Das Solon-Kroisos-Gespräch, Kroisos’ Atys-Traum und die Orakelsprüche
Einleitung
Im Vergleich mit Thukydides wird Herodot oft die Tiefe einer methodisch durchdrungenen Geschichtsschreibung abgesprochen. Herodot sei eher der begnadete, ja geniale Erzähler. Um seine Erzählungen mit Spannung zu versehen, habe er dem Evozieren dieser vieles, um nicht zu sagen alles Andere – selbst eine konzeptionelle Konsistenz und Stringenz in der Analyse der Ursachen für das historische Geschehen – untergeordnet.1 Es kann angesichts dieses Urteils kaum verwundern, dass Herodots Menschenbild, gerade weil er sich mythischer Erzählstrukturen bedient, insofern unter diese die archaische Verwobenheit von menschlichem und göttlichem Handeln gerechnet wird, im Vergleich mit einer an historischen Fakten orientierten Geschichtsschreibung späterer Historiographen als naiver, mythisch oder archaisch beurteilt wird.2 Und betrachtet man Herodots Erzählungen, so scheint ihm ja tatsächlich ein Glaube an Wunder und an metaphysische Kräfte nicht absprechbar zu sein.
Dieses Welt- und Menschenbild Herodots soll also nach verbreiteter Meinung eines seiner zentralen Charakteristika darin finden, dass das menschliche Handeln Eingriffen des Göttlichen ausgesetzt ist. Vielfach wird dem Menschen bei Herodot damit die Verantwortung für sein eigenes Entscheiden und Handeln abgesprochen, zumindest aber soll diese Verantwortung eingeschränkt sein. Zu oft erachte Herodot in seinen Erzählungen den Menschen den göttlichen Kräften noch völlig machtlos ausgesetzt.3 Die Menschen scheinen ein Spielball für die Götter zu sein und ihrem Wirken keinen eigenen, selbstbestimmten Willen entgegensetzen zu können.
Ganz so einfach, wie dieses pauschale Urteil den Anschein erweckt, ist es allerdings nicht. So gibt es mittlerweile auch eine Fülle von Studien, die analysieren, wie Herodot zumindest in einzelnen seiner Erzählungen den Menschen durchaus verantwortlich für sein Handeln gezeigt hat.4Hinzu kommen Positionen, die Herodots Werk nicht nur unter Einfluss des archaisch-mythischen Denkens sehen, sondern auch von Zügen des sophistischen Denkens durchwoben, das sie – etwa anders als Gadamer5 und andere – als ,aufgeklärtes‘ Denken des 5. Jhdts. betrachten. In den Deutungen hat dies vielfach zur Konsequenz, dass man meint, Herodots Geschichtswerk präsentiere die archaischen und sophistischen Einflüsse – also zum einen das Wirken der Götter, das menschliches Handeln determiniert, und zum anderen die Verantwortung der Menschen – summarisch nebeneinander.6 Summarisch nebeneinander wird
beides aber betrachtet, weil sich göttliches Wirken auf den Menschen und menschliche Selbstbestimmtheit im aufgeklärten Denken der Sophistik auszuschließen scheinen. Rengakos spricht angesichts dieses Befunds konsequent von „dem rational nicht auflösbaren Ineinandergreifen göttlicher und menschlicher Motivation“,7 die wir in Herodots Werk finden. Auch diesem Urteil zufolge bleibt Herodot damit ein Autor, der durch die ,noch nicht‘ aufgeklärten Züge, die sein Geschichtswerk aufweist, in gewisser Hinsicht mythisch und archaisch von dem Geschehenen berichtet. Wenn man seine Art der Geschichtsschreibung dennoch ins Positive wenden möchte, so bleibt also u. a. übrig, ihn wegen seiner großen Erzählkunst zu loben. Der Spannung seiner Erzählungen wegen scheint Herodot solche Inkonsistenzen in Kauf genommen zu haben.
Die Notwendigkeit des Geschehens aufgrund göttlichen Wissens
Schon seine erste große Narration über Kroisos scheint alle angeführten Urteile zu bestätigen. Das Folgende möchte nun gerade an diesem Beispiel einige Aspekte an dieser Position zu differenzieren versuchen, indem sie die Art der historischen Wirklichkeit, die Herodot darstellt, unter Berücksichtigung der genannten Spannungsfelder genauer in den Blick nimmt. Schon am Ende der Erzählung von Kandaules und Gyges (I, 13,2) gibt das delphische Orakel kund, dass den Herakliden an dem fünften Nachkommen des Gyges eine Vergeltung zuteilwerde. Der fünfte Nachkomme ist Kroisos. Wenn Kroisos seine Herrschaft am Ende tatsächlich verliert, so scheint allein dieses Ende des Kroisos schon ausreichend Grund für die Annahme zu sein, dass das Ende des Kroisos von vornherein determiniert ist, das Göttliche Kroisos deshalb keine Wahl lässt. Das historische Geschehen, von dem Herodot in diesem Fall berichtet, scheint deshalb notwendig, so einzutreten. Die Notwendigkeit wird in diesem Fall gleichgesetzt mit einer Determination: Weil der Gott es will, verliert Kroisos am Ende seine Herrschaft. Kroisos selbst ist subjektiv unschuldig, weil der Gott und nicht er die Verantwortung für seine Niederlage trägt.
Das Folgende möchte nun keinesfalls argumentieren, dass das, was das Göttliche im Voraus weiß, nicht notwendigerweise eintritt. Es möchte aber zu denken geben, dass die Notwendigkeit, mit der göttliche Voraussagen sich in Herodots Historien bewahrheiten, auch in dem Wissen des Gottes und nicht in einem Willen des Gottes begründet sein können. Der Unterschied scheint klein zu sein, ist allerdings für die Möglichkeiten, die dem Menschen für ein selbstbestimmtes Handeln zugewiesen werden können, sehr groß. Es ist etwas Anderes, ob der Gott etwas will und diesen Willen gegen den menschlichen Willen durchsetzt – denn dann determiniert er –, oder ob der Gott nur weiß, wie der Mensch agiert. In diesem Fall kann er auch ,lediglich‘ wissen, wie der Mensch seine Denk- und Entscheidungsvermögen frei aktualisiert. Er determiniert den Menschen aber durch das Wissen nicht.
