Niklas Holzberg, Leben und Fabeln Äsops. Griechisch – deutsch.  Sammlung Tusculum.  De Gruyter, Berlin 2021, 434 Seiten, ISBN: 9783110713213, 59,95 € 

 Cover Holzberg Fabeln Äsops

In der Sammlung Tusculum im Verlag De Gruyter sind derzeit acht (!) bilingue Ausgaben von griechischen und lateinischen Fabeln erhältlich, angefangen bei der Zusammenstellung Aesopischer Fabeln von August Hausrath (1944, zuletzt 2014). Es folgen Lateinische Fabeln des Mittelalters von Harry C. Schnur (1979), Fabeln des Phaedrus von Eberhard Oberg (1996), Fabeln der Antike von Harry C. Schnur und Erich Keller (1997) und Äsop-Fabeln von Rainer Nickel (2005). In den letzten drei Jahren publizierte Niklas Holzberg drei umfangreiche lateinische und griechische Textausgaben, nämlich  Fabeln des Phaedrus (2018, zusammen mit  Stephanie Seibold), Fabeln des Babrios (2019)  und soeben Fabeln Äsops (2021), genauer „Leben und Fabeln Äsops". 

Äsop von Velázquez (1640), Öl, 1,79 cm x 94 cm, Museo del Prado, Quelle: Wikipedia

Von Verlagsseite heißt es dazu: „Bisher gibt es keine Bilingue, auch nicht in englischer Sprache, die Leben und Fabeln Äsops zusammen präsentiert; sie sind aber in den Handschriften zusammen überliefert. Während die Fabeln mehrfach in Übersetzung erschienen, gab es bisher die Vita, die auch als Äsop-Roman bezeichnet wird, nur in einer sehr freien DDR-Übersetzung (Slg. Dietrich). Sie ist aber von größtem Interesse, weil sie, erstmals in Steinhöwels Esopus von 1476 erschienen, einem der größten Bucherfolge der frühen Neuzeit (vergleichbar ist nur die Bibel), den neuzeitlichen pikaresken Roman stark beeinflusst hat. Die Fabeln sind ganz neu auf wissenschaftlicher Grundlage übersetzt; Holzberg ist u.a. Verfasser von Die antike Fabel, WBG 3. Aufl. 2012, engl. Übers. Indiana UP 2002, und als Fabelforscher auch in anderen Literaturwissenschaften international bekannt. Auch für Theologen ist die Vita interessant, weil sie eine auffallende Motivähnlichkeit mit derjenigen Christi in den Evangelien hat."

Beim ersten Blättern in dieser neuen Ausgabe fasziniert ungebrochen Äsop: Der Fuchs und die Trauben (Fabel 15) kam mir in den Sinn, als vergangenes Jahr im Garten regelmäßig Vogelfutter-Vorräte am Baum geplündert wurden, solange sie niedriger als zwei Meter hingen. Die Fabel vom Angeber (Fabel 33) zitierte immer wieder schmunzelnd mein Lateinlehrer zu Gymnasialzeiten, wenn er Schüler an die Tafel rief: Hic Rhodos, hic salta! Die Wanderer und der Bär (Fabel 65) beeindruckte mich schon früh: sowohl diejenigen Sportsfreunde, die vor dem Bären auf den Baum flüchteten als auch derjenige, der sich auf den Boden legte und sich gegenüber dem wilden Tier tot stellte, aber auch nicht weniger die Tatsache, dass der Bär diesem ins Ohr gesprochen haben soll, in Zukunft nicht mit solchen Freunden zusammen einen Weg zu gehen, die in Gefahren nicht dableiben. Natürlich auch die Fabel Rabe und Fuchs (Fabel 124), bei der Äsop am Ende nur meint: „Auf einen Mann ohne Verstand ist die Fabel gut passend." Noch eine Fabel: Der Bauer und seine Söhne (Fabel 42) ist mir seit Jahrzehnten vertraut, denn der Bauer, der im Sterben liegt, erzählt seinen Söhnen klugerweise, in einem seiner Weingärten liege ein Schatz. Wer kennt diese Fabel nicht, das Ideal einer klugen Reduktion: „Die Fabel zeigt, dass anstrengende Arbeit ein Schatz für die Menschen ist." Beim Lesen in dieser Ausgabe ist mir aufgefallen, wie stark diese Geschichten mich über Jahrzehnte und auch schon vor Jahrzehnten herausgefordert haben. Erst spät und vor allem an Fabeln habe ich gelernt, was sprachliche Brevitas bedeutet. 

Zum Lesen der 231 Fabeln motivieren natürlich auch die teils verwegenen Tier- und Figurenkombinationen in den Überschriften, die Neugier wecken und fragen lassen, wie denn daraus eine lehrreiche Geschichte werden kann: Die Nachtigall und die Fledermaus (F 48), Der Esel, der Hahn und der Löwe (F 82), Der verliebte Löwe (F. 140), Der liederliche junge Mann und die Schwalbe (F 169), Die Gans, die goldene Eier legt (F 87), die Liste lässt sich lange fortsetzen.

Beim diagonalen Lesen schon stellt sich heraus, wie verbreitet Äsop-Fabeln über die Jahrhunderte sind, sehr viele meint man seit Ewigkeiten zu kennen, offensichtlich weil ziemlich alle späteren Fabelautoren ihren Äsop gelesen und spontan oder zeitbedingt, phantasievoll und wortreich abgewandelt haben. Das ist übrigens nach meiner Erfahrung die größte Motivation für die Fabellektüre im Unterricht (neben den für sich selbst sprechenden Texten), zu verfolgen, welche verschlungenen Wege die Fabeln des Äsop über Phaedrus, Babrios, Luther, Lessing, La Fontaine, Wilhelm Busch, Franz Kafka, Wolfdietrich Schnurre, Reiner Kunze, James Thurber und viele andere genommen haben, wie sie erweitert, umgeschrieben, neu akzentuiert wurden, und dabei zu sehen, welche Vorzüge die ältesten, quasi die Ur-Fabeltexte haben. In der Rubrik Erläuterungen nennt Niklas Holzberg übrigens zu jeder Fabel  die thematisch verwandten Versionen anderer antiker sowie (in Auswahl) mittelalterlicher und neuzeitlicher Autoren (410–420).

