, heftig kritisiert: Sie »verschneiden den alten schweren Stoff, den die Gelehrten mit saurer Arbeit einst gewoben hatten, zu den Läppchen ihrer Essays und Artikelchen ...« (S. 7). Kai Brodersen betont, man habe inzwischen gesehen, dass dieser Autorengruppe einige Bedeutung bei der Vermittlung antiker Texte zukomme; ihre Sammlungen seien immer wieder abgeschrieben worden und so verdankten wir ihnen die Überlieferung sonst nicht erhaltener literarischer Zitate und historischer Nachrichten.

1545 erschien in Rom die erste Druckausgabe des Originaltexts, es folgten bald Übersetzungen ins Italienische und Englische, später auch ins Deutsche. »Das gute Griechisch des Werkes führte dann auch dazu, dass Ailianos’ Vermischte Forschung zur Schullektüre avancierte. So brachte der seinerzeit als Lehrer am Luther-Gymnasium in Halle wirkende Wilhelm Lange (1767–1831) 1797 eine Schulausgabe unter dem Titel Griechisches Lesebuch heraus, enthaltend die interessantesten Erzählungen aus Aelians vierzehn Büchern der Vermischten Geschichte mit grammatischen und anderen Anmerkungen und einem vollständigen Wortregister« (S. 25).

Welcher König war in einen Baum verliebt (2.14)? Wer hat die Königsherrschaft als »ehrenvolle Sklaverei« bezeichnet (2.20)? Wo dürften Frauen keinen Wein trinken (2.38)? Gab es eine antike Utopia (3.18)? Wo badete man nur dreimal im Leben (4.1)? Wo kam Faulheit vor Gericht (4.1)? Wo stand Kunst, die ihren Gegenstand hässlicher erscheinen ließ, als er war, unter Strafe (4.4)? Wer war der erste »Trainspotter« (4.25)?  Wer hat das Katapult erfunden (6.12)? Welcher Tyrann wurde nach seinem Sturz Grundschullehrer (6.12)? Wo galt ein Leben ohne Musik als Strafe (7.15)? Warum erweisen einen gefärbte Haare als Lügner (7.20)? Wer stellte Grabsteine für Haustiere auf (8.4)? Wo ist erstmals eine Brieftaube belegt (9.2)? Wer beriet sich mit einem in Honig eingelegten Kopf (12.8)? Gab es in der Antike so etwas wie den »Fluch der Pharaonen« (13.3)? Wer war das Aschenputtel des Altertums (13.33)? Wie vertrieb sich ein Perserkönig, der Analphabet war, auf langen Reisen die Zeit (14.12)? Wenn Sie Antworten auf derart vermischte Fragen suchen, dann lesen Sie – so die Empfehlung des Übersetzers Kai Brodersen – die Vermischte Forschung des Ailianos!

Mir gefällt am besten die folgende Geschichte über Annikeris aus Kyrene (die auch Diogenes Laertios 3.20 erzählt; ich habe sie vor Jahrzehnten bei einer Abiturrede vorgetragen): Dieser »war stolz auf seine Erfolge im Pferderennen und Wagenlenken. Nun wollte er auch einmal Platon seine Kunst vorführen. Er spannte also den Wagen an und fuhr in der Akademie (im Hain des Akademos) zahllose Runden. Dabei hielt er den Pfad der Bahn so genau ein, dass er seinen Radspuren immer wieder genau folgte und nie davon abkam. Alle anderen waren erwartungsgemäß erstaunt, Platon aber tadelte seinen übertriebenen Ehrgeiz und sagte: ›Unmöglich ist, dass einer, der so viel Sorgfalt auf solch eine unnütze Kleinigkeit verwendet, sich um irgendwelche bedeutenden Dinge kümmert. Sein ganzes Denken ist ja auf jene Nichtigkeiten gerichtet, und so muss er notgedrungen das vernachlässigen, was wirklich Bewunderung verdient‹« (S. 91).