Kunsthistorische Deutungsangebote durch Nachbarschaft. 

Semperbau am Dresdner Zwinger öffnet seine Pforten

„Platz für den großen Raffael!“ Das soll August III. ausgerufen haben, als die von ihm erworbene Sixtinische Madonna 1754 in seiner Residenzstadt Dresden eintraf, um in die kurfürstliche Kunstsammlung integriert zu werden: Der wohlbeleibte König machte sich klein vor dem von ihm langersehnten Ankauf. Hundert Jahre später malte kein Geringerer als Adolph Menzel die emblematische Szene, in der August seinen Thron für das Bild zur Seite räumt. Da war die Sixtina längst zum berühmtesten Bild der Dresdner Galerie geworden, und das ist sie bis heute geblieben – als eines der wenigen Gemälde, die jeder erkennt. Den Platz, den August für sie einforderte, hat sie in den Herzen der ganzen Welt. 

(Andreas Platthaus, in: FAZ)

antikenhalle

Antikenhalle Gemäldegalerie Alte Meister und Skulpturensammlung bis 1800 © Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: H.C. Krass 

 

Rund um Raffaels „Sixtinische Madonna“ erwartet das Publikum eine einzigartige Reise durch die europäische Kunstgeschichte. Die Konzeption der neuen Dauerausstellung folgt einer Unterteilung nach geografischen Schulen und Epochen und wird einzelne Hauptthemen der jeweiligen Zeit in den Blick nehmen. Meisterwerke wie Giorgiones „Schlummernde Venus“, Rembrandts „Ganymed“ oder Bellottos Dresdner Veduten werden als Schlüsselwerke eindrucksvoll in Szene gesetzt. 

Nach sieben Jahren technischer Modernisierung und Restaurierung öffnete am Samstag, dem 29. Februar 2020, der Semperbau am Zwinger wieder seine Türen – ganz planmäßig, was den Kostenrahmen angeht (fünfzig Millionen Euro) und immerhin fast planmäßig hinsichtlich des Termins. Ursprünglich wurde der Dezember 2019 angepeilt, aber die Schwierigkeiten beim rechtzeitigen Abschluss der Arbeiten an den im benachbarten Schloss rekonstruierten Paraderäumen mögen Warnung gewesen sein. Und sonst hätte auch der Juwelendiebstahl im Grünen Gewölbe vom 25. November die Eröffnung überschattet. 

Wegweisend für die vollständig überarbeitete Dauerausstellung ist allerdings die Integration der Skulpturensammlung: Die bedeutende Dresdner Antikensammlung wird nach zehn Jahren im Schaudepot des Albertinum nun imposant im Semperbau präsentiert. Sie findet ihr neues Zuhause in der Antikenhalle, einer großen Halle im Erdgeschoss des Ostflügels, die ursprünglich für die historische Gipsabgusssammlung von Anton Raphael Mengs vorgesehen war. Plastiken und Skulpturen aus Renaissance und Barock sind im mit Tageslicht gefluteten Skulpturengang im ersten Obergeschoss neu installiert. Kleinbronzen, Büsten und Marmorwerke stehen im direkten Austausch zu ausgewählten Gemälden. „Nur”120 Werke aus der Dresdner Skulpturensammlung stehen im Antikensaal. Eine ähnlich große Zahl von Werken ist auf die verschiedenen Räume der Gemäldegalerie in den beiden Obergeschossen verteilt. Im Deutschen Pavillon im Erdgeschoss ist eine Auswahl an Mengs‘schen Abgüssen zu sehen. Im Stockwerk darüber verbinden sich Kunstgenuss und Gaumenfreude im neu erschaffenen Café Algarotti, das zum Verweilen einlädt – es ist benannt  nach dem italienischen Kunstagenten Augusts III.