Lesen wir Herodot genau, so formuliert das Göttliche durch die Stimme des delphischen Orakels interessanterweise gerade diesem Anspruch des genauen Wissens, der die Grenzen des menschlichen Wissens übersteigt. In den ersten Versen des Orakels, die Herodot in seinem Werk wörtlich zitiert und denen damit eine besondere Bedeutung beizumessen ist, formuliert die Pythia, dass sie ein Wissen von der Zahl der Sandkörner und von den Maßen des Meeres besitzt. Sie verstehe sowohl die Stummen, als auch höre sie die, die nicht sprechen (I, 47). Das delphische Orakel ist damit nicht an die menschlichen Grenzen des Erkennens und Verstehens gebunden. Es kann vielmehr auch ein Wissen davon besitzen, was Menschen denken oder beabsichtigen, wenn letztere ihre Intentionen noch nicht artikuliert haben. Mehr sogar noch kann zumindest als Hypothese formuliert werden, dass das Göttliche, wenn ihm die Prädikate der Unsterblichkeit oder Ewigkeit zugewiesen werden, in seinem Erkennen nicht an eine zeitliche Diskursivität gebunden ist. Der Mensch kann das, was sich zukünftig ereignet, noch nicht erkennen. Wenn das Göttliche aber zeitlos und zeitungebunden ist, ist zumindest denkbar, dass es aus einem ewigen ,Jetzt‘ auch das erkennt, was aus der endlichen Perspektive des Menschen als ein zukünftiges Geschehnis noch nicht zu erkennen ist. Kurz und gut: Denkbar ist also auch, dass das Göttliche ein solches, nur ihm mögliches Wissen über einen Orakelspruch artikulieren lässt – so z. B. dass Kroisos seine Herrschaft verliert, weil er Fehler begeht. Man kann diese Art der Notwendigkeit eines göttlichen Wissens auch an einem analogen Alltagsbeispiel erklären. Ich sehe etwa, dass mein Nachbar gerade läuft. Weil ich nun weiß und verkünde, dass er läuft, determiniere ich sein Verhalten aber nicht. Sondern meine Aussage beruht darauf, dass er sich selbst dazu entschieden hat zu laufen. Weil ich es jetzt sehe, dass er läuft, kann es sich nicht gleichzeitig anders verhalten, dass er nicht läuft. Meine Aussage trifft notwendigerweise das Geschehen, ohne dass die Notwendigkeit aber in etwas wie meinem Willen gründet. Die Notwendigkeit, mit der meine Aussage wahr ist, gründet allein in meinem Wissen davon, wie er sich frei entschieden hat, wobei sich seine Entscheidung in seinem Handeln, das ich erkenne, dokumentiert. Der Unterschied für eine solche Notwendigkeit, die auf einem göttlichen Wissen beruht, liegt demgegenüber nur in der Grundannahme begründet, dass der Gott ewig und nicht an eine zeitliche Diskursivität gebunden ist. Dann nämlich kann gedacht werden, dass er alles Geschehen – auch das für uns Zukünftige – aus einem ,Jetzt‘ erkennt, dementsprechend Aussagen trifft, deren Notwendigkeit in seinem Wissen gründen.8
Aristodikos und die Kymaier bei Herodot
Hinzu kommen weitere Gesichtspunkte, die dem Interpreten Herodots zu denken geben müssen. Denn gerade dann, wenn das Göttliche einen Willen formuliert, stellt Herodot das menschliche Handeln wiederholt als klug dar, welches sich dem göttlichen Willen widersetzt. Das wäre aber nicht möglich, wenn der göttliche Wille determinierend auf den Menschen wirken könnte. Diese Darstellungen zeigen mithin nicht nur, dass der Mensch sich nach Herodot dem göttlichen Willen widersetzen kann, sondern sie offenbaren auch, dass Herodot das göttliche Eingreifen und selbst den göttlichen Willen kaum als determinierende Kraft begriffen haben kann. Im ersten Buch seiner Historien berichtet Herodot etwa von dem Orakelspruch, den das alte und ehrwürdige Branchidenorakel den Kymaiern erteilt hat (I, 155–159). Die Kymaier hatten Paktyas, nachdem dieser bei Kyros in Ungnade gefallen war, als Schützling aufgenommen. Kyros allerdings sendet einen Mittelsmann nach Kyme, um die Auslieferung des Paktyas zu fordern. Die Kymaier, die wissen, dass sie, wenn Kyros sie angreift, untergehen werden, senden Boten zum Branchidenorakel, um dieses um Rat zu fragen. Man muss hinzufügen, dass es ein ungeschriebenes göttliches Gesetz war, dass man einen Menschen, den man unter Anrufung von Zeus Hikesios als Schützling angenommen hatte, nicht ausliefern durfte. Ansonsten drohte dem, der dieses Gesetz verletzte, die Strafe des Zeus.9 Dass die Kymaier dennoch das Orakel um Rat fragen, zeigt mithin, dass sie allzu geneigt sind, Paktyas aus Eigennutz auszuliefern, auch wenn sie damit das göttliche Recht der Hikesie verletzen. Überraschend äußert das Orakel nun, dass sie Paktyas ausliefern sollen, woraufhin die Kymaier diese Auslieferung beschließen. Doch als mit Aristodikos ein unter den Kymaiern angesehener Bürger (τῶν ἀστῶν ἐὼν δόκιμος) von diesem Beschluss erfährt, glaubt er dem Orakelspruch nicht und hält die anderen Kymaier von der Auslieferung ab. Daraufhin brechen die Kymaier auf Geheiß des Aristodikos noch einmal zum Orakel auf. Aristodikos selbst richtet die Frage ein zweites Mal an das Orakel und erhält die gleiche Antwort. Anstatt dem Willen des Gottes nun, nachdem er selbst diesen Spruch vernommen hat, Folge zu leisten, räumt Aristodikos die Vogelnester um den Tempel herum aus. Darauf meldet sich die (gottgesandte) Stimme und tadelt seine Tat: „Frevelhaftester unter den Menschen! Was wagst du, dies zu tun? Du raubst meine Schützlinge aus diesem Tempel?“ (I, 159,3). Aristodikos antwortet darauf: „Herr, du selbst eilst deinen Schützlingen in dieser Weise zu Hilfe, den Kymaiern aber trägst du auf, ihre Schützlinge preiszugeben?“ (I, 159,4), worauf die (gottgesandte) Stimme erwidert: „Ja, ich befehle es, damit ihr, weil ihr gottlos seid, schneller zugrunde geht (ἵνα γε ἀσεβήσαντες θᾶσσον ἀπόλησθε), damit ihr zukünftig nicht kommen werdet mit einer Frage nach der Auslieferung von Schützlingen.“ (I, 159,4). Die Kymaier sehen daraufhin von einer Auslieferung des Paktyas an die Perser ab.
