Susanne Froehlich, Reisen im Römischen Reich (Seminar Geschichte).
De Gruyter Verlag, Berlin/Boston 2023,
ISBN 978-3-11-076323-2, brosch. 24,95 €
Das Thema Reisen in der Antiken Welt ist ein ergiebiges Thema im altsprachlichen Unterricht nicht weniger als im Geschichtsunterricht. Als wir dieses Thema 1997 für den Berlin-Brandenburgischen Landeswettbewerb Lebendige Antike auswählten, machten wir genau diese Erfahrung; nicht nur die Teilnehmer fanden das, sondern auch wir als Veranstalter sahen uns darin bestätigt, dass das Thema weithin interessiert und nahezu unerschöpflich ist1. Die Chance meines Lehrerlebens erhielt ich zwei Jahre später, als Dr. Winfried Spiegel vom Aachener IZOP-Institut (www.izop.de) anrief und nur meinte, „Herr Rabl, wir haben da was für Sie: ein Zeitungs- und Rechercheprojekt zum Thema Mobilität!“. Natürlich griff ich als begeisterter Bahnfahrer sofort zu und reiste mit meinem GK Latein – in dem ich das Projekt ansiedeln wollte – nach Hamburg ins ICE-Werk in Eidelstedt, mit dem nagelneuen Metropolitan düsten wir – erstklassig betreut und instruiert – von dort nach Köln, um u.a. das Römisch-Germanische Museum unter dem Blickwinkel römischer Mobilität zu besuchen, zudem ging es nach Xanten, wo wir eine spezielle Vorlesung zum Thema erhielten und natürlich das römische Restaurant im Archäologischen Park in Anspruch nahmen. Schon in unserem noblen Hotel in Leverkusen begannen die Schülerinnen und Schüler diverse Artikel für die Süddeutsche Zeitung zu konzipieren, die bald auch auf der „Zeitung in der Schule“-Seite zu lesen waren (SZ 8./9. April 2000, V3, 56). Das Echo im 11. Jahrgang meiner Schule war beträchtlich und als wir vom Aachener IZOP-Institut noch eine zweite Chance bekamen, uns während einer Reise nach Holland auf die Spuren der Tulpe zu begeben, da gab es Rangeleien um die begehrten Plätze, die nur durch eine qualifizierte Bewerbung (schulisches Engagement, Lateinkenntnisse, Grad der Motivation) zu lösen war. Wir besuchten den Keukenhof, den Hortus Bulborum in Limmen, einen großen Tulpenzüchter in Egmont und wohnten in Nordwijk aan Zee in Strandnähe. Die Hollandreise sollte natürlich wieder in der Vor- und Nachbereitung in den Lateinunterricht eingebettet sein, verwegen hatte ich angenommen, dass die Tulpe irgendwie den Römern schon bekannt sein und in ihre Literatur (bei Ovid vielleicht) Eingang gefunden haben werde, das war aber nicht so.
Dafür stieß ich dann aber in dem gerade er-schienenen, traumhaft schönen (auch von Stefan Rebenich bewunderten) Buch von Anna Pavord, Die Tulpe. Eine Kulturgeschichte auf berühmte Namen wie den kaiserlichen Botschafter Oghier Ghislain de Busbecq (Entdecker des Monumentum Ancyranum) und seine lateinischen Briefe aus der Türkei von 1554 (die damals gerade bei C. C. Buchner erschienen waren), auf seinen Freund Carolus Clusius (1526–1609), den Hofbotaniker im Palastgarten des Kaisers von Österreich, der zum Professor der Universität Leiden ernannt wurde und Tulpenzwiebeln mit in die Niederlande nahm (auch Hyazinthen und den Flieder führte er in Westeuropa ein) und die Blumen fortan im Hortus Botanicus in Leiden züchtete; bald malte sie Rembrandt von Rijn (Rembrandt-Tulpen). 1559 pflegte bereits ein Kaufmann in Augsburg Tulpen, wo sie der Schweizer Naturkundler Conrad Gesner (1516–1565) sah. Er beschrieb sie als erster Europäer wissenschaftlich. Als wir von Holland wieder in Berlin zurück waren, machten wir uns auf die Spuren dieser faszinierenden Figuren des europäischen Humanismus und die nächste Exkursion führte uns in die Berliner Gemäldegalerie; wir
wollten unbedingt vor Ort herausfinden, wann Tulpen in die Malerei niederländischer Künstler Eingang fanden, ein spannendes Ziel für einen Museumsbesuch. In der Süd-deutschen Zeitung erschien wieder eine ganze Seite (SZ 17./18. Juni 2000, V2, 44) von meinen Schülerinnen und Schülern.
