In der universitären Lehrerbildung wird stets darüber geklagt, dass Theorie und Praxis in einem ungünstigen Verhältnis stünden, das Studium im ungünstigsten Falle sogar praxisfremd sei, ungeachtet aller bereits vorhandenen Praxisphasen. Neben Bemühungen, diesem Desiderat durch die Einführung eines (im Studienverlauf recht spät angesiedelten und organisatorisch aufwendigen) Praxissemesters beizukommen, gibt es jedoch erfolgversprechende Versuche, Studierenden früher und weniger aufwändig systematisch Praxiskontakte zu ermöglichen. Hierzu zählen die sog. Lehr-Lern-Labore, die seit über 10 Jahren zumeist unter dem Label Schülerlabor gegründet wurden, um Schülern Kontakt zu naturwissenschaftlichen Themen zur ermöglichen und für ein entsprechendes Studium zu begeistern. Hierzu zählen in Berlin z. B. das UniLab Adlershof der HU und das PhysLab der FU, die als außerschulische Lernorte in der Berliner Bildungslandschaft einen festen Platz haben.
Was zunächst als Maßnahme zur MINT-Werbung gedacht war, wurde bald für die Lehrerbildung nutzbar gemacht – das Schülerlabor wurde somit zum Lehr-Lern-Labor: Die Schüler werden von Lehramtstudierenden betreut, die innerhalb eines überschaubaren Projekts nur einen bestimmten Aspekt, gewissermaßen eine ‚didaktische Miniatur‘, planen und dann mit einer ebenso überschaubaren Zahl von Schülern durchführen. Auf diese Weise wird den Studierenden die Möglichkeit eröffnet, Praxiserfahrungen zu sammeln, die jedoch nicht die Planung einer kompletten Unterrichtsstunde erfordern und als Eintagesprojekte deutlich niederschwelliger angelegt sind. Dieses Prinzip wird im UniLab der HU bei der Ausbildung angehender Physiklehrkräfte seit mehreren Jahren sehr erfolgreich praktiziert und auch in ihren Wirkungen für das Lehramtsstudium erforscht. Die positiven Effekte für das Lehramtsstudium sind nämlich nicht zu verachten: Es kommt nicht nur zu einer verbesserten Verzahnung von Theorie und Praxis, sondern durch die Konzentration auf didaktische Miniaturen können Studierende bereits im Bachelor-Studium die Möglichkeit erhalten, das bereits erworbene fundamentale Professionswissen anzuwenden und zu erproben, wenn es z.B. um die Erarbeitung und Gestaltung von Unterrichtsmaterialien geht.
Was ist nun aber mit den geisteswissenschaftlichen Fächern? Dank großzügiger privater Spenden von Mitgliedern der Stiftung Humboldt-Universität wurde im letzten Jahr mit dem HUmanities Lab ein geisteswissenschaftliches Schülerlabor gegründet, dass nach dem Vorbild der Naturwissenschaften Schülern der Klassen 7 bis 13 die Möglichkeit geben soll, gemeinsam mit Studierenden und Wissenschaftlern wichtige Fragen der Geistes- und Sozialwissenschaften kennenzulernen, und das gleichzeitig ein wertvolles Element zur Verbesserung der Lehramtsausbildung darstellen soll. An diesem Projekt sind neben der Didaktik der Alten Sprachen vier weitere Fachdidaktiken beteiligt: Die Didaktik der evangelischen Theologie hat zwei Projekte entwickelt, und zwar zu den Themen „Nach uns die Sintflut - Dem Mythos auf der Spur!“ und "Wo ist mir heilig? - Schülerlabor zu heiligen Orten in Berlin-Mitte“, die bereits an Schulen erprobt wurden; die Deutsch-Didaktik beschäftigt sich mit dem Thema „Literarische Unterrichtsgespräche - Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens: Coming-of-age-Literatur“; schließlich wird in den Bereichen Physik und Geschichte an einem Gemeinschaftsprojekt zu „Faradays Kerze“ gearbeitet.
Das sechsköpfige Team der altsprachlichen Didaktik führte ihren Pilotversuch am 19. Dezember 2014 im Humboldt-Gymnasium Berlin-Tegel mit einer 7. Klasse im Rahmen des Lateinunterrichts durch. Diesem Pilotversuch war eine intensive Planungsphase vorgeschaltet: In einem ersten Treffen mit zwei Lehrkräften des Humboldt-Gymnasiums wurden bereits im Oktober Ideen zur Konzeption, zum zeitlichen Umfang und zur Terminierung gesammelt. Man einigte sich schnell auf das Thema „Spielen wie die alten Römer“, für das im normalen Schulalltag zu wenig Zeit bleibt, obwohl es gerade für jüngere Schüler thematisch überaus reizvoll ist und großen Raum zur Eigenaktivität bietet. Zudem kann das Thema modular so aufbereitet werden, dass kleine Schülergruppen in einem zeitlich überschaubaren Rahmen – eben in einer didaktischen Miniatur – von Studierenden betreut werden können. Der zeitliche Umfang wurde auf drei Zeitstunden festgelegt, mithin auf einen Rahmen, der recht gut in den Stundenplan der Klasse integriert werden konnte.
