Vorbilder und Genre-Problematik
Als Ovid in den Jahren 1 bis 8 nach Christus sein magnum opus, die Metamorphosen schreibt, kann er auf eine Vielzahl an inhaltlichen und stilistischen Vorbildern zurückgreifen: Neben der Odusia des Livius Andronicus und dem bedeutendsten römischen Epos, Vergils Aeneis, kann man auch die Texte der Geschichtsschreiber Naevius und Ennius dazuzählen, sowie die Lehrgedichte des Lukrez und Vergil. Inhaltliche Vorbilder finden sich vor allen Dingen in der griechischen Literatur: Angefangen bei Boios’ Ornithogonia, einer Sammlung von Vogel-Metamorphosen aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert, reichen die Vorbilder über die Aitia des Kallimachos von Kyrene (~ 320–245 v. Chr.) bis hin zu den Heteroioumena des Nikandros von Kolophon (~ 197–130 v. Chr.), die uns leider nicht überliefert sind. Der Vielfalt der literarischen Vorbilder ist der Schwierigkeit geschuldet, Ovids Metamorphosen eindeutig einem literarischen Genre zuzuordnen: Epische Sagenkreise wie die „Thebais“ und „Perseis“ in den Büchern 3 bis 5 stehen neben quasi historiographischen Episoden des athenisch-kretischen Krieges in den Büchern 7 und 8 oder der römischen Republik in Buch 15; dazu kommen zahlreiche Aitiologien wie beispielsweise die Narcissus-Erzählung in Buch 3 oder die Entstehung der Korallen aus den vom Medusenhaupt versteinerten Seegräsern (Buch 4). Ovid selbst charakterisiert sein Werk im Proömium zunächst als eine Art Generalgeschichtsschreibung – sein Lied soll den Zeitraum prima[…] ab origine mundi / ad mea […] tempora (1, 3–4) abdecken. Doch obwohl er diese Anfangs- und Endpunkte in seinem Werk erreicht, verläuft die restliche Erzählung weder linear noch vollständig in Bezug auf relevante historische Ereignisse. Trotz dieser Vielfalt und der fehlenden formalen Einheitlichkeit in Bezug auf ihre Erzählstruktur sind die Metamorphosen ein in sich schlüssiges Werk, denn Ovids Herangehensweise an die „erzählerische Aufgabe“, an die Frage, auf welche Weise oder in welcher Form den Lesern Inhalt vermittelt wird, erklärt sich nicht von einem Genre ausgehend, sondern vom Inhalt: Er berichtet nicht im Stil eines Epikers oder Geschichtsschreibers, sondern er erzählt Mythen.
Das Bedeutungsfeld des „Mythos“
Der Begriff des Mythos unterlag bereits in der Antike großen Schwankungen in seiner Bedeutung und der entsprechenden Bewertung als erzählerisches Element. Der griechische Begriff „μῦθος“ hatte ursprünglich die wertneutrale Bedeutung „Wort, Rede, Geschichte“ und wurde verwendet, um eine Art der kollektiven Rückerinnerung einer Gesellschaft an historische Ereignisse zu beschreiben: Mythen dienten als vorwissenschaftliche Welterklärungsmodelle, die in dieser Funktion nach und nach durch die Philosophie und die Geschichtsschreibung abgelöst wurden. Mit der sophistischen Aufklärung im 5. Jahrhundert vor Christus geriet der μῦθος dann nachhaltig in Verruf: als Gegensatz zum λόγος, der „vernünftigen Rede“, wurde er jetzt als unwahre Erzählung oder abschätzig als Kindermärchen angesehen und hielt in dieser Bedeutung als fabella Einzug in den lateinischen Sprachgebrauch. Die frühe Auffächerung des Bedeutungsfeldes zeichnet verantwortlich für die vielen unterschiedlichen Kontexte, in denen der Begriff des Mythos in unserer Alltagssprache verwendet wird: Eine „Erzählung von Göttern, Heroen und anderen Gestalten und Geschehnissen aus vorgeschichtlicher Zeit“, die „unbewussten Tiefenschichten der Psyche“, ein „Muster, Schema, Modell“ oder auch eine „kollektive Phantasie, [ein] kollektives Wunschbild“ können sämtlich mit dem Wort „Mythos“ belegt werden und rekurrieren dabei auf jeweils unterschiedliche Aspekte des antiken Verständnisses.1