Experten aus verschiedenen Bereichen der Restaurierung wurden von Beginn an für konservatorische Fragen in die Bauplanung eingebunden, um bestmögliche Bedingungen für die Präsentation und Sicherheit aller Kunstwerke zu schaffen. Eine neue Dreifach-Fensterverglasung mit hohem Farbwiedergabeindex ermöglicht jetzt natürliches Licht in den Räumen. Das vollkommen überarbeitete Lichtkonzept mit detailgenauer Akzentbeleuchtung und die farbigen Wandbespannungen lassen die Werke erstrahlen. 

In Hinblick auf die Wiedereröffnung wurden seit 2013 umfangreiche Restaurierungen durchgeführt. Etwa 45 Gemälde wurden grundlegend restauriert, weitere 162 Gemälde in kleinerem Umfang. Ein Schwerpunkt lag hierbei auf der Konservierung von Gemälden auf Holz. Tafelbilder aus der Werkstatt von Cima da Conegliano, Lucas Cranach d. Ä. oder Giulio Romano konnten erforscht und umfassend bearbeitet werden. Dabei boten Kooperationen mit dem Getty-In-stitute in Los Angeles wichtige fachliche Unterstützung. Verschiedene großzügige Förderungen ermöglichten umfangreiche Restaurierungs- und Forschungsprojekte, wie die Restaurierung des Cuccina-Zyklus von Paolo Veronese. Mehrere Gemälde aus dem Depotbestand sind nach erfolgter Restaurierung nun ausstellungsfähig. Besonders wichtig war auch die Restaurierung der barocken Galerierahmen: Rund 310 Rahmenfassungen wurden überarbeitet und 33 fachgerechte Kopien nach Galerierahmen neu angefertigt. Dazu kamen 140 Rahmenumbauten, Rahmenverstärkungen und Verglasungen. Für die Neupräsentation der Antikensammlung wurde jedes einzelne Objekt gereinigt, zahlreiche restauriert und mit neuen Sockeln versehen. Die Mengs’schen Abgüsse wurden ebenso gereinigt und stabilisiert. 

Die wohl grundlegendste Neuerung der Ausstellung beruht auf der plausiblen Entscheidung, die Werke ihrer weltberühmten Gemäldegalerie Alte Meister bis 1800 in Zukunft mit zahlreichen, bislang im Albertinum ausgestellten Skulpturen zu präsentieren.

Der Architekt Gottfried Semper (1803–1879) hatte ursprünglich viel mehr im Sinn gehabt als ein normales Museum: eine Schule des Sehens, und dazu gehörte auch die Konfrontation des Publikums mit den Meisterwerken der antiken Bildhauerkunst, die für viele Gemälde der Renaissance und des Barocks wichtige Vorlagen abgegeben hatten. Architektur und Kunstschätze verschmolzen bei seinem Museumskonzept zu einer Einheit, wie sie selten zu sehen war. Deshalb wurde 1854 im Erdgeschoss des Galeriegebäudes für sie ein eigener, von beiden Seiten lichtdurchfluteter Saal eingerichtet, auf dass die Plastizität der Standbilder durch Sonneneinfall belebt werde. Gefüllt wurde er dann mit der riesigen Gipsabgusssammlung von Anton Raphael Mengs, die der ehemalige Dresdner Oberhofmaler in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zusammengetragen hatte. Doch diese Nutzung hatte nur bis 1881 Bestand. 

Nach 139 Jahren kehrt 2020 die Bildhauerkunst in die Sempergalerie zurück, und zwar dank des Umzugs der Rüstkammer ins Residenzschloss genau an jenen Ort, für den sich Semper seine berückende Lichtregie hatte einfallen lassen. Diese kann man nun im neubenannten „Antikensaal“ wieder genießen. Das mit dem Tagesverlauf wandernde Sonnenlicht, das am Nachmittag den Saal geradezu flutet, bescheint aber nicht mehr Gipsabgüsse – die werden alsbald, prachtvoll restauriert, im Erdgeschoss des angrenzenden „Deutschen Pavillons“ ausgestellt –, sondern Originale: die überreiche Dresdner Antikensammlung, begründet durch August den Starken in den Jahren 1723 bis 1733, als er die zwei römischen Kollektionen der Adelsfamilien Chigi und Alberti erwarb.