Was ich damit sagen will: Reisen bildet, auch virtuelles Reisen und Bücher-Reisen. Es gibt zwar schon sehr hilfreiche und spannend zu lesende Bücher zum Thema, etwa den Klassiker von Lionel Casson, Reisen in der Alten Welt, aus dem Englischen, München 1976, 2. Aufl. 1978, sowie Marion Giebel, Reisen in der Antike, Düsseldorf/Zürich 2000, aber dieser neue Band von Susanne Froehlich, Reisen im Römischen Reich, gehört unbedingt in die Bibliothek eines Lateinlehrers, gleich ob in der preiswerten Print- oder der digitalen Version, am besten, er bringt das aus Studentenzeiten schon mit. Gedacht ist der vorliegende Band im Prinzip „für die universitäre Lehre und geht zugleich aus der Lehre hervor. Die Verfasserin hat sich dem Reisen im Römischen Reich in mittlerweile vier Seminaren gemeinsam mit Studierenden der Universitäten Gießen, Greifswald und Tübingen gewidmet, zuletzt im Sommersemester 2022. (Vom 27. Mai bis 4. Juni 2023 fand eine althistorische Exkursion in die Südwest-Türkei statt). Nun will die Buchform Lese-rinnen und Leser zu einer intellektuellen Reise in die römische Antike einladen“ (Vorwort). Uwe Walter hat den Band betreut und während einer Professurvertretung in Tübingen waren auch Mischa Meier und viele andere am wissenschaftlichen Austausch beteiligt. Die Autorin studierte Geschichte, Französisch und Klassische Archäologie in Greifswald, Angers und Freiburg/Br. Sie wurde 2012 an den Universitäten Freiburg und Straßburg promoviert. Anschließend war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin von Karen Piepenbrink an der Professur für Alte Geschichte der Universität Gießen tätig; seit 2017 arbeitet sie am Historischen Institut der Universität Greifswald, seit 2020 als Akademische Rätin. 2021 habilitierte sie sich in Gießen im Fach Alte Geschichte. Im akademischen Jahr 2021/22 vertrat sie eine Professur für Alte Geschichte an der Universität Tübingen. Susanne Froehlich forscht zur Kulturgeschichte, Mentalitätsgeschichte und Alltagsgeschichte der griechischen und römischen Antike.
Susanne Froehlich stellt Reisemotive, Reisewege und Reiseziele anhand ausgewählter Quellen vor, um zur eigenen Auseinandersetzung einzuladen. Ein konziser Überblick über das Basiswissen wird mit Aufgaben und Lektüreempfehlungen zur selbständigen Weiterarbeit verknüpft. Auf diese Weise ist das Buch ausgesprochen gut lesbar, informativ und unterrichtspraktisch verwendbar. Im Abschnitt 7.4. geht es z.B. um „Tatsächliche und imaginierte Schiffsunglücke“. Die Autorin erläutert: „Die Bauweise der römischen Schiffe führte zu einer besonders hohen Kentersicherheit, ging aber damit einher, dass die Schiffe sehr starke Stampf- und Rollbewegungen vollführten; sie schwankten also deutlich stärker als etwa moderne Schiffe der entsprechenden Größe. Das nautische Personal war mit diesen Eigenschaften vertraut, seemännische Laien aber musste die Fahrt schon bei sehr niedrigen Windstärken subjektiv gefährlich erscheinen. ... Ob bei einer konkreten Reise tatsächlich eine Gefahr für Leib und Leben bestand, lässt sich daher im Nachhinein