Beachtet man diese Worte, die Herodot von dem Branchidenorakel berichtet, und Aristodikos’ Reaktion, so ist leicht zu ersehen, dass auch bei Herodot der Mensch schon seinen eigenen Willen, der in einer eigenen Überlegung und einer eigenen Entscheidung ruht, gegen eine göttliche Weisung richten kann. Man kann gar schließen, dass nach Herodot gerade der weise Mensch aufgrund einer guten Überlegung eine richtige – und gerechte oder dem göttlichen Recht entsprechende – Entscheidung treffen soll, auch gegen eine göttliche Weisung, die er als nicht rechtens erkannt hat. Das Göttliche wirkt demnach nicht in der Weise durch den Menschen, dass es dessen eigenen Willen aufhebt. Die Narration von dem Branchidenorakel an die Kymaier lässt vielmehr einen Glauben an das Göttliche hervortreten, demzufolge letzteres zunächst einmal nur im Besitz eines genauen Wissens von den menschlichen Gedanken ist. Es weiß, weshalb die Kymaier kommen. Es besitzt also Kenntnis von ihrer Bereitschaft zum Unrecht, mit der sie überhaupt den Orakelspruch einholen und Paktyas wider das göttliche Recht ausliefern wollen. In diesem Wissen tätigt das Göttliche einen Spruch, der zum Ziel hat, für Gerechtigkeit zu sorgen, indem er für den Untergang der (unrechten) Denkhaltung der Kymaier sorgt. Der Spruch animiert die Kymaier, ihr unrechtes Denken auch in eine unrechte Tat umzusetzen, damit sie und mit ihnen ihre unrechte Haltung so umso schneller zugrunde gehen. Das Göttliche hat langfristig die Gerechtigkeit im Blick. Sein Eingreifen stellt nichts anderes als eine Herausforderung für den Rezipienten des Spruchs – in diesem Fall also auch für das falsche oder unrechte menschliche Denken – dar. Wenn ein Mensch wie Aristodikos umsichtig und dazu bereit ist, die unrechte Gesinnung aufzugeben oder für das Aufgeben dieser bei seinen Mitbürgern zu sorgen, kann er seinen Untergang vermeiden und seine Situation durchaus verbessern.
Das Göttliche agiert also im Wissen und unter Berücksichtigung der menschlichen Denkhaltung und der Möglichkeiten, über die der Mensch selbst frei verfügt, aber es determiniert ihn nicht. Analoge Beispiele zu dem der Darstellung der richtigen Reaktion auf göttliche Weisungen finden sich öfter in den Historien. Es sei an dieser Stelle nur noch auf die Beispiele des Sabakos im zweiten Buch der Historien hingewiesen (II, 137–140) oder auch des Themistokles hingewiesen. Letzterer sagt etwa im achten Buch der Historien, (VIII, 74ff.), dass den Menschen, die Schickliches – d.h. um- und weitsichtig – überlegen, alles gut ausgehe, dass der Gott hingegen den Menschen, die nicht Schickliches – und damit nicht um- und weitsichtig – überlegen, bei ihren Gesinnungen nicht zu Hilfe kommen wolle.
Das Gespräch zwischen Kroisos und Solon und der Atys-Traum
(a) Der einleitende Satz in die Historien:
Analog kann nun die Notwendigkeit des Geschehens des göttlichen Wissens in Herodots Kroisos-Erzählung begriffen werden. Das Folgende möchte zu denken geben, dass diese Notwendigkeit, mit der das göttliche Wissen eintritt, nicht die menschliche Verantwortung für das historische Geschehen aufheben muss. Eine Deutung wie die hier verfolgte widerspricht jedenfalls nicht dem, was Herodot selbst zu den Zielen seiner Darstellung im ersten Satz seiner Historien zählt. Er möchte das darstellen, wofür der Mensch ursächlich ist (τὰ γενόμενα ἐξ ἀνθρώπων). Es geht ihm um das Aufzeigen der Ursachen (δι’ ἣν αἰτίην), warum Griechen und Barbaren Kriege gegeneinander führten (I, Proöm). Herodot sieht demnach nicht die Götter als Ursachen für das Geschehen. Letzteres soll er den oben angeführten Positionen zufolge aber dennoch der Fall sein, was wiederum als ein Charakteristikum für seinen mythisch unaufgeklärten Glauben und die konzeptionelle Inkonsistenz seiner Darstellung angeführt wird.
(b) Das Gespräch zwischen Kroisos und Solon
Eine weitere, für diese Frage charakteristische Erzählung ist Herodots Narration des Gesprächs zwischen Kroisos und Solon in Verbindung mit Kroisos’ auf dieses Gespräch folgenden (gottgesandten) Traum, dass sein Sohn Atys durch eine Lanze umkommen werde (I, 29ff.). Das Gespräch handelt zunächst von der Frage, worin das menschliche Glück wurzelt.10 Kroisos wird sowohl auktorial vom Erzähler als auch von Kroisos selbst für den Rezipienten als weiser Mensch eingeführt. Nachdem sich Solon nur wenige Tage bei Kroisos aufgehalten hatte, lässt Kroisos Solon durch seine Schatzkammern führen, um ihm seinen großen Reichtum zu zeigen. Anschließend fragt Kroisos Solon, ob er einen unter den Menschen für den glücklichsten halte. Herodot kommentiert diese Frage auktorial (I, 30,3) so, dass Kroisos diese Frage in der Erwartung stellte, dass er selbst der Glücklichste unter den Menschen sei, Solon ihm aber hingegen nicht schmeichelte, sondern Tellos aus Athen als glücklichsten anführte. Auch auf Kroisos’ Frage, wen er für den zweitglücklichsten halte, führt Solon nicht ihn selbst an, sondern die Geschwister Kleobis und Biton. Sowohl Tellos als auch Kleobis und Biton starben relativ früh. Ihr Leben sei dennoch lang genug gewesen, so berichtet es Solon bei Herodot (I, 31,2). Sie waren alle nicht überaus reich, aber auch nicht arm. Gemeinsame Charakteristika ihres Lebens sind, dass sie ein gutes Lebensende fanden. Dieses bestand darin, dass sie in Verbindung oder in der Folge einer ehrenvollen Tat für die Gemeinschaft oder für die Familie starben. Tellos starb im Kampf für Athen gegen Eleusis, nachdem er zuvor Feinde in die Flucht geschlagen hatte. Kleobis und Biton entschliefen ruhig, nachdem sie ihre Mutter auf einem Wagen über eine Distanz von 45 Stadien zum Fest der Hera zu deren Tempel gezogen hatten. Alle drei wurden wegen ihrer Taten auch noch nach ihrem Tod geehrt. Daran, dass ihr jeweiliger Tod als Glück zu begreifen ist, lässt Herodot in seiner Narration keinen Zweifel. Die Mutter von Kleobis und Biton sei in Freude über ihrer Kinder Tat und den Ruhm, den sie dafür erhielten, vor das Bild der Göttin Hera getreten und habe im Gebet das Beste für ihre Söhne gewünscht, was Menschen zukommen könne. Darauf entschliefen ihrer Söhne sanft. Tellos habe ferner vortreffliche Kinder gehabt.