Äsop und die Priester (Francis Barlow, 1687). The 1687 edition of Aesop's Fables with His Life: in English, French and Latin. Quelle: Wikipedia

Das Besondere an diesem Tusculumband liegt aber nicht (nur) in einer weiteren Übersetzung Äsops (mehr zur Übersetzung der Fabeln „so wörtlich wie möglich” S. 41). Erstmals wird in einer Bilingue eines deutschen Verlags eine Biographie Äsops, geschrieben im  Griechisch des 1./2. Jahrhunderts n. Chr., den Fabeln vorangestellt, ganz so wie in einem Kodex der Bayerischen Staatsbibliothek in München (gr. 564) und in der berühmten Ausgabe des Esopus durch den Arzt und Humanisten Heinrich Steinhöwel 1476/77 in Ulm, einem der größten Bucherfolge der frühen Neuzeit. Ob Äsop – anders als in seiner Biographie beschrieben – jemals existiert hat, ist ja keinesfalls sicher. Schon im Alterum rankten sich um Äsops Person deshalb viele  Legenden. 

Illustration zu Äsops Fabel „Der Löwe und das Mäuschen“. Äsop für Kinder. Quelle: Wikipedia

Umso mehr sind Gliederung, Aufbau und Intentionen der Schrift zur Biographie Äsops von Interesse. Niklas Holzbergs gliedert sie in drei Handlungsabschnitte, die jeweils von mehreren Episoden konstituiert werden. Er zeigt, dass der anonyme Autor der Äsop-Vita ältere Texte evoziert und ein literarisches Spiel mit ihnen treibt. Außer Odysseus ruft er wohl Sokrates ins kulturelle Gedächtnis, zudem den Kyniker Diogenes und weitere Figuren und Motive der Philosophenverspottung. Er unterstreicht, dass der Anonymus „die Vita mit anderen literarischen Werken intertextuell vernetzt” (22) hat, nicht nur der griechischen Literatur, sondern auch im Bereich altägyptischer Religion und Kultur (25). Spannend ist die Geschichte der Äsop-Drucke überall in Europa; es gab Ausgaben in japanischer und chinesischer Schrift, letztere aus der Zeit um 1615 wurde bis ins 19. Jahrhundert zehnmal nachgedruckt. „Leben und Fabeln Äsops” in seiner durch Steinhöwel veränderten Gestalt war übrigens das erste Werk eines nicht-christlichen westlichen Autors, das nach Japan einreiste (S. 38).

An illustration of the fable of the Fox and the Crow from Kalila and Dimna, otherwise known as the fables of Bidpai. The story is familiar in the West as one of Aesop's fables. 13. oder 14. Jahrhundert. Quelle: Wikipedia


 

Giovanni Boccaccio, Von berühmten Frauen. Ausgewählt und neu übersetzt von Martin Hallmannsecker. Mit einem Nachwort von Kia Vahland, C.H.Beck textura, München 2021, 159 Seiten mit 21 Abbildungen, ISBN 978-3-406-75628-3,  18,00 €

 Cover Boccaccio Berühmte Frauen

 

Auf Boccaccio bin ich neu aufmerksam geworden durch das schöne Buch von Tobias Roth: Welt der Renaissance (Galiani Verlag, Berlin 2. Aufl. 2021). Tobias Roth nennt Giovanni Boccaccio dort „einen großen Sammler und Kompilator, der altes Wissen neu ordnet, aufbereitet, sichert und verbreitet. Besonders seine Wissenszusammenstellungen von teils enzyklopädischem Ausmaß entfalten als Nachschlagewerke eine ungeheure Wirkung.” 

Roth erwähnt dann die „Sammlung von exemplarischen Lebensbeschreibungen berühmter und nachahmenswerter Männer und Frauen, betitelt De casibus virorum illustrium, in der es nicht so sehr darum geht, historisch Verbürgtes gegen Mythologisches abzugrenzen, als vielmehr einen Kanon von Moral und Tugend aufzufächern”. Roth nennt auch die Schrift De mulieribus claris – das erste Werk dieser Art, das sich ausschließlich Frauen widmet. Boccaccio kompiliert, kommentiert und vermittelt nicht nur „die berühmten Persönlichkeiten der Antike, sondern auch die berühmten Berge, Flüsse, Wälder, Seen und Landschaften (De montibus, silvis, fontibus, lacubus, fluminibus, stagnis seu paludibus et de nominibus maris liber), und vor allem die Götter mit seinem De genealogia deorum gentilium ... in einer eigentümlichen Mischung aus verschiedenen Wissensbereichen, aus Antikenbegeisterung, Christentum und Rationalismus” (Roth, 46f).

Im Prolog zu der 1361–62 verfassten Sammlung von Biographien berühmter Frauen De mulieribus claris nimmt Giovanni Boccaccio bereits Im zweiten Satz Bezug auf seinen Freund und Lehrer Francesco Petrarca, der 1351 eine betont maskuline Vitensammlung – De viris illustribus –  herausgebracht hatte, um dann sogleich zu monieren, „dass Frauen von Schriftstellern dieses Genres so wenig beachtet wurden, dass ihnen noch nie die Gunst einer Verewigung in einer gesonderten Darstellung zuteil wurde.” (8) Das veranlasst ihn zu seinem Vorhaben, „all jene Frauen, deren Gedächtnis bis heute fortlebt, zur Verherrlichung ihres Ruhms in einem einzigen Werk zu versammeln. Diesen will ich noch alle jene hinzufügen, die berühmt wurden durch ihre Tapferkeit, ihre Geisteskräfte und ihre Beharrlichkeit, ihre natürlichen Gaben, die Gunst des Schicksals oder ein erlittenes Unrecht” (8). Kriterium ist für Boccaccio allerdings nicht allein Tugendhaftigkeit, sondern „dass sie in der Welt aufgrund welcher Tat auch immer Bekanntheit erlangt haben und dass über sie gesprochen wird”. 

Aus dieser Motivation heraus entstand De mulieribus claris. Diese Sammlung von 106 Porträts berühmter Frauen hat Boccaccio bis zu seinem Tod 1375 immer wieder überarbeitet (eine vollständige Liste aller Porträts findet man S. 147–150).  Die 31 schönsten Geschichten versammelt Martin Hallmannsecker in diesem schönen Band, beginnend mit der biblischen Eva. Boccaccio sprach sich dafür aus, „all diese beinahe ausschließlich heidnischen Frauen, mit Ausnahme der ersten Mutter Eva, nicht mit heiligen Jüdinnen und Christinnen zu vermischen, da sie nicht gut genug zusammenpassen und sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu bewegen scheinen” (Prolog S. 9). 