schwer sagen. Auffallend ist jedoch, dass die in Reiseerzählungen geschilderte Panik der Passagiere häufig mit der absoluten Gelassenheit der Mannschaft korreliert“ (102). Susanne Froehlich nennt noch einen weiteren Aspekt, „dass es genau dann zu Gefahren für die Menschen an Bord kam, wenn sich ein Passagier aufgrund seiner sozialen Stellung gegen die Sachkompetenz der Mannschaft durchzusetzen versuchte. So soll Iulius Caesar in Epiros inkognito an Bord eines kleinen Schiffes gegangen sein, um über die Adria zu setzen. Als der Steuermann wegen zu starker Strömungen im Mündungsgebiet des Flusses Aoos die Fahrt abbrechen wollte, gab Caesar seine Verkleidung auf und und wies den Mann an weiterzufahren. Die Seeleute kämpften vergebens gegen Sturm und Wasserstrudel an, bis das Schiff voll Wasser lief und Caesar das Wendemanöver schließlich doch zulassen musste (Plut. Caes. 38,2-6). In ver-gleichbar unsachgemäßer Weise griff der Philosoph Seneca in die Route eines Schiffes ein, auf dem er in Kampanien mitreiste. Seekrank geworden, zwang er den Steuermann zu dem gefährlichen Manöver, im Sturm eine hafenlose Leeküste anzufahren. Dort riskierte Seneca sein Leben, indem er in die Brandung sprang und über Felsen an Land kletterte – anstatt auf dem sicheren Schiff zu bleiben“ (Sen. epist. 53,2-4) (103).
Mir geht es jedenfalls so, dass ich beim Blick ins Inhaltsverzeichnis gar nicht geneigt bin, brav vorne anzufangen. Suchen Sie hier Ihr Start-kapitel: 1 Reisen in der Antike | 1ff. – 2 Perspektiven der Forschung | 17ff. – 3 Akteure, Anlässe und Motive | 33ff. – 4 Reisesicherheit und Infra-struktur | 51ff. – 5 Planung und Vorbereitung einer Reise | 65ff. – 6 Reisewege zu Land | 81ff. – 7 Reisen zu Schiff | 97ff. – 8 Erholungsreisen | 111ff. – 9 Bildungs- und Kulturreisen | 129ff. – 10 Touristisches Reisen | 141ff. – 11 Missionsreisen | 159ff. – 12 Pilgerreisen | 175ff. – Daran angehängt sind noch zwei ganz besondere Kapitel:
13 Das Reisen in Ludwig Friedländers „Sittengeschichte Roms“ | 191ff. – 14 Mit Asterix durchs Römische Reich | 207ff. – es folgen eine Bibliogra-phie | 223ff., das Abbildungsverzeichnis | 229ff., ein Glossar | 233ff. sowie ein Register | 239–246.
Der Aufbau des Buches in 14 Kapiteln spiegelt die in der Regel 14 Lehreinheiten eines Semesters und unterstreicht den Anspruch, das zu vermitteln, was innerhalb eines Semesters gut gelehrt und gelernt werden kann. Das mag nun für die Schule weniger relevant sein, sehr hilfreich ist allerdings, dass der Band (wie weitere Titel der Reihe) quellenbasiert und nach fachdidaktischen Gesichtspunkten strukturiert ist, dass der gegenwärtige Erkenntnisstand verständlich präsentiert wird und überdies in Ausein-andersetzung mit maßgeblichen Quellen fundiert in geschichtswissenschaftliche Fragestellungen und Methoden eingeführt wird. Längere Quellen werden in deutscher Übersetzung ausgeführt mit Fragen zum Textverständnis und zur Vertiefung sowie Anregungen zur Weiterarbeit; an einigen Stellen auch in Latein (82, 94, 126, 141f., 149, 184f.) mit entsprechenden spezifischen Aufgaben.