Die Charakteristika des Glücks, die Solon dem Rezipienten der Historien am Beispiel der drei konkret anhand von Lebenssituationen vor Augen geführt hat, reflektiert er selbst im sich anschließenden Dialog mit Kroisos noch etwas abstrakter (I, 32,1-2). Der Reiche habe nur zwei Vorteile gegenüber dem ärmeren Menschen. Er könne seine Begierden besser befriedigen und er könne Verblendung oder Unglück (ἄτην) besser ertragen. Zum Glück wie im Fall des Ärmeren reicht aber nach Solon bereits aus, dass der Mensch unversehrt ist, ohne Krankheit, frei von Übeln, über vortreffliche Kinder und eine schöne Gestalt verfügt. Wenn der Mensch diese Güter besitze, so sei er auch gewappnet gegen das Unglück. Besonders bedeutsam ist für das Bemessen eines glücklichen Lebens für Solon aber, dass der Mensch ein gutes Lebensende finde. Zuvor könne er auch keine Aussage über das Glück des Kroisos treffen.
Kroisos schickt Solon auf diese Rede hin fort. Er, der Solon anfangs selbst als weise betrachtete, hält ihn nun für unverständig, weil er den gegenwärtigen Gütern zu wenig, dem Ausgang des Lebens hingegen zu viel Beachtung schenke (I, 33).
Herodot führt mit der Art seiner Darstellung dieser Reaktion des Kroisos dem Leser unmittelbar vor, wie Kroisos nur den Argumenten und Einsichten gegenüber offen ist, die er selbst aufgrund seiner Denkhaltung für richtig hält. So lässt er nur seine eigenen Bemessungskriterien für die Beurteilung, was das größte Glück kennzeichnet, gelten. Kroisos wird in diesem Gespräch mithin von Herodot als ein Mensch gezeichnet, dem sein Reichtum und sein eigenes Ansehen aufgrund seines momentanen Besitzes wichtig ist und der es nicht schafft, tiefergehende Zusammenhänge gedanklich zu durchdringen und sich zu eigen zu machen.
(c) Kroisos’ gottgesandter Traum
Herodot leitet nun von dieser Erzählung mit folgenden Worten zu seinem Bericht der nächsten Episode aus Kroisos’ Leben über: „Nachdem Solon gegangen war, ereilte Kroisos eine große göttliche Strafe (νέμεσις), wie man vermuten kann, weil er glaubte, dass er selbst unter allen Menschen der glücklichste sei.“ (I, 34,1). Wenn Herodot im Folgenden von einem Traum, der Kroisos heimsuchte, berichtet, suggeriert er, dass es sich bei diesem Traum um einen göttlichen Eingriff handelt. Das Traumgesicht zeigt Kroisos, wie sein geliebter Sohn Atys durch eine eiserne Lanze getötet wird (I, 34,2). Kroisos’ Reaktion ist bemerkenswert. Er gerät in Furcht vor dem, was er im Traum sah. Als Reaktion auf das Traumgesicht lässt er seinen Sohn zunächst heiraten, schickt ihn fortan nicht mehr mit dem Heer der Lyder zu Felde, er lässt gar alle Wurfspeere, Lanzen und Vergleichbares in den Gemächern von den Wänden nehmen, damit nicht zufällig eine dieser Lanzen auf seinen Sohn herabfalle und ihn töte (I, 34,2-3). Doch dann bitten die befreundeten Myser Kroisos um Hilfe, weil sie selbst nicht mit einem gewaltigen Eber, der ihre Felder verwüstete, fertig werden. Sie ersuchen ihn darum, dass er ihnen seinen Sohn zusammen mit jungen Männern und einer Hundemeute schicke. Kroisos sagt ihnen zwar junge Leute und die Hundemeute zu, zunächst aber nicht seinen Sohn, um den er weiterhin Angst hat. Allerdings dringt die Kunde von der Bitte der Myser bis zu Atys durch. Dieser beklagt sich nun bei seinem Vater über dessen Entscheidung und hält ihm vor, dass es für ihn das Schönste und Ehrenvollste war, in den Krieg zu ziehen, auf die Jagd zu gehen und auf diese Weise zu Ansehen zu gelangen. Dadurch, dass er, sein Vater, ihm dies nun untersage, fürchte er um seinen guten Ruf sowohl bei seinem Volk als auch bei seiner Gattin. Kroisos wird so letztlich gezwungen, seinem Sohn von seinem Traum und seiner Angst zu berichten. Atys allerdings glaubt, dass sein Vater das Traumgesicht nicht richtig deute. Er lenkt den Blick seines Vaters in seiner Erwiderung fortan allein auf den Eber und veranschaulicht seinem Vater, dass der Eber doch keine Lanze trage. Weil sich der Kampf also nicht gegen Menschen, sondern gegen ein Tier richte, brauche sein Vater keine Angst um ihn zu haben. Kroisos zeigt sich von dieser Argumentation vollends überzeugt und lässt seinen Sohn mit auf die Jagd, bei der er ausgerechnet durch die Lanze des Mannes, den sein Vater ihm eigens zum Schutze mitgesandt hatte, getötet wird, als dieser versuchte den Eber zu treffen, ihn aber verfehlte und stattdessen Atys traf und tötete. Kroisos versinkt daraufhin lange Zeit in Trauer (I, 36–40).