Charmant und mit geistreichem Witz stellt Boccaccio starke Frauen vor wie die kämpferische Semiramis, die Königin der Assyrer (in der bildenden Kunst dargestellt mit halbfertiger Frisur, die sie angeblich beibehielt bis zur gewaltsamen Rückeroberung der mächtigen Stadt Babylon), Minerva, die Göttin der Weisheit und Erfinderin des Olivenöls und seiner Verarbeitung (sie „war eine Jungfrau von solch herausragendem Ruhm, dass die einfältigen Menschen dachten, sie könne nicht von sterblicher Abstammung sein”, S. 19), die Prophetin Carmenta (sie machte sich mit der ganzen Kraft ihres Genies daran, den Menschen an der Mündung des Tibers ein eigenes Alphabet zu geben, das völlig anders war als das eines jeden anderen Volks, S. 31), die Menelaosgattin Helena (die sogar das göttliche Genie Homers an seine Grenzen brachte, dem es nicht gelang, sie den Regeln seiner Kunst entsprechend in Versen zu beschreiben, S. 36), die selbstbestimmte erwachsene, ganz im Dienst der Diana lebende Jungfrau Camilla, Königin der Volksker, Penelope natürlich, Dido, die Gründerin Karthagos, Sappho, die junge Frau aus Lesbos (die „angespornt von dem nach Höherem verlangenden Feuer ihres Geistes und der Kraft ihres lebhaften Intellekts durch aufmerksames Studium über manchen Abgrund hinweg auf den hohen Gipfel des Parnass gelangte und sich ... unter die Musen mischte, die sie freundlich aufnahmen”, S. 63f.), die Ägypterkönigin Kleopatra („außer durch ihr schönes Gesicht und die Tatsache, dass sie die Herrschaft über ihr Reich durch ein Verbrechen erlangt hatte, zeichnete sie sich durch nichts besonders aus ...”, S. 99), und Zenobia, die Königin von Palmyra (sie soll „sich so sehr zu männlicher Härte gestählt haben, dass sie gleichaltrigen jungen Männern im Kampf und bei den Übungen in der Palästra kräftemäßig überlegen war”, S. 116). 

Heilig sind sie alle nicht, auch nicht immer tugendhaft, Beispiele dafür sind etwa Flora und Leaina, beide Prostituierte; Boccaccio beginnt die Biographie von Leaina, einer Zeitgenossin der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton, so: „Auch wenn sie nicht besonders tugendhaft war, möchte ich sie hier dennoch – mit freundlicher Erlaubnis der ehrenvollen Damen und vornehmen Königinnen – als eine der berühmten Frauen beschreiben. Denn ich habe ja eingangs versprochen, nicht nur tugendhafte Frauen vorzustellen, sondern auch solche, die aus anderen Gründen berühmt waren. Außerdem sehen wir uns der Tugend so sehr verpflichtet, dass wir nicht nur jene Form von ihr verherrlichen wollen, die bereits sichtbar vor allen aufgepflanzt erscheint, sondern auch versuchen müssen, jene ins verdiente Licht zu rücken, die unter der Hülle der Schändlichkeit verborgen liegt” (S. 70). 

Schon im Vorwort staunt der Schriftsteller über Frauen, „die über einen großen, aber gefährlichen Geist verfügten”. Besonders die überlieferten sprachlichen und künstlerischen Leistungen von Frauen bewundert Boccaccio. Sappho entzückt ihn mit dem „Feuer ihres Geistes”, Hortensia brilliert mit ihrem rhetorischen Geschick vor Gericht durch „kunstvolle und elegante Beredsamkeit”, Proba studiert und vermittelt vorbildlich die heiligen Schriften, Cornificias Epigramme strotzen vor „poetischer Gelehrsamkeit”. Die Künstlerin Thamaris wird für ihr Diana-Bild verehrt, ihre Kollegin Marcia hat es mit Bildern von Frauen verdientermaßen zu Geld gebracht. Hier spricht der Denker und Dichter Boccaccio als Kollege – meint die Kunsthistorikerin und Journalistin Kia Vahland im Nachwort zu dieser Ausgabe in der neuen Übersetzung von Martin Hallmannsecker. Illustriert ist das Buch mit 21 Holzschnitten aus dem Erstdruck der frühneuhochdeutschen Übersetzung 1473 von dem Ulmer Stadtarzt Heinrich Steinhöwel (in der Offizin von Johann Zainer), die in den folgenden hundert Jahren in sechs Ausgaben teils mit colorierten Holzschnitten neu herausgegeben wurde. 

Diese frühen Übersetzungen wurden durch eine Reihe von Neudrucken der lateinischen Ausgabe ergänzt. 

Die hohe Zahl von Nachdrucken und Übersetzungen, die aus dem 14. bis 16. Jahrhundert überliefert sind, lassen auf eine große Beliebtheit und Verbreitung des Buches schließen. Allen Frauen, von denen Boccaccio erzählt, ist gemeinsam, dass sie sich durch ihre Tüchtigkeit, ihre Geisteskräfte und ihre Beharrlichkeit in der Männerwelt durchgesetzt haben – und Geschichten von weiblicher Durchsetzungsfähigkeit besitzen auch heute wieder große Aktualität. 


 Alexander Demandt: Grenzen. Geschichte und Gegenwart, Propyläen Verlag, Berlin 2020, 656 Seiten, 28 Euro 

 Cover Demandt Grenzen

„Beim Schreiben keines meiner Bücher (konnte und musste ich) so viel lesen und lernen wie bei diesem”, bekennt Alexander Demandt in der Vorrede zu diesem Buch von 656 Seiten und 826 g. Wenige Zeilen später schreibt er nachvollziehbar erschöpft: „Damit verabschiede ich mich erst einmal aus der res publica litteraria bis auf weiteres. Scripsi quod placuit, legat cui prodest!” (Vorrede S. 11).

Alexander Demandt lehrte von 1974 bis 2005 an der Freien Universität in Berlin und ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen. Zuletzt erschienen: „Zeit. Eine Kulturgeschichte” (2015), „Marc Aurel. Der Kaiser und seine Welt“ (2018), „Magistra Vitae. Essays zum Lehrgehalt der Geschichte“ (2020) und in 4. veränderter Neuauflage „Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike“ (2020). Das vorliegende Buch bezeichnet der Autor als „Alterswerk“ (S. 10). Es stützt sich auf Vorarbeiten zu Vorlesungen im Winter 1987/88 an der FU Berlin, eine Zeit, in der „eine große Grenzveränderung in der Luft lag“ (S. 10).