An den Anfang stellt Susanne Froehlich bei Kap. 3: 'Warum gingen die Menschen auf Reisen?' quasi als Eingangsmotivation eine unge-wöhnliche Stele, die als Spolie, also in zweiter Verwendung, in der spätantiken Stadtmauer der nordgriechischen Stadt Edessa verbaut war (S. 33, Abb. 3.1.). „Das Relief zeigt einen Mann, der auf einem offenen zweiachsigen Leiterwagen sitzt, welcher von vier Pferden oder Maultieren gezogen wird und gerade einen Abhang hinunterfährt. Vor den Pferden läuft ein Schwein, das in einer zweiten, zeitlich nach dieser Szene anzusetzenden Ansicht unter die Wagenräder geraten ist und in zusammengekauerter Haltung überfahren wird. Die zuge-hörige griechische Versinschrift lautet in Übersetzung:
'Ein von allen geliebtes Schwein, ein junger Vier-beiner, hier liege ich, nachdem ich als Geschenk den Boden Dalmatiens verlassen hatte. Ich ging, wie ich gewollt hatte, nach Dyrrachium und Apollonia. Ich durchquerte das ganze Land zu Fuß, allein, unermüdlich. Aber als Opfer eines Rades habe ich jetzt, der ich Emathia und den Wagen des Phallus sehen wollte, das Licht verloren. Hier liege ich nun und schulde nichts mehr dem Tod'2.
Ein Schwein spricht in der Ich-Form zum Betrachter der Stele. Es berichtet, wie es von Dalmatien über die Hafenstadt Dyrrachium an der Adria (heute Durrës) bis nach Emathia in Makedonien gelaufen sei, wo es tödlich verunglückte. Dieser Text wirft Fragen auf ...“ (33f.). Susanne Froehlich gibt nun mehrere Interpretationsansätze, um dann der zentralen Frage des Kapitels 3 nach Akteuren, Anlässen und Motiven des Reisens nachzugehen. Zur Vertiefung folgt am Schluss eine vierseitige literarische Quelle (44-49), ein Reisebrief des Synesios, epist. 5(4) mit einer Reihe von Leitfragen und weiterführender Literatur.
Positiv zu vermerken ist die beträchtliche Breite der einbezogenen Quellen, geographische Karten (4, 5, 10, 11, 91, 116, 117, 178, 179, 181 – zur Begründung vgl. 27 oben), archäologische Belege, literarische Quellen unterschiedlichster Art, Reliefs, Inschriften, Papyri, Münzen, Grafitti, Wandmalereien, Fotos und
die Erkenntnis: „manche scheinbar wirklichkeitsnah beschriebene Reise entpuppt sich unter kundigem philologischen Zugriff als eine poetologische Übung, die sich weniger im empirischen als vielmehr im erzählten Raum abspielt“ (27). Dabei steht die Problemorientierung im Vordergrund. Unabdingbar ist dafür, dass die Quellen nicht abschließend ausgedeutet werden, sondern eine Grundlage für die eigene Erschließung und Bearbeitung bilden.
Geht es in Kap. 14: Das Reisen in Ludwig Friedländers 'Sittengeschichte Roms' um das Problem der vermeintlichen Nähe der Antike zu modernen Verhältnissen, so vertritt Susanne Froehlich in Kap. 14 die Auffassung: „In einem Band über das Reisen im Römischen Reich darf Asterix nicht fehlen, der vielgereiste gallische Krieger, der im deutschsprachigen Raum wie keine zweite popkulturelle Figur mit der römischen Antike assoziiert wird“ (207). Nach einigen Hintergrundinformationen zur Asterix-Reihe und einer Untersuchung der Darstellung fremder Länder und Ethnien werden daran anknüpfend die Verkehrsmodalitäten vorgestellt, um exemplarisch die Reisen des Titelhelden nach Griechenland und Ägypten zu behandeln. Das Buch endet also mit einem durchaus lehrreichen großen Spaß, mit vergnüglichen Anachronismen (so man sie denn erkennt) und der Erkenntnis, dass Asterix und seine Freunde im Grunde moderne Reisende im antiken Gewand sind und dass die Bilder davon, wie sie die Provinzen des Imperium Romanum bereisen, ausgesprochen wirkmächtig geworden sind und unsere heutigen Vorstellungen vom Reisen in der Antike mitgeprägt haben.