Herodots Historien in einer Handschrift mit eigenhändigen Korrekturen des Humanisten Lorenzo Valla am Rand. Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. Gr. 122, fol. 41r und 122r (frühes 15. Jahrhundert) https://de.wikipedia.org/wiki/Historien_des_Herodot#/media/File:Herodotus,_Histories,_with_marginalia_by_Lorenzo_Valla,_Vat._gr._122,_fol._41r_und_122r.jpg
(d) Zur Notwendigkeit des im Traum vorausgesagten Geschehens
Die Erzählung führt somit vermeintlich vor Augen, dass Kroisos das Glück nicht in der eigenen Hand hat. Ja vielmehr scheint der Gott sich an Kroisos für dessen Arroganz und Hochmut, weil er glaubte, ganz allein über die Kriterien seines Glücks befinden zu können, zu rächen. Die Erzählung scheint so ein weiteres Beispiel dafür zu sein, dass Herodot noch – naiv – an metaphysische, göttliche Kräfte glaubt, die mit dem Menschen nach Lust und Laune spielen oder ihn auch strafen können. Mehr sogar noch: Obwohl oder sogar gerade dadurch, dass er alles unternimmt, um das, was ihm das Traumgesicht angekündigt hat, zu vermeiden, sorgt er gegen seinen Willen dafür, dass sich der Traum bewahrheitet. In der Forschung gibt es zu dieser Episode kaum zwei Meinungen, zu sehr scheint in dieser Erzählung Herodots Glauben an die Determination des irdischen, historischen Geschehens durch das Göttliche Ausdruck zu finden.11 Der Gott scheint einen Willen zur Bestrafung von Kroisos zu verfolgen, den er auch durchsetzt. Die Notwendigkeit des Geschehens gründet damit vermeintlich also doch im göttlichen Willen. Gegen diese Communis Opinio ist bislang einzig als Argument angeführt worden, dass Kroisos hätte in Erwägung ziehen können, dass Männer mit Lanzen an der Jagd beteiligt sein würden. Wenn Kroisos also aus Vorsicht sogar die Lanzen in den Gemächern von den Wänden genommen habe, hätte er auch so umsichtig sein und bedenken können, dass auch von den Lanzen der Begleiter seines Sohnes eine Gefahr für ihn ausgehen kann.12 Dass Kroisos diesen Gedanken aber nicht fasst, zeigt, wie sehr Herodot ihn im ersten Buch der Historien als einen Menschen zeichnet, der sich zum einen nicht oder nur sehr bedingt dazu fähig zeigt, um- und weitsichtig zu denken, und der sich (damit verbunden) zum anderen von ihm plausiblen und präsenten Gedanken ganz vereinnahmen lässt, so dass er in seinem Denken nicht tiefer dringt, womit seine Denkhaltung als durchaus verantwortlich für das Geschehen betrachtet werden kann.
Gerade weil Herodot diese Episode durch seine auktoriale Überleitung unmittelbar mit der Kroisos-Solon-Erzählung verbindet, scheint es nun ferner geboten, die Art der Notwendigkeit des Geschehens auch vor dem Hintergrund genau dieses Gesprächs zu betrachten. Die zu stellende Frage lautet, ob nicht die Notwendigkeit auch in diesem Fall eher in einem göttlichen Wissen begründet liegt und der Eingriff des Gottes über den Traum eine Herausforderung der genannten Schwäche des Kroisos in seiner Denkhaltung bedeuten kann, ohne dass der Gott aber Kroisos’ Handeln determiniert.
Wenn das Traumgesicht Kroisos den Tod seines Sohnes durch die Lanze vor Augen hält, so verfügt der Traum vor dem Hintergrund des Solon-Kroisos-Gesprächs doch auch über das Potential, Kroisos ein analoges Glück, das Tellos, Kleobis und Biton zuteilwurde, in Aussicht zu stellen. Denn der Traum suggeriert, dass Atys in Verbindung mit einer ehrenhaften Tat für die Gemeinschaft umkommen wird. Der Traum bietet Kroisos damit sogar die Gelegenheit, in dem bevorstehenden Tod des Atys analog zu der Mutter von Kleobis und Biton das Schönste zu erblicken, was seinem Sohn zuteilwerden kann. Denn auf die Länge des Lebens kommt es nach Solon nicht an, um das Leben und einen Menschen als glücklich zu betrachten. Kroisos erhält also Anlass, sich glücklich zu schätzen ob des vortrefflichen Kindes, das vermutlich sogar noch wie Tellos für seine ehrenvolle Tat nach dem Tod geehrt würde. Dass auch Atys selbst im Gespräch mit seinem Vater von Herodot die Worte in den Mund gelegt bekommt, dass es das Schönste und Ehrenvollste sei, in den Krieg zu ziehen oder auf die Jagd zu gehen, stellt ebenfalls die Verbindung zu den Kategorien her, nach denen Solon Tellos, Kleobis und Biton für die Glücklichsten hielt und nach denen Kroisos Atys und auch sich selbst glücklich schätzen könnte.
Es ist in diesem Kontext deshalb gar nicht nötig, den Gedanken stark zu machen, dass Kroisos nach Herodot das kommende Unglück, weil es vom Gott beschlossen worden ist, nicht abwehren könne. Vielmehr kann als Deutung in den Vordergrund gerückt werden, dass das Göttliche das Unglück des Kroisos gerade nicht willentlich herbeiführt. Es bietet Kroisos aufgrund seines Vorauswissens zunächst vielmehr mit dem Traum die Möglichkeit, sich wegen der Aussicht, dass seinem Sohn ein analoger Tod wie Tellos, Kleobis und Biton zuteilwerden wird, selbst glücklich zu schätzen. In dem Kontext, in dem das Traumgesicht steht, eröffnet es Kroisos die Möglichkeit, sich diesem Gedanken zu öffnen und das Glück auf eine Weise zu finden, wie dies nach Solon auch Menschen ohne Reichtum finden können. Nur wenn er sich dem Gedanken aber aus eigenen Stücken nicht öffnet und er meint, sein Glück selbst anders zu erreichen und bemessen zu können, ereilt ihn die Trauer als Strafe und tritt an die Stelle seines Glücks. Dass dieser Traum zu einer göttlichen Strafe wird, kann auch dann aus der Perspektive des Kroisos als Strafe begriffen werden, wenn er selbst zwar innerhalb einer göttlichen Weltordnung, die ihm die Verantwortung für sein eigenes Handeln lässt, nicht aber aufgrund eines Gottes, der sein Handeln determiniert, ins Unglück gerät. Dieser Zusammenhang wird zum Abschluss des Beitrages noch genauer reflektiert. Die Notwendigkeit, mit der die göttliche Voraussage eintritt, kann jedenfalls wieder allein im göttlichen Wissen begründet liegen. Dieses Wissen liegt nach dem Anspruch, den die Pythia geäußert hat, darin, dass das Göttliche auch die menschlichen Gedanken kennt, ohne von ihnen zu hören. Wenn das Göttliche als ein Ewiges zudem nicht an zeitlich diskursives Erkennen gebunden ist, sondern alles Geschehen gleichzeitig erkennen kann, kann leicht angenommen werden, dass das Göttliche wissen kann, wie sich Kroisos und auch Atys entscheiden werden, wenn sie das entsprechende Traumgesicht haben, bzw. davon hören, und es kann so auch wissen, dass ausgerechnet die Person, die Kroisos seinem Sohn zum Schutze beistellt, ihn mit der Lanze versehentlich umbringen wird. Die Notwendigkeit, mit der das Geschehen eintritt, liegt dann aber auch in diesem Fall lediglich in der Untrüglichkeit göttlichen Wissens davon begründet, wie Kroisos seine ihm freie Entscheidung tätigt. Der Eingriff selbst ist auch in diesem Fall keine Determination, sondern eine Herausforderung, die zudem aus literarischer Perspektive dem Rezipienten der Historien genau auf die problematischen Züge in der Denkhaltung des Kroisos aufmerksam machen kann.