Die für das Projekt zur Verfügung stehende Studentische Hilfskraft nahm eine zentrale Position bei der Entwicklung des Pilotversuchs ein: Sie war nicht nur für organisatorische Aufgaben (z. B. Bestellung bzw. Erarbeitung von Materialien, Terminabstimmung usw.) verantwortlich, sondern verdichtete die mit den Schulvertretern identifizierten Ideen zu einem Gesamtkonzept, das dann mit vier weiteren Latein-Studierenden zur Durchführungsreife weiterentwickelt wurde. Die dabei erzielten Ergebnisse wurden mit dem Projektleiter mehrfach intensiv diskutiert und verfeinert. Im Kern handelt es sich um ein Lernen an Stationen, die nacheinander durchlaufen werden müssen. Zusätzlich wurde der Motivationsförderung besondere Aufmerksamkeit gewidmet: Um sich noch besser in ihre spielenden römischen Altersgenossen hineinversetzen zu können, sollten die Schüler in römischer Kleidung agieren, d.h. in Toga, Tunika und Stola. Diese Kleidungsstücke wurden dankenswerterweise vom Canisius-Kolleg zur Verfügung gestellt. Mittlerweile wurde aus Projektmitteln ein kompletter Satz römischer Kleidung für 35 Schüler angeschafft.
Nach der Begrüßung durch den Klassenlehrer eröffnete der Projektleiter die gemeinsame Arbeit mit einer Einführung zur römischen Kleidung, ihren verschiedenen Ausprägungsformen und Funktionen. Sodann wurden die Kinder eingekleidet, wobei insbesondere das Anlegen einer Toga geübt werden musste. Bereits hier zeigte sich die affektive Wirkung der römischen Kleidung: Die Schülerinnen und Schüler waren mit großer Begeisterung bei der Sache und bemerkten u.a., dass sie nun endlich verstanden hätten, dass ein römischer Senator durch seine Bekleidung mit einer Toga geradezu gezwungen war, ehrwürdig zu schreiten. Daran schloss sich ein gemeinsames Brainstorming zu der für das Thema grundlegenden Fragestellung „Warum spielen wir eigentlich?“ an. Hierbei wurden wichtige Überlegungen geäußert: Neben Gesichtspunkten wie der Möglichkeit zu Entspannung, Spaß und zweckfreiem Wettbewerb wurden auch Aspekte wie die Schaffung von angenehmen Lernmöglichkeiten abseits des normalen Alltags genannt. Zusätzlich entwickelten die Schüler erste Vorstellungen, mit welchen Gegenständen bzw. Materialien in der Antike gespielt wurde: Schnell wurden Dinge aus Naturprodukten genannt (z. B. Holz, Steine), da diese jederzeit vorhanden waren und keines großen Herstellungsaufwandes bedurften.
Danach wurden die Schüler in Gruppen eingeteilt, um die verschiedenen Stationen zu durchlaufen, welche unter dem Begriff Römisches Casino standen. Mit Hilfe eines Laufzettels sollten sie dann abhaken, an welchen Stationen sie bereits waren. Auf den Laufzetteln war zusätzlich lateinisches Vokabular verzeichnet, damit während der Spiele die lateinische Sprache aktiv verwendet werden konnte. Hierzu gehörten dann Ausdrücke wie:
Ehem, optime! Großartig! Toll!
Iactura non valida! Der Wurf gilt nicht!
Me piget! So ein Mist!
Fraudavisti! Du hast geschummelt!
Da für das erfolgreiche Spielen die Kenntnis der römischen Zahlen ebenfalls wichtig war, wurden auf dem Laufzettel die römischen Zahlen von 1-12 verzeichnet. Aus der Fülle römischer Spiele (hierzu weitere vielfältige Anregungen im AU 1/2015 „Spiele in der Antike“) lernten die Schüler zwei Arten von Spielen kennen, nämlich das Brettspiel (ludus), sowie Würfel- und Glücksspiel (alea). An den Stationen wurden zusätzlich zu den lateinischen Texten auch laminierte Spielanleitungen, sachkundliche Hintergrundinformationen zu den jeweiligen Spielen sowie originalgetreu gestaltete Nachbildungen der Spiele (Mühlespiele, Astragale) zur Verfügung gestellt, die aus Projektmitteln angeschafft worden waren.