In vielen Punkten zeigt Susanne Froehlich überzeugend, dass Quellen nicht einfach und unbedarft gelesen und gedeutet werden können („nach wie vor werden freilich Gattungen wie die römische Satire mitunter unkritisch herangezogen, um vermeintliche Fakten über antike Reisemodalitäten zu gewinnen“ (27; vgl. Horazens Reise nach Brundisium, 89–95, und Lukians Dialog Das Schiff, 105–110); etwa bei den Einkaufslisten des Theophanes von Antiocheia: auf Papyrus ist vermerkt, welche Lebensmittel die Diener des Theophanes während des zweimonatigen Aufenthaltes in der syrischen Hauptstadt im Jahr 322 oder 323 n. Chr. täglich für den Haushalt des Reisenden gekauft haben. Weiteren Listen halten fest, welche Ausrüstung, Kleidung und Nahrungsmittel mit auf die Reise genommen wurden – freilich ist strittig, ob es sich überhaupt um eine Packliste handelte oder nicht vielmehr um ein Haushaltsinventar (73–78).
Amüsant zu lesen, dass das heute sehr gängige Reisemotiv des Aktivurlaubs für römische Beobachter völlig abstrus gewirkt hätte: „Das Reisen war in der Antike unwirtlich und gefahrenreich genug, um kein Bedürfnis nach Reiseformen aufkommen zu lassen, in denen Reisende unter kontrollierten, kalkulierbaren Umständen ihre Ansprüche auf Komfort freiwillig extrem eingeschränkt oder sich Gefahren ausgesetzt hätten“ (43, Zitat Nicola Zwingmann, Antiker Tourismus in Kleinasien und auf den vorgelagerten Inseln. Selbstvergewisserung in der Fremde, Bonn 2012).
Gabriel Zuchtriegel, Vom Zauber des Untergangs. Was Pompeji über uns erzählt, Propyläen Verlag, Berlin 2023,
240 Seiten, ISBN 9783549100486,
erschienen am 27.04.2023, 29,00 €
Die Zahl der Neuerscheinungen über Pompeji hat jüngst (jedenfalls gefühlt) stark zugenommen. Man braucht gar nicht bis 2005 und dem Erscheinen des Romans Pompeji von Robert Harris zurückgehen. In den Literaturredaktionen wurde Ernst Ruges Roman Pompeji oder die fünf Reden des Jowna (2023) diskutiert. Von Mary Beard erschien 2017 der umfangreiche Band Pompeji. Das Leben in einer römischen Stadt. Berliner Lehrkräfte werden sich an einen Vortrag der Heidelberger Archäologin Polly Lohmann erinnern, die sehr lebhaft und lehrreich über die Ergebnisse ihrer Forschungen berichtete: Graffiti als Interaktionsform. Geritzte Inschriften in den Wohnhäusern Pompejis, Materiale Textkulturen 16 (Berlin – Boston 2017). 2019 erschien in der Reihe Tusculum der Band Pompejanische Wandinschriften: Auswahl von Graffiti und Dipinti aus Pompeji und Umgebung. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Rudolf Wachter. Im gleichen Jahr das opulente Buch von Massimo Osanna, Pompeji. Das neue Bild der untergegangenen Stadt. 2023 schließlich Gabriel Zuchtriegel, Vom Zauber des Untergangs. Was Pompeji uns erzählt.