Kroisos’ Reaktion gibt dieser Deutung zufolge gleich in doppelter Weise Aufschluss darüber, wo der charakterbedingte Anteil für sein Unglück liegt. Zum einen zeigt seine Reaktion auf den Traum, wie sehr er den Traum wieder aus seinem eigenen Selbstverständnis, was Glück ausmacht, deutet. Es geht ihm um die physische Bewahrung seines ,Besitzes‘, in diesem Fall seines Sohns. Er bemisst sein Glück an diesem Besitz. Zum anderen zeigt er sich in Herodots Darstellung in seinem Denken weiterhin wenig weit- und umsichtig, wenn ihn Atys’ Argumentation umstimmt. Denn er lässt sich von der Strahlkraft eines ihm plausiblen Gedankens – oder in diesem Fall einer plausiblen Auslegung – vollends vereinnahmen, sodass er keine tiefergehenden Überlegungen tätigt.
Kroisos und die Orakelsprüche
Analog lassen sich nun auch die berühmten Orakelsprüche, die Kroisos erhält, deuten. Kroisos wird erst durch den Machtgewinn des persischen Emporkömmlings Kyros aus seiner Trauer um seinen Sohn gerissen. Er plant daraufhin einen Präventivkrieg gegen Kyros. Um sich abzusichern, lässt er Sprüche der Orakel in Delphi und Amphiaraos, die er für vertrauenswürdig befunden hat, einholen. Beide antworten ihm u. a., dass er, wenn er gegen die Perser ziehe, ein großes Reich zerstören werde (I, 53,3). Wieder beurteilt Kroisos dieses Orakel seinem eigenen Selbstverständnis entsprechend. Er verschwendet Herodots Darstellung zufolge keinen einzigen Gedanken daran, dass er durch einen solchen Feldzug sein eigenes Reich und nicht das des Kyros zerstören könnte. Zu selbstverständlich ist für ihn, dass das Orakel ihm seinen Sieg verkündet. Doch auch in diesem Fall richtet er die Frage, wie aus Herodots auktorialem Kommentar wohl geschlossen werden darf (I, 73,1), offenkundig mit der Zuversicht und Erwartung an das Orakel, dass er, der bislang nach Herodots Berichten militärisch stets erfolgreich war, ein weiteres Mal siegen wird. Das erklärt seine übermäßige Freude auf den Orakelspruch (ὑπερήσθη (I, 54,1)). Auch dieser Orakelspruch kann damit als göttliche Aufgabe an Kroisos betrachtet werden, durch welche die Schwachpunkte in seinem Denken herausgefordert werden. Der Spruch lässt ihm die Möglichkeit des sorgfältigen Überlegens, von dem Kroisos allerdings keinen Gebrauch macht. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Wenn Kroisos gleich im Anschluss die nächste Frage an das delphische Orakel richtet, wie lange sein Thron Bestand habe, tritt schon allein in dieser Frage zutage, dass er keine Gefahr für den Verlust seiner Herrschaft sieht. Weil das Orakel ihm nun antwortet, dass er nur dann, wenn ein Maultier König der Meder sei, fliehen solle, sieht Kroisos sich selbst und seine Herrschaft noch sicherer. Durch die Auflösung, die die Pythia selbst später für diesen Orakelspruch liefert (I, 91), wird ersichtlich, dass auch dieser göttliche Eingriff eine Aufgabe für Kroisos’ individuelle Denkhaltung darstellte. Denn mit dem Maultier hatte sie Kyros gemeint. Ein Maultier besitzt eine Mutter höheren Geschlechts und einen Vater niederen Geschlechts. Genau dies ist bei Kyros der Fall. Die Aufgabe, die der Orakelspruch an Kroisos lieferte, bestand also darin, dass Kroisos dieses Bild auf seine tiefere, metaphorische Ebene hätte durchdringen müssen. Er hätte umsichtiger überlegen müssen. Stattdessen berichtet Herodot ein weiteres Mal von Kroisos’ hoch erfreuter Reaktion, weil er erwartete, dass nie ein Maultier an der Stelle eines Menschen König der Meder werde. Wieder schließt Kroisos also zu schnell, wieder zeigt er sich zu wenig weitsichtig, wieder bleibt sein Denken an einer Oberfläche hängen, die ihm sofort plausibel und einleuchtend erscheint, weil sie seinen Erwartungen und seinem Selbstbefinden gerecht wird. Dabei lässt er die Gelegenheit, die ihm der Orakelspruch bietet, ungenutzt: Denn Kroisos hätte die Möglichkeit, dieses Bild auf seinen tieferen Sinn hin zu durchdringen, zu erkennen, dass Kyros gemeint ist und dass er folglich, wenn er gegen ihn zieht, auch sein Reich zerstören wird. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, müsste er aber genau die Schwäche seines Denkens überwinden. Hätte er dies geschafft, so hätte er den Fehler, den er in seinem Denken zeigt, gleichzeitig überwunden, Kroisos hätte sich dem umsichtigen Überlegen geöffnet und er würde vermutlich keinen vernünftigen Grund für seinen Präventivkrieg gegen Kyros erkennen.