Natürlich war das Echo auf dieses Buch über die Geschichte und Gegenwart von Grenzen aus der Feder von Alexander Demandt in den Printmedien beträchtlich. Johan Schloemann schreibt in der SZ vom 13.10.2020:  Es gibt Grenzen. Das ist, falls jemand eine ganz kurze Zusammenfassung braucht, die Botschaft des neuen Buches von Alexander Demandt. Wer Grenzen als willkürlich, unmenschlich oder einfach nur lästig empfindet, erfährt von dem Alt- und Universalhistoriker etwas anderes: Sie gehören nicht nur notwendig zur Realpolitik, sondern zum Wesen menschlicher Kultur. Von Adam und Eva bis zu Angela Merkel. Von der Gartenhecke bis zum Föderalismus. „Die sachliche Begrenztheit des Lebens”, so Alexander Demandt, „beherrscht alles Handeln. Durch räumliche Grenzen ist das Einzelleben wie das Zusammenleben geprägt. Das gilt für den Familien- und Sippenverband, gilt für Eigentum und Landbesitz, gilt für Kommunen, Staaten und Einflusszonen.” Denn: „Alles endet irgendwo, irgendwann, irgendwie.” Durch Grenzen aller Art „entstehen Individualität und Identität”, und einen überschaubaren Geltungsbereich brauche auch das Recht, „das den Egoismus begrenzt”.

Wolfgang Schneider endet seine Rezension im Berliner Tagesspiegel vom 16.11.2020: Dieses Buch ist das Spätwerk eines verdienten Historikers, der sich um akademische Duftmarken nicht mehr scheren muss. Er schreibt ohne Forschungsgeklapper und Terminologie, dafür mit einer Neigung zum Aphoristischen und Anekdotischen, etwa wenn es um die Einbürgerungsrituale im mittelalterlichen Köpenick geht. Neubürgern wurden damals sechs Peitschenschläge verabreicht, der erste für den König, der zweite für den Magistrat, ein weiterer für die gute Nachbarschaft. So sollte den Zuwanderern Respekt eingebläut werden. Das will Demandt natürlich nicht als Empfehlung für unsere „humanitäre“ Zeit verstanden wissen, aber es macht deutlich, dass eine mit staatlichen Leistungen verbundene Willkommenskultur in historischer Perspektive tatsächlich eine erstaunliche Novität oder Errungenschaft ist. Um solche politischen Einlassungen geht es Alexander Demandt aber nur am Rand. Seine umfangreiche Darstellung befasst sich nicht mit theoretischen Hintergründen, sondern addiert geduldig die Fakten. Sein Buch ist – Epoche für Epoche und Erdteil für Erdteil – ein enzyklopädischer Durchgang durch die Weltgeschichte, dessen geballte Informationsfülle irgendwann ermüdend wirkt. Bei der fortlaufenden Lektüre vermisst man argumentative und darstellerische Bögen. Mit großem Gewinn lässt sich dieses Buch jedoch als Nachschlagewerk nutzen. 

Rezensent Uwe Walter (in der FAZ vom 16.10.2020) notiert: „Buntschriftsteller” werden antike Autoren genannt, die allerlei Wissenswertes zusammentrugen, um es zwecks Instruktion und Unterhaltung auszubreiten. Einer komponierte etwa in langen „Attischen Nächten” eine Art fortlaufendes Lektüreprotokoll, scheinbar zufällig, wie ihm Wissenswertes und Kurioses gerade unterkamen, auf dass seine Kinder „in den Freistunden, wenn sie sich von ihren Arbeiten geistig ausruhen und ihrem eigenen Vergnügen nachhängen können, auch sofort eine angemessene Erholungslektüre vorfinden sollten”. Soziale Überlegenheit manifestierte sich bereits hier in Bildung, freilich kombiniert mit einem Habitus des Unangestrengten. Auch Alexander Demandt breitet in seinen Büchern Schätze eines stupenden Gedächtnisses und prall mit Fakten, Erklärungen, Geschichten gefüllter Zettelkästen aus, angereichert durch Selbsterlebtes aus Tagebüchern, Briefen und Erinnertem. Listig bringt er damit zwei einst selbstverständliche Säulen der Orientierung in der Welt zu Ehren: Wissen und Arbeit. Dabei pflegt er eine additive Ordnung: Der Stoff wird nach verschiedenen Achsen sortiert und dann wie Perlen auf Schnüre gezogen. Diese Bildung ist Instrument bürgerlicher Weltbewältigung.

Im Deutschlandfunk Kultur besprach Wolfgang Schneider schon am 28.09.2020 den Band: Geht es auch ohne Grenzen? – Seit einigen Jahren sind Grenzen wieder zum großen Streitthema geworden. Für manche politischen Träumer gehören sie prinzipiell abgeschafft: No borders. Grenzen schränken die Freiheit von Menschen ein; Waren und Menschen sollen strömen. Zuletzt wurden allerdings, vor allem in Zusammenhang mit der Migration, immer mehr Gegenstimmen laut, die wieder das Lob der geschützten Grenze singen. Demandt behandelt die gegenwärtige Situation – entgegen der Ankündigung des Untertitels – leider nur in wenigen Sätzen. Die sind allerdings unmissverständlich: „Wo die Eigenverantwortung für die Staatsgrenzen gemindert oder gar aufgegeben wird, stehen die drei Elemente der Staatlichkeit, stehen Staatshoheit, Staatsgebiet und Staatsvolk zur Disposition.“ Völker, die ihr abgegrenztes Territorium verloren haben, verschwinden fast immer aus der Geschichte. 

Mehr Grenzen als je zuvor – Wer meint, der Weltgeist tendiere im Zeichen von Kooperation und Kommunikation zur Aufhebung von Grenzen, den belehrt Demandt eines Besseren. Die Länge von Grenzen hat sich mit der Zahl der Staaten im 20. Jahrhundert verdreifacht, der Globalisierung steht die Regionalisierung gegenüber. Erst recht im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Interessen hat sich die Zahl der strittigen Grenzfragen erhöht, insbesondere bei Fischereirechten und der Ausbeutung von Energie-Ressourcen: „Angesichts der allgemeinen Tendenz zur Auf- und Zuteilung von Zuständigkeitsbereichen werden vermutlich (…) die Weltmeere samt dem Meeresboden bis zur maximalen Tiefe von 11034 Metern von den Nationen eines Tages vergrenzt.“

Peter Flick verfasst im Portal socialnet einen kritischen Durchgang durch den umfangreichen Band und formuliert schließlich als Kritik:  Alexander Demandts legt mit seinem Buch eine enzyklopädisch angelegte Weltgeschichte der Staatengrenzen vor. Nur selten wechselt er dabei aus der Perspektive der „großen“ Staatengeschichte in die der Geflüchteten und Vertriebenen. Offensichtlich fasziniert den Autor die Geschichte der Hegemonialmächte mehr als die „kleinen“ Geschichten der „Grenzüberschreitungen in die Freiheit“ (Jürgen Osterhammel). Das Auf und Ab geopolitischer Machtausdehnungen gehört für Demandt zum undurchdringlichen, irrationalen Kern der Menschheitsgeschichte, an der sich auch in Zukunft die liberalen Theoretiker des Völkerrechts ihre Zähne ausbeißen werden. Angesichts der Tendenz zur Entstaatlichung der Politik und globaler Verteilungskämpfe um Wohlstand geht es für Demandt in Zukunft um die Sicherung kultureller Großräume. Dabei ist die demokratische Vertiefung der europäischen Staatlichkeit und die Weiterentwicklung zu einem konstitutionellen Völkerrecht für ihn keine realistische Option. 