Massimo Osanna (geboren 1963 in Venosa) war Vorgänger von Gabriel Zuchtriegel (geboren 1981 in Weingarten) im Amt des Generaldirektors des Parco Archeologico di Pompei. Zuchtriegel hat zwar nicht bei Massimo Osanna studiert oder promoviert, doch er nennt ihn seinen Maestro und erzählt in seinem Buch auch manches Anekdotische, etwa, dass seine Frau ihn noch heute damit aufziehe, dass er einmal nach der Arbeit von Rom nach Gabii (unweit von Frascati) mit der Vespa zurückgefahren sei, nur um das Profil einer einzigen Scherbe zu überprüfen, für die er einen neuen Vergleich gefunden hatte (98). Autobiographisch ist das Buch ohnehin: „Anfang 2007, nachdem ich mein Studium in Berlin abgeschlossen hatte, jobbte ich als 'Hiwi' (Wissenschaftliche Hilfskraft) am Deutschen Archäologischen Institut (DAI) in Rom ... Auf einem vom Institut veranstalteten Kongress, wo ich das Mikrofon hin und her zu tragen und Kaffee in den Pausen auszuschenken hatte, lernte ich Osanna kennen, der damals an der Universität der Basilikata im süditalienischen Matera lehrte und zusammen mit einem Kollegen aus Rom ein eigenes Forschungsprojekt in Gabii angestoßen hatte. In einer der Pausen nahm ich meinen Mut zusammen und sprach ihn an, fragte, ob es eine Möglichkeit gäbe, bei dem neuen Projekt mitzuarbeiten. Für mich überraschend, hörte er sich geduldig an, was ich ihm während der paar Minuten in meinem unvollkommenen Italienisch erzählte. Ich solle ihm mal meine Magisterarbeit und meinen Lebenslauf schicken, sagte er zum Abschluss. Noch eine Probe war zu bestehen: Ich durfte einen Monat lang mit den italienischen Doktoranden und Studenten in Gabii ausgraben. Das war als Privileg zu verstehen ...“ (95-96). Seit April 2021, mit kaum 40 Jahren, ist Gabriel Zuchtriegel Direktor des Archäologischen Parks Pompeji und Nachfolger des vielbeschäftigten Massimo Osanna, dem als Generaldirektor der staatlichen Museen und archäologischen Stätten von Italien seit 2020 mehr als 500 staatliche Museen, Monumente und Ausgrabungsstätten unterstellt sind. Während dessen Amtszeit war Zuchtriegel Direktor des Parco Archeologico di Paestum e Velia (von 2015 bis 2021). Sollten Sie demnächst Paestum besuchen, dann leistet sein 60-seitiger Führer durch den Archäologischen Park gute Dienste: Paestum. Vom Steinbruch zum Tempel / von Gabriel Zuchtriegel, unter Mitarbeit von Marta Ilaria Martorano, Napoli 2022, ISBN 978-88-569-0881-7.
Aber zu dem, „was Pompeji uns erzählt“: Ein neuer Blick auf Pompeji und die befreiende Kraft der Kultur. Garküchen, ein Sklavenzimmer, griechische Theater, Villen, Thermen und Tempel - die Ausgrabungen in Pompeji offenbaren eine Welt. Doch was hat sie mit uns zu tun? Gabriel Zuchtriegel legt dar und vertritt seine Position mit Verve, dass verschüttete Altertümer, starre Ruinen und schweigende Bilder uns noch heute verändern können. Er bringt uns anhand der archäologischen Entdeckungen vom 19. Jahrhundert bis heute neben Ausgrabungstechniken auch Fragestellungen näher, die mit dem Wandel der Gesellschaft und unserer Gegenwart verknüpft sind. Das alles verbindet er mit seinem Werdegang als Archäologe, der Pompeji nicht nur als Weltkulturerbe erhalten möchte, sondern sich dafür einsetzt, dass alle diesen Ort als den ihren begreifen (Klappentext). Das ist nun leicht gesagt, doch bringt er dafür seine ganze Überzeugungskraft und archäologische Kompetenz auf.
Im Tagesspiegel (24.6.2023) freut sich Rezensentin Sabine Seifert über den frischen Wind, den Gabriel Zuchtriegel mit seinem Buch in die archäologische Szene bringt. Denn der als Vertreter einer neuen Generation gehandelte Direktor des Archäologischen Parks von Pompeji setzt sich in seinem Buch über die untergegangene Stadt auch mit Themenfeldern auseinander, die in seinem Fachgebiet bisher wenig Beachtung erfuhren: Etwa mit sexueller Gewalt (47-70), die die antike Mythologie durchzieht und dabei so selbstverständlich ist, dass es gar keine Begriffe dafür gab, oder auch mit Postkolonialismus und Diskursanalyse, so die Kritikerin. Dass Zuchtriegel sein Buch in Richtung solcher Themen öffne und in diesem Zuge auch sein eigenes Hadern mit der Archäologie in seinem beruflichen Werdegang thematisiere, findet Seifert spannend.