In der Literaturwissenschaft wird der Begriff „Mythos“ uneinheitlich verwendet, aber man kann zusammen mit Gerd Ueding eine allgemein gehaltene Definition vornehmen: Ein Mythos ist eine Erzählung, die aus sich selbst heraus verständlich ist, aber zusätzlich eine weitergehende, größere Bedeutungsebene hat. Diese Ebene ist meistens an eine literarische oder kulturelle Gemeinschaft rückgebunden und verhandelt Bilder der Welt sowie allgemeine Gleichnisse menschlichen Verhaltens, wodurch kohärente Erfahrungssysteme der Welt abgebildet werden, die für das jeweilige Kollektiv eine Art der Wirklichkeitsdeutung darstellen.2 Dieter Borchmeyer ergänzt diese vor allem inhaltsbasierte Definition durch weitere funktionale Aspekte, indem er auf ein Zitat Richard Wagners zurückgreift, der den Begriff „Mythos“ in der deutschen Sprache verankert hat: „Das Unvergleichliche des Mythos ist, dass er jederzeit wahr, und sein Inhalt […] für alle Zeiten unerschöpflich ist. Die Aufgabe des Dichters war es nur, ihn zu deuten.“3 Den Begriff der Zeitlosigkeit erläutert Borchmeyer dahingehend, dass die Erzählform des Mythos eine nichtlineare Temporalität aufweist, da einerseits einzelne Elemente der Erzählungen zyklisch wiederholt werden, andererseits ein Mythos nie „zu Ende erzählt“ ist, da die weitergehende Bedeutungsebene immer im Hinblick auf die aktuelle gesellschaftliche Situation verstanden werden kann. In diesem Punkt liegt auch die inhaltliche Unerschöpflichkeit des Mythos begründet: Durch die fortlaufende Neuinterpretation vor allem der erweiterten Bedeutungsebene ist ein Mythos nie endgültig erklärt und liefert so ein unendliches Diskurs-Potential. Wagners Aussage, dass der Dichter den Mythos nicht erfinde, sondern nur deute, verweist darauf, dass ein Mythos eine an die Gesellschaft gebundene und nur in ihr existente Erinnerungsstruktur darstellt – sie kann nicht durch rein individuelle Erzählstrukturen generiert werden, sondern muss in das kollektive Gedächtnis übergegangen sein. Daher kann ein Dichter keinen Mythos erfinden, sondern nur bereits als Mythen existente Inhalte in seinen Werken wiederverwenden und neu ausformen.4
Der Mythos in den Metamorphosen
Versucht man nun, die gerade behandelten Aspekte auf die Episoden aus Ovids Metamorphosen zu übertragen, so ergeben sich drei größere Vergleichsfelder, anhand derer man einzelne Geschichten als Mythen einordnen kann: Zu den formalen und inhaltlichen Aspekten, die in den lateinischen Texten selbst analysiert werden können, kommt auch die Rezeption und Interpretation des Werkes hinzu, so dass z.B. im Unterricht Sekundärtexte herangezogen werden können.
Zunächst einmal charakterisiert sich die Funktion des Mythos als allgemeines Gleichnis formal durch die Wiederholung einzelner Versatzstücke des Mythos (sogenannte Mythologeme) und durch die Zirkularität der zeitlichen Grundstrukturen. In den Metamorphosen werden sowohl gleiche Elemente in verschiedenen Metamorphosen verwendet, wie die Verwandlung eines Gottes in ein Tier oder eine Person, um einen Menschen zu täuschen, als auch vollständige Erzählstrukturen einzelner Metamorphosen wiederholt, so zum Beispiel die Verwandlung einer weiblichen Figur als letzte Fluchtmöglichkeit vor einer sexuellen Annäherung. Durch die Wiederholung von bereits bekannten Elementen werden narrative Strukturen gefestigt und Regelmäßigkeiten akzentuiert, so dass der Leser sich einerseits in den Geschichten besser zurechtfindet (indem er zum Beispiel Handlungsverläufe antizipiert), er aber andererseits auch leichter von den individuellen Erzählungen abstrahieren kann, und dadurch auf die weitergehende Bedeutungsebene stößt, die als elementarer Bestandteil eines Mythos hinter der vordergründigen Geschichte steht. Ein sehr eindrückliches Beispiel für zirkuläre zeitliche Strukturen stellen die verschiedenen Schöpfungsgeschichten dar, die Ovid zu Beginn der Metamorphosen präsentiert und so die Erschaffung des Menschen mehrfach ablaufen lässt. Diese Kreisbewegung, die die Form des Mythos bestimmt, steht im Gegensatz zur Linearität „einfacher“ Geschichtsschreibung, woraus sich erklärt, warum Ovid als Mythenerzähler keine rein historiographische Erzählform verwenden kann.