https://www.socialnet.de/rezensionen/27623.php

Uwe Walter fasst seine Besprechung zusammen (FAZ 16.10.2020): Sucht man in dieser Ausschüttung nützlichen Wissens – kaum eine Buchseite bietet weniger als zwanzig distinkte Informationen – einen roten Faden, so wäre dies wohl ein robuster Common Sense, gepaart mit mancherlei Sarkasmen. Vor Jahrzehnten hat Demandt einen schönen Aufsatz über Politik in den Fabeln Aesops publiziert, und sein Bild des Verhältnisses von Macht und Recht bewegt sich in der Fluchtlinie der resignierten Klugheit der Schwachen in diesen Texten. Besonders das Völkerrecht und die UN nimmt er gern aufs Korn, seien doch die Resolutionen und Charten letzterer, „um mit Mao zu sprechen – Papiertiger”. Recht erwachse aus der Angst vor dem Unrecht, das ein Schwacher fürchten, ein Starker nicht scheuen müsse, so der Prophet Habakuk und der Dichter Horaz. Lehnte nicht Romulus feste Landesgrenzen ab, weil sie einen dynamischen Staat entweder fesselten oder ins Unrecht setzten? Erst sein Nachfolger Numa, so erfahren wir via Demandt von Plutarch, fixierte Staatsgrenzen und erkannte damit fremdes Recht an. Rom jedoch haben Grenzen auch danach nie an der Expansion gehindert.

Wenn Sie demnächst coronabedingt Urlaub in Balkonien machen oder gegen Corona geimpft Ferien in der Ferne, nehmen Sie sich von Alexander Demandt den Band zur Kulturgeschichte der Zeit und zur Geschichte und Gegenwart der Grenzen mit. Sie sind die Anstrengung der Lektüre wert!

Quellen: 


Catull, Carmina, bearbeitet von Rudolf Henneböhl (Reihe Latein kreativ Band 7), ISBN 978-3-938952-39-9, 160 Seiten mit über 100 farbigen Abbildungen, Ovid-Verlag, Bad Driburg 2021, 15,00 €  Lehrerprüfstück: 12 €, Studenten und Referendare: 10 € 

 Cover Catull Carmina

Ein anspruchsvolles Lektüreprogramm für die Oberstufe lässt sich mittlerweile gut bestreiten mit den bislang erschienenen Textausgaben der Reihe Latein Kreativ des Bad Driburger Ovid-Verlags, allesamt konzipiert und illustriert von Rudolf Henneböhl. Mit Beginn des Jahres 2021 ist Band VII anzuzeigen, die Ausgabe der Carmina Catulls. Den Anfang machte Kollege und Verlagschef Henneböhl (vgl. Seite 37 bis 39 dieser Ausgabe) mit Ovids Metamorphosen, es folgten im Band II Ars amatoria und Remedia Amoris, dann kamen Vergils Aeneis und mit den Philosophischen Schriften Senecas als Band IV ein weiterer Gattungswechsel, mit Band V eine Rückkehr zu Ovid und den Amores, Band VI führt zu Apuleius' Amor und Psyche, einem spätantiken Roman, ein tiefenpsychologisch interpretierbares Mythenmärchen. Nun also die Carmina Catulls (für alle, die wissen möchten, wie es nach dem kurz vor Fertigstellung begriffenen Lehrerkommentars dazu weitergeht: Rudolf Henneböhl hat als nächste Titel die Utopia des Thomas Morus und De rerum natura von Lukrez im festen Blick).

catullModerne Statue des römischen Dichters Gaius Valerius Catullus in Sirmione

Die Ausgabe enthält neben einem umfangreichen Einleitungs- und Anhangsteil (Catulls Leben und Werk / Antike Liebeslyrik / Die Neoteriker und ihr dichterisches ideal / Unterscheidung von Autor und Persona / Antike Schriftkultur / usf.) die bedeutendsten Gedichte aus Catulls Carmina, wobei alle Gattungen repräsentiert sind. Der Schwerpunkt liegt weniger auf den Invektiven, sondern auf Dichtkunst und Gehalt von Catulls Werk. So werden auch die Carmina maiora, vor allem c. 64, eingehend berücksichtigt. Hier sind es vor allem die existenziellen, auch für heutige Schüler spannenden und interessanten Aspekte,
die zu einem existenziellen Transfer anregen sollen. In c. 64, einem neoterischen Epyllion, verbindet Catull die mythologische Welt der Frühzeit (heroisches Zeitalter) mit seiner eigenen Zeit und kontrastiert die Welt der Liebe mit der des Krieges. Das scheinbare „Hochzeitsgedicht” enthält als zentralen Mittelteil eine berühmte Ekphrasis – die Beschreibung der Hochzeitsdecke mit der Abbildung der verlassenen Ariadne am Strand von Naxos. In dem mythologischen „Textil” sind indirekt auch das Verhalten von Mann und Frau in der Liebe, die Geschlechterbeziehung und der Umgang mit zutiefst aufwühlenden Emotionen und Leidenschaften thematisiert. Insgesamt verblüfft das komplexe Spannungsgefüge des spiegelsymmetrischen Aufbaus den Leser immer wieder mit abrupten Themenwechseln und einer harten Verurteilung nur scheinbar „heroischer” Gewalt. Die Polarität von Krieg und Frieden sind darin ebenso als politisches wie als privates Thema angesprochen und bieten intensive und spannende Aspekte der Interpretation. Natürlich sind alle zentralen Gedichte des Lesbia-Zyklus mit aufgenommen, so dass auch hier ein Schwerpunkt gesetzt werden kann. 

Immer wieder werden ergänzende Texte der Römischen Liebeselegie (vor allem aus Ovids Amores und Heroides) zum Vergleich mit herangezogen. So möchte die Ausgabe den Blick auch auf die Bedeutung von Catulls Werk für die römische Liebesdichtung insgesamt lenken. Der Anhangsteil enthält neben den inhaltlichen Schwerpunkten (Wortschatz, Metrik und Stilmittel) immer wieder auch Übungen, die in den Unterricht mit eingebaut oder als Hausaufgabe gestellt werden können und auch zum Eigenstudium anregen. Insgesamt will die Ausgabe zu einem existenziellen Umgang mit Catulls Dichtung anregen. Dazu dienen verschiedene Arten der Hinführung, die moderne Bebilderung, die Art der Aufgabenstellung und – ergänzend – die kreativen Aufgabenformen, alles Markenzeichen der Reihe Latein kreativ.