Andreas Rossmann schreibt in der FAZ vom 29.4.2023: Sehr schön werde das Buch mit der Beschreibung des ekstatischen Stendhal-Syndroms eröffnet, das viele Besucher zeigen, wenn sie das Gelände betreten: „Rund sechshundertmal im Jahr rückt im Archäologischen Park von Pompeji der medizinische Notdienst aus. Bei etwa jedem fünften Einsatz handelt es sich um Herz-Kreislauf-Probleme. Das heiße Wetter gilt als nur ein Grund dafür. In den Medien wird über das Stendhal-Syndrom spekuliert, benannt nach dem französischen Schriftsteller, den die Besichtigung der Basilica di Santa Croce in Florenz 1817 „in eine Art Ekstase“ versetzte, die in Erschöpfung umschlug, „mein Lebensquell war versiegt, und ich fürchtete umzufallen“. Die Psychologin Graziella Magherini hat die kulturelle Reizüberflutung bei ausländischen Touristen der Kunstmetropole diagnostiziert und 1979 mehr als hundert Fallgeschichten in einem Buch beschrieben: Herzrasen, Atemnot und Hyperventilation, Ohnmacht, Schwindel, Schweißausbrüche, Übelkeit, Halluzinationen zählen zu den Symptomen. ... „Ich selbst blieb bisher verschont“, gesteht Gabriel Zuchtriegel und räumt ein, an einigen Orten in Pompeji für sich „eine gewisse Gefährdung“ zu sehen: So bei der Skulptur eines im Schlaf überraschten Fischerjungen, der sich in seinen Kapuzenmantel eingerollt hat, „wie mein achtjähriger Sohn das manchmal macht“. Das eigentliche Problem aber ist für den Archäologen ein anderes, er nennt es „Sammlersyndrom“: Die Einstellung, antike Kunstwerke zu Besitztümern herabzuwürdigen und unter den Pompeji-Besuch einen Haken zu setzen, womöglich gar eine Scherbe mitgehen zu lassen. Da ist ihm Stendhal näher, der beim Verlassen der Kirche empfand, „das alles spricht lebendig zu meiner Seele“, und zur Gruppe der „spirituellen Pilger“ gehört, die ins Museum gehen, „um Energie zu tanken, sich selbst besser kennenzulernen, Verlustgefühle inklusive“. (FAZ vom 29.4.2023)
Andreas Rossmann umreisst die vier essayistischen Kapitel dieses biographischen Buches so: „Was ist dran an klassischer Kunst?“, fragt das erste (25ff.). Dass die Römer in der griechischen Kunst, mit der sie Tempel, Häuser und Gärten schmückten, ihre „Klassik“ hatten, nimmt Zuchtriegel als Ausgangspunkt dafür, den Begriff neu zu bedenken: zunächst an der Statue des Apollo Citarista, dann an der Gestalt des Hermaphroditus, die ihn Vorstellungen zum antiken Umgang mit Körpern und Sexualität sondieren lässt. „Im Sog des Ritus“ (75ff.) geht er der engen Verzahnung von Religion und Kunst nach, erklärt den Aufstieg des Dionysus zum „neuem Gott“, würdigt die „Operation Mysterienvilla“ von Amedeo Maiuri während des Faschismus als maßstabsetzende Grabung und diskutiert die konträren Deutungen des Freskenzyklus in ihrem Saal von Paul Veyne und Gilles Sauron. Er würdigt die Vorarbeiten von Margarete Bieber, einer der ersten promovierten Archäologinnen und die erste Habilitierte in diesem Fach (122ff.), die vielfach, auch an der Berliner Universität, die rabiate Ablehnung ihrer Fachkollegen zu spüren bekam. M. Bieber habe schon früh eine Deutung des berühmten Freskenzyklus in der Mysterienville vertreten, die erst 1998 wieder aufgegriffen wurde. Das Kapitel „Eine Stadt am Rande der Katastrophe“ (133ff.) wartet mit einer neuen Schätzung der Größe Pompejis auf: Nicht nur zwölf- oder zwanzigtausend, sondern wohl deutlich mehr Menschen lebten hier auf sehr engem Raum. In dem zu drei Viertel ausgegrabenen Pompeji wurden bisher 36 Bäckereien entdeckt und 80 Thermopolia, vulgo Fastfood-Filialen. Aufgrund einer kürzlich ausgegrabenen Grabinschrift errechnet Zuchtriegel für den Großraum Pompeji eine Bevölkerung von ca. 8000 freien Männern, dazu kamen Frauen, Kinder, Sklaven, es könnten insgesamt 45 000 Menschen gewesen sein. Die Hälfte lebte womöglich innerhalb der Stadtmauern in 1400 Wohnungen: „Pompeji war eine mit Menschen vollgestopfte Stadt.