Damit entlarvt Herodots Darstellung der göttlichen Eingriffe vor dem Rezipienten seiner Erzählungen im Falle des Kroisos gerade die Problematik seines Denkens. Die göttlichen Eingriffe lassen sich an dieser Stelle konsistent deuten, wenn man Herodot einen Glauben an das Göttliche zuspricht, dem zufolge das Göttliche ein untrügliches Wissen um die menschlichen Gedanken und Charakterzüge besitzt. Diesem Wissen entsprechend vermag das Göttliche über Träume oder Orakelsprüche einzugreifen. Dabei nimmt es dem Menschen die Freiheit seiner Entscheidung nicht, sondern es greift unter Berücksichtigung dieser Freiheit ein. Das Göttliche hat auch in diesem konkreten Fall langfristig die Wahrung der Gerechtigkeit im Blick. Deshalb stellt es dem Menschen Aufgaben und Herausforderungen, die dieser unter Korrektur eines fehlerhaften Denkens nutzen kann. Wenn er sie nutzt, wie Aristodikos, dann ergeht es ihm gut und er vermeidet (für die Kymaier) ein Unglück. Wenn er sie nicht nutzt (wie Kroisos) wird die problematische Denkhaltung sogar noch befördert, so dass der Mensch auf Widersacher trifft, an denen er letztlich scheitert. Das Scheitern geht aber einher mit dem Untergang oder der Korrektur der problematischen Charakterzüge oder Denkhaltung.
Fazit (1): Das Welt- und Menschenbild in der Kroisoserzählung
Das Welt- und Menschenbild Herodots ist also nicht so selbstverständlich zu deuten, wie dies angesichts der Forschungspositionen den Anschein erweckt. Herodot ein naives, mythisches oder gar negativ konnotiertes archaisches, da nicht fortschrittliches Welt- und Menschenbild zu unterstellen, scheint zu kurz gegriffen zu sein, zumindest aber weiten Teilen des Herodoteischen Textes nicht gerecht zu werden. Das Gegenteil ist zu erwägen: Herodots Werk kann auch im Zuge einer Aufklärung im 5. Jahrhundert begriffen werden, wie sie Gadamer und weitere Forscher für das Denken in diesem Jahrhundert erkannt haben: einer Aufklärung, die nicht unter Loslösung des Glaubens an das Göttliche erfolgt, sondern in Vereinbarung mit einem Göttlichen, das dem Menschen nicht die Möglichkeit der freien Entscheidung nimmt, sondern dem Menschen die freie Entscheidung und Verantwortung für sich selbst zuerkennt, die aber anerkennt, dass es göttliche Kräfte z. B. in Form von einleuchtenden Gedanken gibt, die für sich Bestand haben und die sich ein Mensch erschließen kann oder denen er sich verschließen kann.13 Orakelsprüche und auch göttliche Traumgesichte können solche Gedanken präsentieren, die Herodot somit in literarischer Form dem Rezipienten der Historien vermitteln kann. Wenn Kroisos von seinem Charakter her, wie Herodot ihn zeichnet, nach Reichtum, Expansion seiner Herrschaft und Ansehen strebt, er ferner wenig weitsichtig ist, sich ganz von einem Gedanken, einer Auslegung oder einem Argument, das ihm aufgrund seines Selbstbefindens plausibel ist, vereinnahmen lässt und keine tiefergehenden Überlegungen tätigt, so besitzen für ihn Gedanken, die ihm eine weitere Expansion seiner Herrschaft präsentieren, eine besondere, ja verlockende Strahlkraft. Diesen gegenüber zeigt er sich offen. Sie sind wie eine für sich bestehende, metaphysische, ja göttliche Macht, der er sich von selbst und ohne determiniert zu werden besonders offen gegenüber zeigt. Dass es diese Gedanken überhaupt gibt, gewährleistet allerdings auch, wie die Kroisoserzählung nach Herodot zeigt, dass es langfristig einen Ausgleich von Ungerechtigkeiten geben kann, eine Art göttlicher Gerechtigkeit. Denn dadurch, dass diese Gedanken mit ihrer anziehenden Kraft in der Weise auf die Menschen Einfluss gewinnen, dass sich die Menschen selbst ihren Prädispositionen und ihren Denkhaltungen entsprechend diesen Gedanken nicht nur öffnen, sondern sie auch in die Tat umsetzen, verletzen diese Menschen letztlich bei Herodot immer wieder andere Menschen und provozieren – je mehr Unrecht sie tun oder je weiter sie fortschreiten – immer größeren Widerstand, wenn die angegriffenen Menschen sich wegen ihres Leids oder erlittenen Unrechts etwa den Gedanken der Rache öffnen. So kommen in Herodots Historien letztlich auch die ungerechten Gesinnungen zur Besinnung (etwa Kroisos, wenn er auf dem Scheiterhaufen steht), oder die Menschen, die sie tragen, werden getötet. Am Ende kann mithin durchaus ein Glaube Herodots an ein Göttliches rekonstruiert werden, das in weiser Voraussicht eine Weltordnung geschaffen hat, die dem Menschen nicht die Verantwortung nimmt, sondern in welcher der Mensch in der Verantwortung für sein Handeln steht. Wenn der Mensch dieser aber nicht gerecht wird, wird er zumeist14nicht direkt durch das Göttliche gestraft, sondern dadurch, dass das Göttliche dafür vorgesorgt hat, dass für die Menschen dann, wenn ihnen z. B. zu großes Unrecht widerfährt, ,die Gedanken da sind‘ und sie sich diese ,erschließen‘ können, um das Unrecht zu bekämpfen und wieder für Gerechtigkeit zu sorgen.
Es scheint nicht ausgeschlossen zu sein, dass ein solches, sehr durchdachtes Menschen- und Weltbild den Hintergrund für Herodots Erzählungen in den Historien bildet, in denen tatsächlich, wie er selbst dies im ersten Satz seines Werkes äußert, das von den Menschen verursachte Geschehen (τὰ γενόμενα ἐξ ἀνθρώπων) im Zentrum steht. Wenn dies so ist, dann ist Herodots Darstellung jedenfalls als höchst konsistent zu beurteilen, wenn sowohl die Pythia Kroisos selbst – und nicht den Gott – als Urheber für sein Scheitern sieht (I, 91,4) als auch Kroisos sich selbst nach den Worten der Pythia verantwortlich für seinen ,Fehler‘ erachtet (ὁ δὲ ἀκούσας συνέγνω ἑωυτοῦ εἶναι τὴν ἁρματάδα καὶ οὐ τοῦ θεοῦ – „Nachdem er dies [die Erklärung der Orakelsprüche durch die Pythia] gehört hatte, sah er ein, dass der Fehler sein eigener und nicht der des Gottes war.“ (I, 91,6)). Dieser Fehler ist aber offenbar gleichzusetzen mit seinem Streben nach Reichtum, Expansion seiner Herrschaft und seiner wenig umsichtigen Denkhaltung.