Edward Poynter (1836–1919), Lesbia und ihr Spatz (1907)

Catull S.90

Catull S.90

Catull S.90

Catull S.90


Christian Fron, Bildung und Reisen in der römischen Kaiserzeit. Pepaideumenoi und Mobilität zwischen dem 1. und 4. Jh. n. Chr. (Reihe: Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte, Band 146), Verlag De Gruyter, Berlin/Boston 2021, ISBN 978-3-11-069871-8, 109,95 € 

Cover Fron Bildung und Reisen 

Molesta est peregrinatio –  Reisen ist eine beschwerliche Sache, das stellte nicht erst Augustinus (sermo 378) fest und sicherlich empfanden das viele Römer und Griechen vor und nach ihm genauso.

Umsomehr erstaunt die beträchtliche Mobilität im Kontext der Ausbildung zum Arzt, Juristen, Philosophen oder Sophisten sowie die Reisetätigkeit für das öffentliche Auftreten als Gelehrter oder auch zur Steigerung und Zurschaustellung eigener Paideia. Christian Fron geht diesem Phänomen der Mobilität griechischer Gelehrter, Pepaideumenoi, für die Zeit vom 1. bis zum 4. Jh. n. Chr. in seiner Stuttgarter Dissertation nach, die kürzlich bei De Gruyter als Print- und Onlineausgabe erschienen ist.

Der Autor bemerkt einleitend, dass die Forschung bislang den Focus zumeist auf die Mobilität der römisch-senatorischen Oberschicht gerichtet habe, dabei zeigten doch die Philosophenbiographien des Philostratos oder die Schriften anderer griechischer Gelehrter aus der römischen Kaiserzeit, dass die Mobilität dieser Männer für ihre Profession eine zentrale Rolle spielte. Mit dieser Studie setzt sich Christian Fron zum Ziel, die wesentlichen Formen und Motive von Mobilität in der Kultur der Zweiten Sophistik, aber auch die räumliche Dimension des Reisens bei kaiserzeitlichen griechischen Gelehrten zu ermitteln. Einen weiteren Schwerpunkt der Arbeit bildet die Paideia als steter Kern sowie konstituierendes Merkmal eines in der Öffentlichkeit auftretenden gebildeten Mitglieds der lokalen Oberschicht (pepaideumenos). 

Die Arbeit gliedert sich somit in drei Teile: Im ersten Kapitel werden Reisen untersucht, „deren beim Reiseantritt jeweils zugrundeliegende Hauptmotive zunächst in einem Erwerb sowie später in der Pflege und Anwendung von paideia bestanden” (S. 3). Eine neue Methode zur besseren Einschätzung der im antiken Bildungsbetrieb zurückgelegten Distanzen wird in Kapitel 2 vorgestellt und angewandt (S.3). Um einen zusätzlichen Maßstab für die Bewertung der Qualität und Anziehungskraft einzelner Bildungsmetropolen zu erhalten, werden die Einzugsgebiete einzelner bedeutender Studienorte berechnet. Das dritte Kapitel widmet sich den Reisen bei der Ausübung der Profession sowie der Bedeutung von Mobilität beim Streben nach Ruhm und Ehre als Gelehrter. Untersucht werden dabei die Voraussetzungen für die Etablierung in einer fremden Stadt und die Aufstiegschancen bis hin zur renommierten Anstellung als öffentlich besoldeter Gelehrter. Im Blickfeld stehen die vier vor allem berücksichtigten Gelehrtengruppen (Sophisten, Juristen, Philosophen und Ärzte) und ihre professionsspezifischen Reisetätigkeiten. Speziell betrachtet werden die panhellenischen Spiele mit einem besonders illustren Publikum, um sich einer breiten Öffentlichkeit als Intellektueller zu präsentieren. Die Karten im Anhang (A87 – A114) zeigen die Einzugsgebiete einzelner Bildungsstätten (z.B. Ephesos und Pergamon oder auch Rom und  Athen im 2., 3. und 4. Jahrhundert). Sie ermöglichen die Errechnung der in der Studie engearbeiteten Distanzangaben und nehmen Regioneneinteilungen sowie Grenzziehungen vor. 

Aelius Aristides. Statue des Aelius Aristides. Eine Kopie aus dem 2. Jahrhundert. Ausgestellt in den Vatikanischen Museen. Quelle https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Aelius_Aristides_(Vatikanische_Museen).jpg

Beim Lesen des Buches und der zahlreichen Quellen – bestechend durch großen Detailreichtum und erstaunliche Lebendigkeit – habe ich für mich den Eindruck gewonnen, dass Autoren wie Aelius Aristides, Libanios, Eunapios und Philostratos eine nähere Beschäftigung wert sind und dass es zum Thema Reisen im griechischsprachigen Ostteil des Römischen Reiches eine unerwartete Fülle ergiebiger Quellen gibt (die Briefe des Libanios, die gut 40 Jahre unberührt in meinem Regal standen, habe ich wieder in die Hand genommen: an die 1600 Briefe von ihm sind erhalten, eines der umfangreichsten erhaltenen Briefkorpora der Antike überhaupt, verloren ging eine noch größere Anzahl, er muss – so hat man errechnet – alle drei Tage einen Brief verfasst haben). 

Eunapios von Sardes. Titelblatt der Vitae sophistarum des Eunapios von Sardes; griechisch-lateinische Ausgabe von Hadrianus Junius, Heidelberg 1596. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Eunapios_von_Sardes#/media/Datei:Eunapios_von_Sardes.jpg

Einen lebhaften Eindruck von seiner Heimreise nach Kappadokien vermittelt das Schreiben des Neuplatonikers Eustathios an Kaiser Julian Apostata:  „Wie glücklich fügte es sich doch, dass mich die Fahrerlaubnis zu spät erreichte! Anstatt mit Zittern und Zagen in einem Wagen der Staatspost dahinzufahren, auf betrunkene Maultiertreiber angewiesen zu sein und auf Maultiere, die vor Nichtstun und Überfütterung, um mit Homer zu sprechen, der Hafer sticht, anstatt Staubwolken zu ertragen, wüstes Geschrei und das Geknalle der Peitschen, genoss ich den Vorzug, gemächlich dahinzuziehen auf einer von Bäumen gesäumten schattigen Straße, an der es viele Brunnen gab und, dem Bedürfnis der Jahreszeit entgegenkommend, Raststätten zum Ausruhen während der Reisemühe. Da fand ich dann jeweils einen luftigen Rastplatz im Schatten von Platanen oder Zypressen, den 'Phaidros' in Händen haltend, den Myrrhinusier, oder eine andere Schrift Platons. Im Genuß dieser ungebundenen Wanderschaft hätte ich es als abwegig empfunden, wenn ich nicht auch dir, du hocherhabenes, geweihtes Haupt, Mitteilung und Bericht davon hätte zukommen lassen”. (S. 51f, F. 226, Jul. epist. 9a). 