“ Das sind Zuchtriegels Schätzungen. Übrigens ist es hier sehr ergiebig, die entsprechende Passage über den spektakulären Fund der längsten Inschrift Pompejis bei Massimo Osanna nachzulesen (M.O. 2019, 217-248), die über vier Meter reicht und sich auf sieben Zeilen erstreckt (M.O. 223ff.), offensichtlich ein ganz besonderes Grabmal. Der Text berichtet von den Taten des Grabherren und den wichtigsten Momenten seines Lebens, vom Anlegen der Toga virilis, die seine Volljährigkeit und den Eintritt in die Bürgergemeinschaft symbolisierte, über seine Hochzeit bis hin zu Handlungen, die seine Großzügigkeit unterstreichen sollten. So veranstaltete er ein öffentliches Bankett (mit 456 Triklinien zu je 15 Speisenden, also für 6840 eingeladene Vollbürger der Stadt; vgl. S. 226) – darauf rekurriert Gabriel Zuchtriegel bei seinen Berechnungen der Einwohnerzahl des antiken Pompeji.
Was den jüngsten Fund des Sklavenzimmers (im November 2022) der Civita Giuliana (144ff.) so bedeutend macht - erst vor ein paar Tagen (Mitte August 2023) ging diese Nachricht durch die deutschen Medien – ist der „Seltenheitswert des Alltäglichen“: Ein Zwischentitel, der, so Zuchtriegel, auch Programm ist und als Überschrift für meinen persönlichen Zugang zur Archäologie und zu Pompeji stehen könnte. „Dieser eine Meter Ascheboden in dem nur 16 Quadratmeter großen Raum entpuppte sich als die schönste Entdeckung, an der ich in meinem Archöologendasein bislang mitwirken konnte. Und ich sage das als jemand, der das Glück hatte, dabei zu sein, als zu den griechischen Tempeln von Paestum ein weiterer dazukam – ein kleiner zwar nur, aber einer, von dem vom Fundament bis zum Giebel alles erhalten war“ (144f.).
Eindringlich schildert Zuchtriegel im letzten Kapitel („Was am Ende zählt“, 189ff.) den Widerstand, den seine Berufung zum Direktor von Pompeji in Italien zunächst auslöste (190ff.) – und mit welchen Strategien (194f.) er diese „Schlammschlacht“ bewältigen konnte. Ein besonderes Anliegen sei es ihm, die Ausgrabungsstätte in der Region zu verankern und auch jungen Menschen aus bildungsfernen Schichten zu erschließen: „Theater ist die Lösung“ (197). Er beschreibt ein Theaterprojekt, bei dem Schüler aus der Umgegend im alten Theater „Die Vögel“ des Aristophanes aufführten.
Das Buch von Gabriel Zuchtriegel überzeugt mit ungewöhnlichen Perspektiven auf die Katastrophe am Vesuv und ihre Folgen. Es liefert einen frischen Blick auf die Archäologie, ihre alten und neuen Aufgaben und Ziele. Der Autor verknüpft das antike Leben, wie man es in Pompeji rekonstruieren kann, mit seinen eigenen Erfahrungen und Fragen der Gegenwart. Wenn somit der Direktor der Welterbestätte Pompeji zu Entdeckungen in seine Stadt einlädt, wird daraus (anders akzentuiert als bei seinem Maestro Massimo Osanna) eine sehr persönliche Tour durch diese Ausgrabungsstätte – und, trotz mancher Kritik, eine überzeugende Liebeserklärung an die Archäologie.