Im ersten Raum steht die sogenannte Dresdner Symplegma im Zentrum. Ein Hermaphrodit und ein Satyr ringen miteinander, und es bleibt doch sehr zweifelhaft, ob die erotisch-akrobatische Verstrickung einvernehmlich ist. Im Kontrast dazu stehen die drei einst von Winckelmann so gerühmten Herkulanerinnen in vornehmer Ruhe in ihren vornehmen Gewändern und blicken auf das Geschehen. In der neuen Zusammenstellung von Bild und Skulptur zeigen sich mitunter überraschende Referenzen: Ein marmorner Kindskopf, der Hendrik de Keyser zugeschrieben wird, taucht in Rembrandts Gemälde Ganymed in den Fängen des Adlers wieder auf. Antike Skulpturen werden häufig als Vorbilder für Renaissance-Gemälde sichtbar. 

Der sächsische Reichtum mit seinen Handelsstädten und innovativen Manufakturen hatte es August dem Starken und seinem Sohn August III. ermöglicht, eine ungeheure Flut an Meisterwerken zu erwerben. Vor allem in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war zeitweise ein regelrechtes Netz an Agenten und Kunsthändlern europaweit für die Dresdener Herrscher tätig, um Bilder von Tizian, Raffael, Correggio, Tintoretto, von Jan van Eyck, Rubens, Rembrandt, Vermeer, El Greco, Velázquez, von Tournier, Lorrain und Poussin herbeizuschaffen. In beispiellos kurzer Zeit, in nur vier, fünf Jahrzehnten, wurde eine Sammlung von Weltrang erstanden. Spätestens um 1800 war Dresden der Pilgerort schlechthin für Kunstbegeisterte. Vor allem romantische Schriftsteller, aber auch noch Dostojewski erstarrten regelrecht begeistert vor dem bis heute bekanntesten Gemälde der Sammlung: Raffaels Sixtinischer Madonna. Die zwei nachdenklich-lustigen Putten am unteren Bildrand sind zum profanen Postkarten- und Bettwäschemotiv geworden. Die Stadt verdankt August III kunsthistorisch noch mehr als seinem Vater. Er kaufte 1736 die bekanntesten Dresdner Antiken, die drei sogenannten Herkulanerinnen: drei 1711 in Herculaneum ausgegrabene lebensgroße Frauenskulpturen aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert, deren Eleganz und Bearbeitungssorgfalt ihresgleichen suchen. Winckelmann schmolz vor ihnen dahin. Gemeinsam mit der Sixtinischen Madonna bilden sie das Quartett der schönsten Frauen von Dresden, und nun ist es erstmals auf Dauer im selben Haus vereint. 

Neue Sonderausstellungsflächen ermöglichen nun wechselnde Präsentationen von Kunstschätzen aus den Beständen sowie nationalen und internationalen Leihgaben. Das Winckelmann-Forum bietet eine große Wechselausstellungsfläche, die das gesamte Erdgeschoss des Westflügels umfasst. Ab 3. April 2020 wird diese mit der Sonderausstellung „Raffael – Die Macht der Bilder. Die Tapisserien und ihre Nachwirkung“ eröffnet. Das Semper-Kabinett im ersten Obergeschoss bietet Gelegenheit, kleine und fokussierte Präsentationen zu sehen. Parallel zur Wiedereröffnung wird dort die Schau „Begegnung mit einem Gott. Der Dresdner Mars von Giambologna“ gezeigt, die der 2018 geglückten Rückgewinnung der berühmten Kleinbronze gewidmet ist. 