Unnötigen Luxus verachtend beschreibt Dion Chrysostomus sein Erscheinungsbild am Beginn seiner Wanderjahre: „So machte ich mir selbst Mut, mich weder zu fürchten noch deswegen zu schämen. Ich zog ein ärmliches Kleid an, nahm alle Entbehrungen auf mich und zog durch die Welt. Wer mich unterwegs sah, nannte mich einen Landstreicher oder Bettler, der eine oder andere auch einen Philosophen. So kam es, dass ich allmählich diesen Titel erhielt, gegen meinen Willen und ohne mir etwas darauf einzubilden” (S. 54, F. 236 Dion Chrys. 13,10f).

Römische Straße nahe Antiochia. Ancient Roman road near Tall Aqibrin in Syria. This road connected Antioch and Chalcis. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ancient_Roman_road_of_Tall_Aqibrin.jpg

Eines der wichtigsten Erkennungsmerkmale für pepaideumenoi stellen Buchrollen dar, auch auf Schiffsreisen, auch auf jener in der romanhaften Apolloniosbiographie des Philostratos, wo es zur Begegnung von Timasion mit der Gelehrtengruppe um den Philosophen Apollonios von Tyana kommt:

„Als er nun den Apollonios den Fluß hinauffahren sah, während er selbst abwärts fuhr und wahrnahm, dass die Schiffsgesellschaft aus weisen Männern bestand, was er aus ihrer Kleidung und aus den Büchern, mit denen sie sich beschäftigten, schloss, bat er sie inständig um die Erlaubnis, an ihrer Reise teilzunehmen, da er auch ein Freund der Weisheit sei” (S. 63f. Philostr. Apoll. 6,3).

Neben Ägypten waren auch Regionen außerhalb des Imperium Romanum das Ziel von Reisen griechischer Philosophen. Diogenes Laertios (proem. 1) weist zwar den barbarischen Ursprung der Philosophie zurück, doch lagen nach der Vorstellung kaiserzeitlicher Griechen wichtige Bezugspunkte einer ursprünglichen Philosophie, einer barbaros sophia, vor allem im fernen Osten. An Anreizen zu Reisen zu indischen Gelehrten und persischen Magiern fehlte es nicht und Quellen berichten von derartigen Philosophischen Reisen (Vgl. S. 112); die Reise des Pythagoras nach Indien (Apuleius, flor. 15) dient als Vorbild. Über die Reise des Apollonios von Tyana nach Persien und Indien berichtet Philostratos  – allerdings sehr roman- und märchenhaft, zu verstehen primär als allegorische Beschreibung intellektueller Prozesse und Entwicklungen (S. 116). Essentiell für den Erfolg der Reise waren nach Aussage des Philostratos die Kontakte zu den Herrschern des Landes sowie deren Vertretern, welche die Reisegruppe regelmäßig versorgten und neu ausstatteten. Bei der Verabschiedung des Damis und des Apollonios vom indischen König führt ersterer mit dem König ein Gespräch über die für eine erfolgreiche Reise erforderlichen Güter und sagt:

„Dieser Mann (sc. Apollonios), werter König, versteht sich nicht auf das Reisen und kennt auch die Völker nicht, bei denen wir uns künftig aufhalten werden, sondern hält die ganze Indienreise für ein Kinderspiel, als ob wir alle (sc. so hilfsbereite) Männer wie dich und Vardanes anträfen. Wie es mit unseren Kamelen steht, wird er dir nicht eingestehen. Sie sind aber in einem so schlechten Zustand, dass sie eher von uns getragen werden müssten. Deshalb müssen wir unbedingt andere haben; denn wenn sie irgendwo in der indischen Wüste zusammenbrechen, werden wir uns zu ihnen setzen müssen, um die Geier und Wölfe von ihnen zu verscheuchen. Von uns wird sie dann aber niemand abwehren, weshalb wir ohne Zweifel umkommen werden” (S. 114, F. 529; Philostr. Apoll. 2,40). Auch bei längeren Zitaten führt Christian Fron immer den Text im Original und in Übersetzung an.

Karte Osten des römischen Reiches und Kaiser Julians Feldzug Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Julian_vs_Persien.png

Die Lebenswege vieler pepaideuomenoi, auf Inschriften festgehalten, bestehen oft aus vielen Stationen. So konnte auch bei Juristen für die berufliche Laufbahn eine gewisse Mobilität erforderlich sein. Berytos und Antiochia standen mit Rom  in einer gewissen Konkurrenz beim Rechtsstudium, Rom bot (für griechisch sprechende Schüler) den besonderen Vorteil, dass man dort Latein sprechen musste; vermutlich beherrschten nur die wenigsten Griechen Latein hinreichend. Überdies waren angehende Juristen in Rom näher an den politischen Akteuren. Zudem gab es für die Lehrer des Rechts in Rom zusätzliche Privilegien. Für größere und kleinere Städte wurde in einer Konstitution des Kaisers Antoninus Pius die Zahl der von Leistungspflichten befreiten Ärzte, Sophisten und Grammatiklehrer festgelegt: Kleinere Städte fünf Ärzte, drei Sophisten und drei Grammatiklehrer; für größere Städte sieben Angehörige der Heilberufe und je vier der beiden Arten von Lehrer; für die größten Städte, etwa die Provinzhauptstädte sieben Ärzte sowie je fünf Rhetorik- und Grammatiklehrer (vgl. S. 220f. F 1075, Digesten 27,1,6,2; 4; 7–10). 

Eine wichtige Rolle für einen pepaideumenos waren Anerkennung und Ehrungen. Apuleius verweist etwa in einer Dankesrede für die Errichtung zweier Statuen in Karthago (Apul. flor. 16,24) darauf, Philostratos berichtet, dass die Ägypter für Aelius Aristides in Smyrna ein Standbild aufgestellt hätten und so die Ehrung in der Fremde mit der Stärkung der Position in dessen Wirkungsstätte verbanden (Philostr. soph. 2,9,1). Dion von Prusa bringt den Sachverhalt auf den Punkt, wenn er die Bedeutung einer Ehrung durch die heimatliche oder auswärtige Polis für einen Geehrten so beschreibt:

„Denn eine Säule, eine Inschrift und ein Standbild aus Bronze erscheinen den Edlen als etwas Großes, und dies ist der verdiente Lohn für ihre Leistungen, dass ihr Name nicht zugleich mit ihrem Körper untergeht und sie mit den Ungeborenen auf eine Stufe geraten, sondern dass eine Spur zurückbleibt, ein Zeichen, so könnte man sagen, ihrer Vortrefflichkeit” (Dion Chros. 31,20; S. 243, F. 1187).

