Eine peinlich verlorene Bundestagswahl für die Sozialdemokraten, ein schandbar schwaches Wahlergebnis für die Christsozialen, spektakulär geplatzte Sondierungsgespräche für eine Jamaika-Koalition – mit der jüngsten Wahl in Deutschland ist das „Debakel“ wieder einmal zum geläufigen Klage- und Jammerwort geworden. Aber keine Sorge: Weitab von einer das Leben „umstürzenden“, niederwerfenden „Katastrophe“ oder einem „Desaster“ unter einem Unheil verheissenden „Unstern“ deutet das „Debakel“ in der Unglücksskala der Sprache auf einen vergleichsweise harmlosen Schadensfall. Bei einem Debakel geht es nicht um Leben und Tod, nicht einmal um eine Gefährdung von Leib und Leben; da geht es allenfalls um die krachende Wahlniederlage einer grossen Volkspartei, um den finanziellen Ruin eines hoffnungsvollen Unternehmens oder um ein schmählich hoch verlorenes Weltmeisterschaftsspiel.
Was ist ein „Debakel“? Die französischen Verben bâcler und débâcler, „verriegeln“ und „entriegeln“, schlagen die Brücke in die lateinische Muttersprache zurück, zu einem hölzernen baculum, „Stock, Stab“, das im klassischen Latein zumeist eine hilfreiche „Stütze“ oder „Krücke“ zum Stehen und Gehen bezeichnet, doch bei dem Architekten Vitruv in Augusteischer Zeit auch schon in der technischen Bedeutung eines Tür- oder Fenster-„Riegels“ begegnet. In dieser speziellen Bedeutung haben römische Schreiner und Schlosser das verlässlich zu erschliessende Missing Link eines spätlateinischen baculare bzw. debaculare ins Gallorömische eingeführt; seit dem späten 13. Jahrhundert erscheint im Altfranzösischen ein bâcler, seit dem frühen 15. Jahrhundert ein entsprechendes débâcler – da hat es die Sprache mit dem Wieder-Aufsperren der im dunklen Mittelalter verriegelten Türen und Fenster offenbar nicht eilig gehabt.
Mit den Substantiven hat sich das Französische noch einige Jahrhunderte länger Zeit gelassen. Der Dictionnaire von Paul Robert datiert eine erste bâcle in der Bedeutung eines hölzernen oder eisernen Tür- oder Fensterriegels auf das Jahr 1866, eine erste débâcle auf das Jahr 1690, und diese nun in grandioser bildhafter Bedeutung:
„Rupture de la couche de glace“, erklärt der „Petit Robert“ den neuen Wortgebrauch, „dont les morceaux sont emportés par le courant.“ Da hat der Fluss, verstehen wir, vor dem Wintereinbruch alle Fensterläden fest verriegelt und sich unter seiner Eisdecke in sein warmes Bett zurückgezogen, um dann in der Frühlingssonne die Riegel fröhlich wieder aufzuschieben oder vielmehr samt den Fensterläden gleich bachab zu schicken. In Faustens „Osterspaziergang“ vor dem Tor ist die heitere Szene zum klassischen Osterdebakel geworden: „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche / durch des Frühlings holden, belebenden Blick ...“
Mit dem einen kühnen Sprung von den Tür- und Fensterriegeln zu den Eisdecken der Ströme und Bäche hat die Bilderlust der Sprache es nicht genug sein lassen. Von dem Aufbrechen der Eisdecke und dem Davonschwimmen der Eisschollen ist das bildkräftige Wort in der Folge auf allerlei weitere bruch- und rissgefährdete Szenarien übergesprungen. Da malt zunächst ein farbiges Schlachtfeld-„Debakel“ das plötzliche Einbrechen einer Frontlinie und das wilde Davonstürmen der Verteidiger, da illustriert ein Wirtschafts-„Debakel“ das Einreissen einer allzu dünn gewordenen Finanzdecke und das Davonstieben der Investoren, da karikiert ein Wahl-„Debakel“ das krachende Durchreissen einer Glaubwürdigkeitsdecke und das stille Abschleichen der Protestwähler. Immerhin: Ein Debakel ist allemal nur ein Debakel, kein Desaster und erst recht keine Katastrophe, und die jüngsten Wahldebakel sind vielleicht noch vor dem nächsten Osterdebakel alle längst bachab geschwommen!