Multimediale Vermittlungsformate ergänzen das Museumserlebnis. Künftig ist der Semperbau flächendeckend mit WLAN ausgestattet, darüber kann der neu konzipierte Multimediaguide aufgerufen werden. In Kooperation mit der Fakultät Informatik der Technischen Universität Dresden (TUD) sind zudem kostenlose barrierefreie Multimediaguides für die unterschiedlichen sensorischen und kognitiven Bedürfnisse der Besucherinnen und Besucher entstanden. Im Sinne einer inklusiven Gesellschaft bieten die Geräte interaktive Darstellungen der Exponate, beispielsweise in Gebärdensprache oder mittels auditiver Beschreibung. Die neuen Multimediaguides stehen ab 3. März 2020 zur Verfügung. 

Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden: 

„Die anregenden Gegenüberstellungen im Dresdner Semperbau lassen das Auge hin- und herspringen, ungekannte formale Analogien, Wechselbeziehungen und gegenseitige Beeinflussung zwischen Skulptur und Malerei entdecken. In gewisser Weise wird hiermit ein Geist wiederbelebt, dessen Ursprung in der Kunstkammer liegt: die dialogische Koexistenz von Kunstwerken und Artefakten über die Gattungsgrenzen hinweg. Inhaltliche Verdichtungen, die die Stärken der Sammlungen zelebrieren und eine durchkomponierte Wegeführung durch das komplexe Gebäude, lassen das Flanieren durch die geliebte Sammlung der Alten Meister zu höchstem Genuss werden, – unterbrochen von neu geschaffenen Ausstellungsräumen, die die unterschiedlichen Tempora eines lebendigen Museums wirksam werden lassen. Die Gemäldegalerie Alte Meister ist weltweit berühmt, viele ihrer Werke haben sich über die Jahrhunderte hinweg im Bildgedächtnis der Menschen verankert.“ 

Zur Eröffnung erschienen folgende Bücher im Sandstein Verlag, herausgegeben von Stephan Koja: jeweils ein Museumsführer zu den ausgestellten Gemälden und Skulpturen (12,95 €), der Band „Restaurierte Meisterwerke“ (19,80 €) und ein neuer Katalog „Meisterwerke der Renaissance und des Barock“ (29,80 €) und „Glanzstücke. Gemäldegalerie Alte Meister. Skulpturensammlung bis 1800. (49,90 €), zudem der Band „Vorbild Antike. Die Abgusssammlung des Anton Raphael Mengs” (19,80 €).

Zur Wiedereröffnung der Gemäldegalerie Alte Meister und Skulpturensammlung hat die F.A.Z. in Kooperation mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden ein Unterrichtsmaterial zur Reflexion der Epochen, des Menschenbildes und der Demokratiebildung in der Antike ausgearbeitet. Das Unterrichtsmaterial für den fachübergreifenden Unterricht ab Klasse 7. Sie können es kostenfrei auf FAZSCHULE.NET herunterladen.

Zur Vorbereitung von Veranstaltungen für Schulklassen:

https://prod.skd.museum/vermittlung/

Quellen: Presseinformation der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden

https://www.skd.museum/besucherservice/presse/

Dresdner Gemäldegalerie: Es werde licht! 

Von Andreas Platthaus. FAZ 26.02.2020

Gemäldegalerie im Dresdner Zwinger. Das neue Licht der Alten Meister. Dresden feiert die Wiedereröffnung der Gemäldegalerie im Zwinger. Die Sammlung von Weltrang präsentiert 700 Bilder –
und dazu nun auch 420 Skulpturen. Von Bernhard Schulz, Der Tagesspiegel, 27.02.2020 

Wie von Zauberhand. Altvertraut und doch ganz anders: In Dresden sind die Alten Meister endlich wieder zu sehen. Von Adam Soboczynski. DIE ZEIT Nr. 10/2020, 27. Februar 2020