Die menschliche Verantwortung für das Geschehen braucht, wie anzudeuten versucht wurde, nicht in Opposition zu einem göttlichen Wirken zu stehen. Vielmehr kann man mit Gadamers Position zur Aufklärung im 5. Jahrhundert v. Chr. durchaus Ansatzpunkte finden, dass die Aufklärung einherging mit einem Glauben an das Göttliche: dass nämlich nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit der Sophistik die Einsicht zurückkehrte, dass der Mensch nicht alle Mächte und Kräfte in seiner Hand hat, er nicht das alleinige Maß aller Dinge ist, er sehr wohl aber, wenn er von seinen vernünftigen Denkfähigkeiten Gebrauch macht und umsichtig agiert, diese Mächte zu seinem Erfolg und Glück nutzen kann. Es liegt so beispielsweise in der menschlichen Verantwortung, sich gute Gedanken zu erschließen. Dass Menschen dies unabhängig voneinander können, kann als Indiz für einen Glauben betrachtet werden, dass solche Gedanken ,für sich‘ als metaphysische Kräfte und als Angebot für den Menschen existieren. Es gibt, wie in diesem Beitrag nur kurz skizziert werden konnte, jedenfalls auch im Werke Herodots ausreichend Hinweise darauf, dass er glaubte, dass der Mensch die subjektiven Voraussetzungen dafür schaffen müsse, dass er sich die richtigen und gerechten Gedanken erschließt. Das aufgeklärte Denken des 5. Jahrhunderts differenzierte dieser Position zufolge also konzise zwischen dem, was in der Hand des Menschen lag, und dem, über das er nicht verfügte.15
Fazit (2): Herodot als Literat
Am Ende ist Herodot dann also vielleicht noch mehr als der spannende Geschichtenerzähler. Dies ist er natürlich zweifelsohne auch. Berücksichtigen wir aber, dass alle Erzählungen, die in dieser Betrachtung im Fokus standen, entweder völlig fiktiv sind oder nur einen kleinen historischen Nucleus besitzen,16 den Herodot dann literarisch frei ausgestaltet hat, so braucht diese Ausgestaltung nicht allein dem Evozieren von Spannung zu dienen, sondern sie kann auch in einer bewussten Sinngebung des Geschehens durch Herodot gründen, die er zuvor erforscht hat.
Wenn etwa, wie anzunehmen ist, das Gespräch zwischen Solon und Kroisos niemals real stattgefunden hat, so wollte Herodot offenkundig gleich zu Beginn seines Werkes ein ethisch-moralisches Paradigma schaffen, vor dessen Hintergrund auch weitere Darstellungen, v. a. aber dargestellte Entscheidungen und Handlungen historischer Entscheidungsträger in seinem Werk zu beurteilen sind. Solon führt nicht weniger als Handlungs- und Bemessungskriterien für ein glückliches und erfolgreiches Handeln und Leben an, an denen auch die Kriterien, die Herodot für Kroisos als entscheidungs- und handlungsrelevant zeigt, bemessen werden können. Es ist ein Charakteristikum der großartigen Erzählkunst Herodots, dass er diese Kriterien im Fall von Kroisos’ Handeln in immer wieder neuen Entscheidungen desselben in analoger und wiedererkennbarer Weise durchdringen lässt. Dadurch, dass Herodot wiederholt als solche Kriterien Kroisos’ Streben nach Besitz, Reichtum, Ansehen, aber auch die Oberflächlichkeit seines Denkens hervortreten lässt, kann der Rezipient in der Wiederholung dieser individuellen Motive dieselben umso besser als handlungsrelevant im Falle des Kroisos erkennen und als Ursache für sein Scheitern begreifen.
Herodot ermöglicht durch diese raffinierte Art seiner literarischen Darstellung dem Rezipienten zu erfahren, wie sich solche Motive in konkreten Entscheidungen dokumentieren und wohin sie führen. Sein Konzept der Geschichtsschreibung lehrt so über die konkrete Anschauung und über Erfahrungen, die es dem Rezipienten ermöglicht. Dies kann durchaus als ein Vorteil gegenüber einem Lehren über nur abstrakte moralische Lehrsätze oder über die bloß faktische Darstellung von Geschehenem begriffen werden. Wenn man berücksichtigt, dass Herodot sein Werk während des Peloponnesischen Kriegs verfasste, ist dies nicht irrelevant.17
Auch wenn das Gespräch zwischen Solon und Kroisos eine fiktive Darstellung ist, so ist dennoch auf der Basis der Fragmente, die wir noch aus dem literarischen Werk des Solon besitzen, zu Recht festgehalten worden, dass er jeden der Gedanken, den Herodot ihm in den Mund legt, hätte sagen können, wenn das Gespräch stattgefunden hätte. Herodot hat seine Darstellung menschlichen Agierens damit offenkundig nicht beliebig gestaltet, sondern er hat an den konkreten ,wirklichen‘ Denkhaltungen der historischen Persönlichkeiten Maß genommen, soweit er diese erforschen konnte. So können wir wohl auch für seine Kroisosdarstellung schließen, dass es ihm primär darauf ankam, die ,wirklichen‘ Motive, die zu seinem Scheitern führten, zu vermitteln. Dazu waren ihm offenbar auch eigene Ausgestaltungen oder das Einfügen gänzlich fiktiver Berichte von Ereignissen recht. Die historische ,Wirklichkeit‘, die er vermitteln wollte, ist dann aber primär die ,Wirklichkeit‘ von Motiven, die er als Geschichtsforscher als ursächlich für ein Geschehen, v. a. für das Scheitern oder auch den Erfolg eines Handelns identifiziert hat. Dass es gute Gründe im Text gibt, dass Herodot ein Menschenbild vertreten hat, das dem Menschen die Verantwortung des Menschen für sein Handeln, sein Glück und Erfolg zugewiesen hat und dass dieses Menschenbild im Dienste der Vermittlung dieser ,Wirklichkeit‘ dienlich war, möchte dieser Beitrag zu denken geben.
Ein solches Konzept von Geschichtsschreibung, wie wir es bei Herodot finden, wird damit unzureichend wertgeschätzt, wenn es als wenig fortschrittlich beurteilt wird. Es ist ein alternatives Konzept zu dem des Thukydides, ein Konzept, das in bemerkenswerter und literarisch ausgefeilter Weise den Menschen als Ursache für Geschehnisse ins Zentrum rückt, dessen Motive für ein historisch erfolgreiches oder fehlerhaftes Handeln in konkreter Anschauung begreifbar macht und zudem auch nicht der Spannung in den Darstellungen entbehrt.