Vor gut zehn Jahren bot sich mir die Möglichkeit, an der staatlichen Montessorischule Potsdam im Rahmen des Ganztagsangebots am frühen Nachmittag eine Latein-AG anzubieten. Sie stand dabei von Anfang an in Konkurrenz mit Angeboten wie Go, Spanisch oder Bootsbau am Schlänitzsee.
Die Schülerinnen unterscheiden sich nach Klassenstufe, Teilnahmejahr in der Latein-AG, Interessen und Fähigkeiten. Vor allem ist die Arbeitsgeschwindigkeit sehr unterschiedlich. Da gibt es Viertklässler, die einen nicht zu langen Text in einer AG-Stunde einfach ohne weitere Hilfe herunter übersetzen und andere aus Siebenten oder Achten, die ein paar Zeilen schaffen. Dementsprechend steht neben Informationen für die Gesamtgruppe die individuelle Arbeit im Vordergrund, zum Teil auch am Computer, worauf ich hier aber nicht weiter eingehe. Die Schülerinnen erhalten in der Regel vier Aufgaben zur Auswahl, die ich nach ihrem Kenntnisstand und ihren Interessen ausgewählt habe: zwei Texte zum Übersetzen, normalerweise eine Fabel und einen mythologischen Text, aber auch mal einen Text über den römischen Alltag oder zur Geschichte; weiterhin eine Aufgabe aus dem Bereich der Wortkunde, Grammatik oder Übersetzungstechnik und eine Aufgabe aus dem, wie man früher so schön sagte, Bereich der „Realien“.
Da es für Wortkunde und Realienkunde in den Lehrbüchern sowie auch in eigenen Heften verschiedener Verlage reichlich Anregungen gibt, dokumentiere ich hier nur Beispiele der Übersetzungstexte und einige darauf basierende Grammatikaufgaben.
Alle Schüler bekommen gleich zu Anfang als „vocabula discenda“ eine Liste von 120 Vokabeln, die nach ihrer Frequenz in lateinischen Texten und ihrem Weiterleben in den modernen Schulsprachen ausgewählt sind. Alle anderen Vokabeln sind angegeben.
Der Einführungstext für die erste Stunde ist die Fabel vom kranken Löwen. Hier wird dann gleich bewusst gemacht, wieso die angegebenen lateinischen Wörter nicht in derselben Form stehen wie im Text („Wörter im Wandel“). Die Übersetzungstexte gibt es in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden für rudes, ingressi, progressi und experti. Da für die Anfängerinnen die Umstellung des deutschen Prädikats für das Verständnis die größte Hürde ist, gibt es in den Texten für die rudes dafür Hinweiszeichen. Und für die, die sich besonders schwer tun, ist das Herausschreiben der Vokabeln eine nützliche Hilfe (Vokabel-Check – Vgl. AU 5/2015 S. 37f, 41f).
Von den Texten ausgehend werden allmählich grammatische Kategorien erarbeitet, immer im Hinblick auf den konkreten Nutzen für das Übersetzen. Eines der ersten Themen ist z. B. die Unterscheidung zwischen den Endungen –t und –nt und der Konsequenz für das Übersetzen, ob nämlich etwa das beim Übersetzen vorzuziehende Prädikat „videt“ oder „vident“ heißt, also „(er, sie, es) sieht“ oder „(sie) sehen“ zu übersetzen ist. So geht es weiter über die Kasus und die Personen zu den verschiedenen Tempora (für die experti). Da gibt es Schülerinnen, die sich von sich aus ein Grammatikheft mit den entsprechenden Tabellen anlegen.
Bei dem Auswählen einer neuen Aufgabe ist es eigentlich überraschend, dass auch Schüler, die zur Übersetzung eines nicht so langen Textes Wochen und Wochen gebraucht haben, immer wieder unverdrossen zur nächsten Übersetzung greifen: Das kann meines Erachtens nicht nur daran liegen, dass sie auf diese Weise eine weitere nette Fabel oder einen interessanten Mythos kennen lernen, sondern es handelt sich um dieselbe Faszination, die Rätsel auslösen, bei denen in einem wirren Durcheinander von Buchstaben, Zahlen oder Wörtern eine Ordnung, ein Sinn gefunden werden soll. Warum macht man so etwas? Ich will mich jetzt nicht in philosophischen Spekulationen ergehen, sondern nur feststellen, dass ich in all den Jahren keine Schülerin erlebt habe, die bei der Auswahl ihrer nächsten Aufgabe die Übersetzungen grundsätzlich gemieden hätte.
Sprache als faszinierendes mentales Puzzle.