Bei dieser Station lag der Fokus auf der Übersetzung eines auf den Leistungsstand der Schüler angepassten Originaltextes des römischen Autors Sueton. In diesem berichtet Sueton davon, dass der Kaiser Augustus ein großer Freund dieses Spiels gewesen sei, das als ein Vorläufer des Würfelspiels gelten darf. Neben der gemeinsamen Übersetzung wurden zum Verständnis der Spielregeln insbesondere die römischen Zahlen und deren Addition thematisiert und die historische Herkunft dieses Spiels besprochen. Bei Astragalen handelt es sich um Knochen aus dem Sprunggelenk der Hinterbeine von Paarhufern, die bei den Tieropfern anfielen. Aufgrund ihrer charakteristischen Seiten und ihrer beinahe kubischen Form wurde gerne mit ihnen gespielt. Bei der hier vorgestellten Variante des Kaisers Augustus geht es darum, durch eine bestimmte Wurf-Kombination, den sog. Venus-Wurf, den jeweiligen Spieleinsatz zu gewinnen.
Hier galt es, die Spielregeln der antiken Rundmühle zu übersetzen und danach zu spielen. Grundlage bildeten die deutschen Spielregeln, die in der schönen Sammlung „Römische Spiele – so spielten die alten Römer“ (Köln 2009) aus dem Archäologischen Park Xanten enthalten sind. Bei der Rundmühle handelt es sich um eine einfache Variante des auch uns bekannten Mühlespiels. Jeder Spieler hat drei Steine einer Farbe, zunächst wird abwechselnd gesetzt, dann gezogen. Es gibt nur eine Form der Mühle, bei der die Mitte des Spielfeldes besetzt sein muss. Dieses Spiel verlangt keine aufwändigen Materialien: das Spielfeld ist leicht selbst zu entwerfen, also z. B. auf Papier oder auf der Innenseite eines Ledersäckchens; als Spielsteine kann man auf Nüsse, Geldstücke oder Steine zurückgreifen. Schließlich sollen die Schüler das antike und moderne Spiel miteinander vergleichen.
Bei dieser Station wurde darauf verzichtet, mit den Schülern einen lateinischen Text ins Deutsche zu übersetzen, da der vorhandene lateinische Originaltext (Nux Elegia des Pseudo-Ovid) wegen seines hohen Schwierigkeitsgrades nicht angemessen adaptiert werden konnte. Stattdessen sollten hier nun die Realienkunde und der reine Spaß am Spiel im Vordergrund stehen. Mit Hilfe von Schaubildern, auf denen antike Sarkophage abgebildet waren, die das Nüssespiel zeigen, sollten die SuS nun die Regeln verschiedener Spiele ableiten und danach selbst ausprobieren.
Insgesamt wurden drei Nüssespiele durchgeführt:
Der Pilotversuch fand bei allen Beteiligten eine sehr gute Resonanz: Die Schüler waren über insgesamt drei Zeitstunden konzentriert bei der Sache und probierten die verschiedenen Spiele mit großem Spaß und Eifer aus. In der abschließenden Feedback-Runde wurde große Zufriedenheit über die gewählten Spiele geäußert und mehrfach darauf hingewiesen, dass man nicht erwartet habe, dass man mit einfachen Mitteln ganz ohne Elektronik so spannende Spiele durchführen könne. Überdies habe man eine Menge über die römischen Zahlen gelernt. In der Durchführung zeigte sich, dass die erarbeiteten Materialien weitgehend dem Leistungsniveau der Schüler entsprachen, wenngleich der Text zu den Astragalen doch noch weiter vereinfacht werden müsste. Bei Problemen konnten die Studierenden, die jeweils für eine Station zuständig waren, alle notwendigen sprachlichen und inhaltlichen Hilfestellungen leisten. Es entstand so die gewünschte direkte Lehr-Lern-Situation zwischen Studierenden und Schülern. Die als didaktische Miniaturen geplanten Stationen erwiesen sich als zielführend und für beide Seiten angemessen. Zeitlich und strukturell ging die Planung gut auf. Die Studierenden äußerten daher den Wunsch, solche Projekte vermehrt in das Lehramtsstudium zu integrieren. Die überschaubare ‚Laborsituation‘ erfüllte offensichtlich ihren Zweck.
Im laufenden Schuljahr wird der Pilotversuch bis zu den Sommerferien an anderen Partnerschulen wiederholt werden. Interessierte Schulen können sich gerne an den Autor wenden. Zusätzlich soll ein Pilotversuch für den Lateinunterricht der Sekundarstufe II entwickelt werden, wobei der Schwerpunkt auf philosophische Fragestellungen gelegt werden soll.
Fotos: Svenja Bertram (Berlin)