Suda, Handschrift: Eine Seite der Suda in der 1205 geschriebenen Handschrift Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vaticanus graecus 1296 (fol. 193r). Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Suda,_Vaticanus_graecus_1296.jpg

Christian Fron zieht neben Briefen, Biographien auch Inschriften heran, wenn es um Informationen zu beruflichen Laufbahnen und die erforderliche Mobilität für einen Juristen geht, wie in folgendem Fall. Sie stammt aus Ayasofya/Kolybrassos im östlichen pamphylischen Hinterland wohl aus dem 4. Jahrhundert und berichtet von den besonders bedeutsamen Stationen der Karriere eines unvermittelt und vermutlich aufgrund einer Krankheit verstorbenen Rechtskundigen (S. 251f.):

„Nachdem ich einst in die edle Stadt Berytos wegen der römischen Muse (sc. der lateinischen Sprache) und der Gesetze gekommen war, mit glänzender Hoffnung und einem bitteren Geschick, kehrte ich nicht mehr in meine Heimatstadt zurück. Doch zunächst nahm mich, da ich mich mit der Rechtsprechung beschäftigen wollte, die gebietende Hauptstadt, die Palästina verwaltet, auf, die mich (dazu) drängte. Von dort nahmen mich das geliebte Antiochia sowie danach die tüchtige Hauptstadt Bithyniens (Nikomedia) auf. Von dort machte mich Certus, ein Jugendfreund, der den Verstand in meiner Brust und die verständige Einsicht bewunderte, zum rechtlichen Sachverständigen des Praeses der Thebais am Nil. Bevor ich aber meine Dienstzeit beendete, bevor ich Heimat und Familie nochmals sehen konnte, riss mich der Räuber Hades plötzlich zum (Unterweltfluss) Acheron. Der Vater, der von weit her kam, umarmte mich mit seinen Händen, wie er mich, den Toten, in der Fremde liegen sah. Gleichwohl ich den großen Nil und den Pontus bewundert hatte, beweine ich, dass ich statt einer Hochzeit (nun) dieses Grab habe. Die Mutter liegt, durchbohrt von Schmerz, in der Erde. So liege ich (hier), der Mann Konon, der die Musen gepflegt hat, während seine gute Seele auf der Insel der Seligen ist. Aber, Vater Troilos, klage nicht so sehr! Denn auch die tüchtigsten Kinder der Himmlischen kamen in den Hades” (S. 251, F. 1228).

Römerbrücke Römische Brücke in Misis-Mopsuestia, Türkei. Die historische Brücke über den Ceyhan bei Yakapınar (Misis) markiert eine alte Handels- und Heerstraße durch die Çukurova. Erbaut wurde die Brücke unter Constantius II. im 4. Jahrhundert und unter Kaiser Justinian I. im 6. JahrhundertIm restauriert. Im Hintergrund der alte Siedlungshügel (Hüyük) von Mopsuestia. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:MisisBr%C3%BCcke.jpg

Unseren Rechtskundigen Konon führte sein Weg nach Abschluss seiner juristischen Ausbildung in Berytos/Beirut zunächst in die nahe Provinzhauptstadt Kaisareia, von dort aus ins syrische Antiochia und schließlich nach Nikomedia. Bei den genannten Stationen handelt es sich stets um Provinzhauptstädte, die einen Zugewinn an Renommee boten. Sehr prestigeträchtig waren Anstellungen als Assessor bei leitenden Beamter, wie die Stelle Konons beim praeses der Thebais.

Christian Fron gelingt es in seiner Arbeit, ein höchst lebendiges Bild einer Zeit zu entwerfen, in der Bildung und der Bildungserwerb eine erstaunliche Rolle gespielt haben, in der Eltern mit einem entsprechenden kulturellen und finanziellen Hintergrund sich um geeignete Lehrer und Studienorte sorgten und in der  schulbedingte Ortswechsel und professionsspezifische Mobilität faszinierende  Ausmaße zeigte. Eine Fülle von Quellentexten werden zum Sprechen gebracht. Sie geben Auskunft über die grundsätzlichen Unannehmlichkeiten des Reisens, auch wenn die Gegebenheiten in der Kaiserzeit und bis zum 4. Jahrhundert einen hohen, lange Zeit nicht mehr erreichten Standard aufwiesen. Die Texte zeigen auch, dass an die pepaideuomenoi in einer globalisierten Welt mit ihren erweiterten Möglichkeiten der Mobilität, Kontaktaufnahme und -pflege auch neue Erwartungen herangetragen wurden. Eine Reise und der Aufenthalt in der Fremde waren kostspielig und stellten eine enorme Belastung dar. Dennoch wurde die Aneignung einer angemessenen Bildung allgemein als würdige Gegenleistung und Voraussetzung für eine spätere erfolgreiche Karriere erachtet. 

Misis Bridge 1879. Image extracted from page 109 of Life in Asiatic Turkey. A journal of travel in Cilicia-Pedias, … and parts of Lycaonia and Cappadocia …, by DAVIS, Edwin John. Original held and digitised by the British Library. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Mopsuestia#/media/Datei:DAVIS(1879)_p109_MESSIS_AND_THE_PYRAMUS_RIVER.jpg

Es reicht nicht, solch eine materialreiche und informative Arbeit nur einmal zu lesen. Der Autor ist zu beneiden dafür, dass er sich einige Jahre seiner Studienzeit in solch eine  bunte Welt vertiefen konnte. Lehrkräfte, die den traditionellen Kanon der Lektüren im Griechischunterricht  ergänzen oder um ein spannendes Projekt erweitern möchten, können in diesem Buch attraktives Material finden. Der Verlag bietet dazu auch eine Digitalversion neben der Printausgabe.

Noch eine Version der Brücke, 1861. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:LANGLOIS(1861)_p526_-_VUE_DU_PYRAME_ET_DES_ENVIRONS_DE_MISSIS.jpg Image extracted from page 526 of Voyage dans la Cilicie et dans les montagnes du Taurus, exé cuté pendant les anné es 1852-1853 par ordre de l'Empereur, …, by LANGLOIS, Victor. Original held and digitised by the British Library.