Die inhaltliche Funktion des Mythos als Welterklärung findet sich in den Metamorphosen in den aitiologischen Metamorphosen wieder, die als Schöpfungsmythen fungieren – dazu zählen zum Beispiel die oben bereits erwähnte Erschaffung der Welt und des Menschen sowie die Entstehungsgeschichte der Korallen. Letztere ist zwar als Bestandteil der „Perseis“ eng mit dem griechisch-römischen Sagenkreis verbunden und somit nicht uneingeschränkt auf Gesellschaften mit einem anderen kulturellen Hintergrund übertragbar, aber insgesamt handelt es sich bei vielen Geschichten, die Ovid in den Metamorphosen erzählt, nicht um „typisch römische“ Erzählungen. So findet sich die Erzählung der Sintflut, die bei Ovid mit der Menschenschöpfung durch Deukalion und Pyrrha in Verbindung steht, nicht nur in den mindestens 400 Jahre älteren Bibeltexten des Buches Genesis, sondern beispielsweise auch im Gilgamesch-Epos, dessen Erzählungen sich ungefähr auf das zweite vorchristliche Jahrtausend datieren lassen.
Genauso wie Ovid für sein Werk auf bereits existierende Mythen zurückgreift und sie in den Metamorphosen neu kontextualisiert, dienen auch die Metamorphosen selbst als Vorbild für unzählige spätere Autoren. Ein Beispiel hierfür ist der Mythos von Pyramus und Thisbe, der von Shakespeare gleich zwei Mal wiederverwendet wird – einmal als narratives Versatzstück im Sommernachtstraum, und dann als inhaltliche Vorlage für Romeo und Julia, wo die Verbindung zur vordergründigen, antiken Geschichte im Text selbst nicht mehr klar herausgestellt wird. Genauso entwickelt sich auch der Pygmalion-Mythos über den namensgleichen Roman von George Bernard Shaw hin zu dem Film und Musical „My Fair Lady“, in dem die Idee des Künstlers, der eine ideale Frau erschafft, von der Statue auf ein Blumenmädchen übertragen wird und so die antike Vorlage ebenfalls verschleiert wird. Trotz der inhaltlichen Abweichungen in der vordergründigen Erzählung ist das allgemeine Gleichnis menschlichen Verhaltens, das auf der weitergehenden Bedeutungsebene sichtbar wird, bei allen drei Werken so weit identisch, dass Ovids Metamorphosen-Episode, Shaws Roman und dessen Verfilmung keine unterschiedlichen Mythen sind, sondern unterschiedliche Aktualisierungen desselben Mythos darstellen.
Der Facettenreichtum eines einzelnen Mythos zeigt sich einerseits in der Unbegrenztheit seiner möglichen Aktualisierungen, andererseits aber auch in der Vielzahl der möglichen Interpretationen einer spezifischen Aktualisierung. Als abschließendes Beispiel sei hierfür die Metamorphose des Actaeon aus dem dritten Buch der Metamorphosen angeführt: An dieser Geschichte kann man nicht nur die Problematik der Abgrenzung und
der Gegensätze (Gott/Mensch, Natur/Kultur, …) in den Fokus rücken, sondern auch den Aspekt des Sehens („Was hat Actaeon gesehen? Was hätte er (nicht) sehen dürfen?“) und den Aspekt der Sprache („Wer spricht zu wem? Wer darf reden/erzählen? Was bewirkt Sprache?“) als Ausformungen von Macht- und Hierarchiestrukturen untersuchen. Diese Aspekte wirken auf den ersten Blick vielseitig bis widersprüchlich, doch sie weisen in ihrer Gesamtheit auf einen zentralen Punkt der ovidischen Mythenerzählung hin: Die Actaeon-Episode, und mit ihr viele andere, steht paradigmatisch für ein allgemeines Problem des menschlichen Zusammenlebens, das auch heute noch aktuell ist.